Aufgeladen Was kann literarische Prosa ausrichten, wenn sie ihren Leser*innen nicht unter die Haut geht?. . .
Wieder und wieder, und immer wie zum ersten Mal Mehr als ein Jahrzehnt ist vergangen, seit der Mann, der sich selbst als »eine Art Biologe« bezeichnete, starb. Fremde wie wir vermögen nicht festzustellen, ob sein Geist das Atelier heimsucht. Dennoch ist alles von Ruhe, Klarheit, Konzentration durchweht. Mit einem Wort: Geistesgegenwart. . .
Alaska Alles, was ich brauchte, war dieser Wunsch, sich von allem und jedem zu lösen, koste es, was es wolle. Ich verband ihn mit der einunddreißigsten Linie des Kompasses, will sagen: mit Nord-Nordwest, sowie mit einem Namen: Alaska. . .
Lieber taub Kürzlich wollte man von mir wissen, ob ich eine ansprechende Utopie in der Literatur nennen könne. Die Frage machte mich verlegen. Die Wahrheit lautet ja, jede einzelne Faser im Körper will fliehen. . .
Fuck, marry, kill Wird es nicht Zeit, fiktive Figuren umzubringen, die in erster Linie existieren, damit das Erzähler-Ich zu Einsichten über sich selbst gelangt und sich als das Beste feiert, das seit der Erfindung der Pomade passiert ist?. . .
Vier Fragen über das mit dem Geld Man muss nicht Marx gelesen haben, um zu wissen: ohne Knete nichts zu futtern. . .
Starke Szenen Freud sprach von »Urszenen« im Leben der Menschen, schwer zu verstehenden Ereignissen, die definieren, wie sie handeln und sich selbst sehen. . .
Menetekel Ich hielt Ausschau nach einer passenden Stelle, an der es zu dem Unfall kommen konnte, der sich ereignen musste – und fand sie in einer Unterführung etwa eine Minute Fahrstrecke vom Grenzübergang entfernt. . .
Abschluss Endlich kann der neue Roman abgegeben werden, nach 400 Arbeitstagen verteilt auf zwei Jahre minus ein, zwei Wochen. . .
Ein Gericht am besten kalt serviert Ein qualvolles Gefühl, seinen eigenen Text von einer Stimme im Radio gelesen zu hören, die im Gesagten nicht verwurzelt ist. . .
Tischtheorie (zu Beginn der Pandemie) Dort, wo mein Schreibtisch steht, sind die Vorhänge zugezogen. Der Stoff ist aber grobmaschig genug, um die Fassaden auf der anderen Straßenseite durch das Fenster blicken zu lassen. Die siennaroten und stockholmsgelben Häuser interessieren mich offen gestanden wenig. Wenn ich den Blick über die Dächer richte, schimmert jedoch der Himmel. . .
Halb Marder, halb Schwalbe Die Sehnsucht ist ein seltsames Tier. In meiner Vorstellung ist sie halb Marder, halb Schwalbe. . .
Zuerst und zuletzt Anfang der neunziger Jahre war ich in Baltimore bei einem Literaturprofessor zum Essen eingeladen. Es ging das Gerücht, er sei der größte private Büchersammler an der Ostküste. Das Geld kam von seiner Frau, deren Familie Tabakfarmen im Süden besessen hatte. Das Paar wohnte in einem Stadtpalais, die Salons mit Regalen vom Boden bis zur Decke wollten kein Ende nehmen. . .
Atlas Shrugged Heute verließ das für den Druck fertiggestellte, ja, freigegebene neue Buch den Schreibtisch. Diesmal habe ich keine alten Ausdrucke zu entsorgen, keine Bücher in Regale zurückzustellen, nicht einmal einen Blaumann zu waschen oder Kondolenzbriefe an mich selbst zu schicken. Nur die Leere auf klügste Weise zu verwalten. . .
1201 Schriftzeichen zu Europa Vor fünfzig Jahren machte die Kulturanthropologin Mary Douglas eine Beobachtung, die klassisch wurde. In fast allen Gesellschaften scheint Schmutz Materie zu sein, die sich am falschen Ort befindet. . .
»War es das wert?« Eine alte Freundin ist schwerkrank. Ein Vierteljahrhundert haben wir uns trotz der Geografie nahegestanden. Haben beide Scheidungen überstanden, uns bei Gegenwind unterstützt, gefeiert, wenn es Gründe dazu gab – und verbrachten Gott weiß wie viele hundert Stunden am Telefon diskutierend, oft lachend, immer engagiert. Zu den schönsten Seiten der Freundschaft gehörte die Diskretion. . .
Valentinstag Wieder ist es so weit: Ein neues Manuskript soll im Verlag abgegeben werden. Diesmal rumort keine Mischung aus Jubel und Resignation, Chuzpe und Verwirrung im Brustkorb. Als die Datei gesendet ist, wird die Sachlage ruhig festgehalten – mit einem Schnaps allein kurz nach zwölf Uhr mittags. . .