Zuerst und zuletzt

27.xii.19

Anfang der neunziger Jahre war ich in Baltimore bei einem Literaturprofessor zum Essen eingeladen. Es ging das Gerücht, er sei der größte private Büchersammler an der Ostküste. Das Geld kam von seiner Frau, deren Familie Tabakfarmen im Süden besessen hatte. Das Paar wohnte in einem Stadtpalais, die Salons mit Regalen vom Boden bis zur Decke wollten kein Ende nehmen. 

Während des Essens verriet die Gastgeberin mir ein Geheimnis. Viele Romane des zwanzigsten Jahrhunderts habe sie gar nicht gelesen. Sie habe entdeckt, dass es erstaunlich oft reiche, das erste und das letzte Wort zu kombinieren. Zusammen formulierten sie den Text in einem Konzentrat. Das Prinzip kehrte den Suppenwürfel um: Eine Suppe wurde zu ihrer Essenz eingekocht. Die Gastgeberin erwähnte einige Titel, darunter Ulysses. War Stately … yes nicht die perfekte Zusammenfassung von 730 Seiten joycescher Prosa?

Als ich heimkam, beschloss ich, ihre Theorie zu testen. Nach einigem Stöbern in den Regalen entschied ich mich für Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. Ich schlug das erste und das letzte Wort auf – und konstatierte Rilkes einfache Regel: So … nicht.Sein Roman mag schildern, wie ein nervöser Jüngling sein Leben nicht führen sollte. Trotz Anfechtungen schenkt das Bewusstsein von Form gleichwohl Stabilität. Oder gibt es größere Geborgenheit in Büchern als jene, die von den äußersten Worten gesichert wird?