Lieber taub

11.iv.23

Kürzlich wollte man von mir wissen, ob ich eine ansprechende Utopie in der Literatur nennen könne. Die Frage machte mich verlegen. Die Wahrheit lautet ja, dass »Die Insel der Glückseligen«, von der Atterbom vor 200+ Jahren sprach, bei mir Klaustrophobie auslöst; jede einzelne Faser im Körper will fliehen. Solche Reiche sind zudem heikel, weil sie keinen Bedarf an Elektrizität haben. Null Spannung im Netz; alles glänzt und strahlt ohnehin. Aber nur Spannung löst den Wunsch nach Veränderung aus, durch den (und, darf man hoffen, von dem) die Literatur lebt. Also bat ich, schummeln zu dürfen. Utopien bleiben wohl am besten Nicht-Orte, erklärte ich, was natürlich die ursprüngliche Bedeutung des Wortes ist. Am besten machen sie sich nicht hier, sondern dort, nicht jetzt, sondern gleich oder bald oder irgendwann – will sagen: in der Zukunft.

Zuweilen gibt es jedoch Mischformen, Utopien, die zugleich hier und woanders sind, deutlich sichtbar, aber dennoch ungreifbar. Das Buch, an das ich dachte, war eine solche Hybridform. In Republik der Taubheit vermischt Ilya Kaminsky Poesie und Prosa in einer Weise, die stark szenisch ist. In der fiktiven Stadt Vasenka in einem namenlosen Land irgendwo in Osteuropa töten die Besatzungstruppen den kleinen Petja. Aus Solidarität beschließt die Bevölkerung zu werden wie der Vierjährige: taub. Von einem Tag auf den anderen hört keiner mehr die Befehle der Soldaten. Was die Männer natürlich nicht davon abhält, Gräueltaten zu begehen. Doch der stille Widerstand ist stärker als das Metall in Gewehren. Kaminskys Leute beherrschen die Kunst nicht zuzuhören. Und verstehen außerdem zu lachen und zu weinen, was in Utopien nötig ist. Nur das eine oder nur das andere wäre unerträglich. Ich gestand, dass ich Anhänger einer solchen Parallelgesellschaft bin. Bei Kaminsky ist sie untrennbar mit der unterdrückten Stadt verbunden, aber dennoch uneinnehmbar. Hier und gleichwohl woanders. »Leben heißt lieben«, schreibt er. »Aber Liebe reicht nicht aus – / Das Herz braucht auch Torheit!« Werden so nicht Utopien lebendig gehalten? Von Trotz und durch wilde Brustmuskeln?

Sollte ich selbst eine Utopie schreiben, schätze ich, es würde eine Schilderung sein, die darauf hinausliefe zu zeigen, dass die Endlichkeit Ewigkeitsgemeinschaften immer vorzuziehen ist. In meinen Augen ist sowohl die klassenlose Gesellschaft als auch das Reich Gottes eine Diktatur. Aber gibt es Utopien, die nicht zeitlos sind, sondern in denen jeder Einzelne früher oder später vom Tod ereilt wird? Woher soll ich das wissen? Auch wenn ich nur zur Hälfte aus südländischer DNA bestehe, bin ich doch zu sehr Grieche, um mich mit einem Gott zu begnügen. Es spielt keine Rolle, ob das Proletariat oder der Herr für die Kraft und die Herrlichkeit steht, ich bevorzuge Götter im Plural. Sonst werde ich lieber taub.