»War es das wert?«

18.vi.18

Eine alte Freundin ist schwerkrank. Ein Vierteljahrhundert haben wir uns trotz der Geografie nahegestanden. Haben beide Scheidungen überstanden, uns bei Gegenwind unterstützt, gefeiert, wenn es Gründe dazu gab – und verbrachten Gott weiß wie viele hundert Stunden am Telefon diskutierend, oft lachend, immer engagiert. Zu den schönsten Seiten der Freundschaft gehörte die Diskretion. Grenzen wurden respektiert. Dennoch oder vielleicht gerade deshalb waren die freundlichen Sticheleien selten fern.

Dann geschah etwas, von dem ich bis heute nicht weiß, was ich darüber denken soll. Ich erhielt einen ungewöhnlich deprimierenden Bescheid, gleichzeitig wurde meine Freundin außerhalb des Bekanntenkreises gefeiert. Eine gewisse Selbstbezogenheit wurde unvermeidbar. Sie deutete ihr Agieren auf eine Weise, ich auf eine andere. Mit der Zeit gab es immer weniger Raum, um über das zu sprechen, was in unseren Leben (ach was, für unsere Seelen) von Bedeutung war. Die Freundin betrachtete meine Art, mich zurückzuziehen, vermutlich als Ablehnung, vielleicht Neid. Während ich mich rat- und schließlich machtlos gegenüber dem fühlte, was mir fehlende Sorge, Neugier, Engagement schien. Immer unangenehmer war mir ihre Selbstbezogenheit, vielleicht sogar Selbstüberhöhung. (In einem ungerecht schwarzen Moment fragte ich mich sogar: »So sieht sie also aus, la deformation professionelle?«) Die Folge war so beklemmend wie konventionell: Der Kontakt dünnte aus. In den letzten Jahren haben wir uns ein paar Mal im Jahr angerufen, meistens nur als Interesse verkleidete Höflichkeiten ausgetauscht. Trotz der unzähligen Anzeichen für das Gegenteil, war die Freundschaft offenbar nicht stark genug, um Ambivalenzen zu bewältigen. 

Das erstaunt mich noch immer.

Jetzt ist meine Freundin so non compos mentis, dass es zu spät ist, um sich auszusprechen. Als ich sie vor einer Weile in ihrem Heimatland besuchte, trafen wir uns zum, wie ich fürchte, letzten Mal. Kurz bevor wir uns trennten, fragte sie: »War es das wert?« Seither frage ich mich, wie die Aussage verstanden werden soll. War sie an mich gerichtet oder sprach die von Krankheit zerstörte Person, die sie geworden war, zu sich selbst? Enthielt die Aussage einen Vorwurf? War sie aufrichtig erstaunt? Bezog sich »das« auf unsere verlorene Vertraulichkeit? Oder das Leben im Allgemeinen? Meine Scheu? Hatte die Frage überhaupt etwas mit uns zu tun?Ich möchte letzteres annehmen, weil etwas anderes zu traurig wäre, um es in Erwägung zu ziehen. Gleichwohl merke ich, wie schwer es mir fällt, die verschiedenen Energien auseinanderzuhalten, die ich in der Frage wahrnehme – als handelte es sich um ein Koan! So lebt das Unfertige in unserer Freundschaft weiter, unbeantwortet, jenseits eines Punkts, an dem ich noch nicht gelernt habe zu akzeptieren, dass sie aufgehört haben könnte.