Nach einem Ferngespräch (mit W.), in dem es mir nicht gelungen ist, meinen Standpunkt zu erklären

31.xii.15/1.i.16

Wer sich in der Gegenwart umsieht, entdeckt schnell, dass Romane, die auf fremden Existenzen basieren, schmarotzen. Zwar gibt es Ausnahmen, aber die meisten, die mit biografischem Stoff arbeiten, springen unbekümmert auf ein Vehikel der Marke historisches Schicksal auf. Einerseits ersparen sie sich damit die Mühe, fiktive Existenzen zu erfinden, andererseits adeln die Leistungen der fremden Person das eigene Vorhaben. Bestenfalls sind diese Bücher von den dokufiktionalen Romanen der siebziger Jahre inspiriert. Doch die haben trotz allem vierzig Jahre auf dem Buckel, und so bedeutsam waren ihre formalen Fortschritte nun auch nicht.

Wenn ich recht sehe, tendieren sowohl der biografische als auch der historische Roman – die Grenze ist fließend – folglich zur Gefallsucht. Menschliche Schicksale verkaufen sich gut. Warum soll man sich Gedanken über die Darstellung machen, wenn so wenige Leser diese Mühe zu schätzen wissen? Besser, neues Blut in alte Schläuche zu gießen. So verkommt die Literatur zu einer hochkulturellen Version von Leute heute. Oder um es mit Siegfried Kracauer auf den Punkt zu bringen: Es sind Romane, die, als »Grenzerfahrung« verstanden, diesseits der Grenze bleiben.

Der beste Grund dafür, biografisches oder historisches Material aufzugreifen, sollte im Gegenteil der Glaube an die Literatur als selbständige Erkenntnisform sein. Und damit an eine Grenzerfahrung, bei der es nicht ausreicht, sie zu beschreiben oder anzusprechen, sondern die ihre eigene, unersetzliche Form finden muss. Der konventionelle biografische Roman bevorzugt dagegen eine Haltung dem Leben gegenüber, die an das erinnert, was die Franzosen on dit nennen. Dieses »es heißt« ist eine Sprache aus Klischees und schematischem Denken bestehend – will sagen: verstaubten Erzählmitteln. Indem sie das Leben ästhetisiert, macht eine solche Literatur das Gegenteil von dem, was sie sich einbildet: Sie anästhesiert oder betäubt das Leben. Die Texte sind nicht nur »neubürgerlich«, wie Kracauer (oder auch Leo Löwenthal) zu sagen pflegte, sondern konsumistisch. Das Leben wird in einen Konsumartikel verwandelt, ein Massenfabrikat in passender Ausführung für unterschiedliche Einkommensklassen. Schlimmstenfalls bekommt der Leser eine Seele in einer Plastiktüte.

Zu dieser Paketierung gehört die unreflektierte Vorstellung, dass es sich im Fall der literarischen Biografie um das handelt, was in der Antike poeisis genannt wurde. Das Leben wird als etwas betrachtet, das »gemacht« oder »dargestellt« werden kann. So verkommt es zu einer Frage der Produktion. Aber kein Leben ist ein Produkt; das ist etwas, wozu der biografische Roman es erst macht. Schärfer formuliert: Der Biograf verwandelt nicht nur das Leben zu etwas Gemachtem, sondern verleugnet damit (bewusst oder unbewusst) das Unmachbare an ihm. Der Übergriff wurzelt in der Vorstellung, es sei möglich, von einem »geglückten« oder »missglückten« Leben auszugehen, wenn jede Auffassung von ›Geglücktheit‹ in einem Leben irreführend ist. Sollte das nicht genug sein, um größeren Ernst anzustreben? Jedes Leben ist das, was bisher nicht auf genau die Weise existiert hat.

Nur weil die traditionelle Biografie sich mit der Warenlogik arrangiert, folgert allerdings nicht, dass das Biografische eine no go area bildet. Die Frage lautet doch, wie der Schriftsteller sich in eine Lage versetzt, in der die »Verwirrung«, so charakteristisch für das Leben, »selbst epische Form annehmen kann«, wie Kracauer schreibt. Er spricht vom Verlust der Orientierung in einer komplexen, möglicherweise überkomplexen Welt (was an sich eine sprachliche Grenzerfahrung wäre). Hier vier deutsche Spielarten: Alexander Kluges dokufiktionale Anekdoten, Herta Müllers beschädigte Märchen, insbesondere ihr Buch mit und über ihren Freund Oskar Pastior, W.G. Sebalds essayistische Porträts entwurzelter Existenzen und das »Plankton«, das durch Walter Kempowskis monomane Werke über deutsches Alltagsleben zwischen den Kriegen wirbelt. Sie alle versuchen durch mehr oder weniger radikale Montageformen – will sagen: durch Brüche und Vielfalt, und somit durch hybridisiertes Erzählen – Kracauers »Verwirrung« gerecht zu werden.

Über diesen Wirrwarr, das in der nicht-digitalen Vorzeit noch die Bezeichnung »die neue Unübersichtlichkeit« trug, muss man nicht auf verwirrende Weise erzählen. Texte, die sich damit begnügen, Aspekte des Stoffs in formaler Hinsicht widerzuspiegeln, sind in einem ziemlich banalen mimetischen Modell gefangen. Bücher etwa über die Farbe Blau müssen nicht selbst blau sein. Aber ohne die eigene Darstellung zu reflektieren, und sei es auch nur ein wenig, dürfte es nicht gehen. Es liegt auf der Hand, dass das für die meisten, die biografische Romane schreiben, keine amüsante Aufgabe ist – ja nicht einmal für jene, die im Bewusstsein der Schwierigkeiten dennoch die experimentellen Unsitten einer betagten Avantgarde vermeiden wollen.

Nehmen wir Felicitas Hoppes Roman mit dem Titel Hoppe. Möglicherweise gehört er nicht zu ihren aller gelungensten, aber das Buch versucht, ein sowohl fantastisches als auch kontrafaktisches Leben zu schildern, was bedeutet, dass es die imaginäre Existenz als ebenso wirklich behandelt wie die reale. Oder nehmen wir Orhan Pamuks Umsetzung fiktiver Existenzen in einem wirklichen Museum. Zwar wird die vornehmste Aufgabe des Besuchers, Aussagen im Roman mit den Objekten in den Vitrinen zu vergleichen, aber diese Reste von Leben (Zigarettenkippen, Bierdeckel, Brillen) erweisen sich zumindest als seelenarchäologische Fakten. 

Beide Bücher haben ihre Vorzüge, in beiden fehlt mir allerdings zugleich etwas. Vielleicht hat es mit dem zu tun, was Kracauer als Entfremdung betrachtet hätte, ein nicht unwichtiger Aspekt seiner »Grenzerfahrung«. In Hoppe werden die einfallsreichen Digressionen für meinen Geschmack mit der Zeit etwas zu dominant, was zur Folge hat, dass sie willkürlich erscheinen. Im Museum der Unschuld sind die Dinge oder Handlungen der Protagonisten dagegen so fest an die Besessenheit des Erzählers gebunden, dass sie zu Fetischen verkommen, uninteressant für alle außer jemandem, der zufällig den Affekt teilt. Hoppes zu viel findet seine Entsprechung in Pamuks zu wenig. Wo die eine in Abweichungen ausschweift, die schrittweise an Notwendigkeit verlieren, schränkt sich der andere zu einem so 1:1-konstruierten Verfahren ein, dass der Besucher des Museums darauf reduziert wird, Übereinstimmungen abzuhaken.

Gleichwohl ist die Darstellung in beiden Romanen Thema fortwährender Reflexion. Als Kollege bin ich dieser Haltung zugeneigt. So werden nicht nur die Bedingungen für das Biografische erforscht, sondern die Konstruktion in einen Teil der Handlung verwandelt. Was eben eine »Grenzerfahrung« andeutet – von Verletzlichkeit und Erlösung, Fluch und Flucht. Oder um es mit einem dichtenden Spezialisten für Haut- und Geschlechtskrankheiten zu formulieren, der im Berlin der dreißiger Jahre den psychischen Aggregatzustand, den er als »ich« bezeichnete, in der beunruhigenden Formel zusammenfasste: »Ecce Kadaver und ecce Apokalypse«.