Termiten

17.vi.14

Viele Jahre misstraute ich meinen Träume. Es schien mir allzu leicht, sie als Wünsche zu deuten, die vom Über-Ich befreit waren. Sofort nahm die Delegation aus Wien auf der Bettkante platz. Wenn ich aufwachte, genügte es, den Kopf zu schütteln, damit der Wunsch, den Traum auszulegen, verschwand. Und nie überkamen mich später am Tag irgendwelche Erinnerungen – eine nachträgliche Einsicht oder das Gefühl, unerwartet etwas Verborgenes erblickt zu haben. Seit einiger Zeit träume ich jedoch wüst und lustvoll. Wenn ich jetzt erwache, ist es, als hätte mein Gehirn fünfzehn Runden überstanden. Ich fühle mich in einer Weise glücklich ermattet, wie man sich sonst nur fühlt, wenn der Körper angestrengt worden ist. Das Gefühl, der Traum »war es Wert«, ist überwältigend, ohne dass ich die geringste Ahnung hätte, was »das« sein sollte.

Vertraue diesem »das«. Mehr fordert kein Traum.

Das Geheimnis von gutem Sex: Gier und Großzügigkeit machen gemeinsame Sache.

Worte aus dem Traum (über eine geliebte Person, die heute Nacht vor 27 Jahren starb): »Du bist so maßlos, noch immer.«

Es ist ein paar Mal zu oft passiert, um es als Zufall betrachten zu können. Ich rede mit einer anderen Person. Doch statt eine durchdachte Auffassung über etwas, das ich zufällig gemacht habe, in Worte zu fassen, schreibe ich die Betrachtung einem dritten Part zu. Plötzlich macht die Person, mit der ich rede, mit. Solange ich selbst Anspruch auf den Gedanken erhob, musste ich mit Zweifeln, qualvollem Nicken oder unverdorbenem Widerstand rechnen. Nun aber, da ich behaupte, die Ansichten stammten von einem dritten Part, ist der Weg frei, mir zuzustimmen.

Es tut merkwürdig gut zu wissen, dass die eigene Person dem Einverständnis im Wege stehen kann.

Ein Kollege, der bisher vom Gerücht umweht gewesen ist, »schwer« und »seriös« zu sein, oder der mindestens Bücher geschrieben hat, die nur wenige Leser als unterhaltsam betrachten dürften, möchte Erfolg genießen. Neulich erschien der erste Teil von etwas, was angeblich ein epischer Roman mit historischem Thema auf tausenden von Seiten in drei Bänden werden soll. Warum nicht? Der Kollege hat alles Recht der Welt, sich mehr vom Leben zu wünschen als Auflagen in Höhe von 2 000 oder gar 5 000 Exemplaren, von denen ein Drittel verkauft wird, ehe sie das Buch verramschen. Wer möchte nicht von seinem Schreiben leben? Außerdem besagt nichts, dass ein Text verwerflich ist, nur weil der Autor sich darum bemüht, dass der Leser umblättert.

Dennoch ist unschwer zu erkennen, dass der Kollege die Seiten gewechselt hat – vom Glauben an die literarische Prosa als selbständige Erkenntnisform zur Genreliteratur. In Interviews werden kategorische Behauptungen gemacht, des Öfteren gegen diejenigen gerichtet, die Genreliteratur nicht bevorzugen, Behauptungen, die alle nur eins anstreben: seine Wahl zu rechtfertigen. Wenn das nicht als ein Beweis dafür genügt, wie schlechtes Gewissen zur Überzeugung geadelt wird, zeigt es das Bedürfnis, sich auf Kosten anderer zu profilieren. Oder der Überfluss an Adjektiven und historischen Details im Text. Alles muss irgendwie mit von der Partie sein, und die Anzahl an Substantiven, die ohne nähere Bestimmung auskommen, ist gering. So etwas passiert, wenn Spachtelmasse tragende Wände ersetzen soll. Der Rest ist das Übliche: ein angemessen unkonventionelles Sexualleben, zugespitzt mit sogenanntem politischen Stoff. Ein Werk dieser Art steht im selben Verhältnis zur Literatur wie eine Coverband zu ihrer Musik.

Wie drückte es einst James Fenimore Cooper aus? Much book, little know.

Später Nachmittag; ich fühle mich lustlos. Nichts geht, wie es sollte. Vorsätze zerbröseln, ehe ich sie in etwas Handfestes umzuwandeln vermag. Plötzlich kommt mir ein Wort in den Sinn: »Gottespulver«. Was um Himmels Willen soll das heißen? Gottespulver?

Ich lese eine Sammlung von Aphorismen, dabei fällt das Bedürfnis des Schreibenden nach Klarheit auf. Das eine Mal geht es darum, das Durcheinander von Vorurteilen zu entwirren, ein anderes Mal wird versucht, einer Ahnung einen Raum zu verschaffen, damit der Gedankengang auch nach Ende der Lektüre nachhallen kann. Diese Fähigkeit des Autors, Seite für Seite Klarheit zu erzeugen, ist bewundernswert – ebenso bewundernswert wie seine eigene Erklärung, warum er einen französischen Kollegen bewundert, der einst eine Schrift über sich selbst zusammenstellte, in der das Staunen zur Kunstform wurde. Er, der Franzose, habe »eine Literatur außerhalb der Literatur geschaffen«. Einer solchen Begeisterung gibt sich nur jemand hin, der irgendwann die Literatur vor das Leben gesetzt hat.

Hindert das Bedürfnis nach Klarheit einen, Gedichte, einen Roman, ein Drama zu schreiben? Vielleicht. Aber auch hier wird Klarheit verlangt, nur sieht sie anders aus. Wenn ein Stück Literatur innerhalb der Literatur zur Stande kommt, das aber gleichzeitig ihre Grenzen erweitert, stehen wir vor etwas, das nicht durchleuchtet, sondern die Umstände in ihrer erschütternden Undurchdringlichkeit hervortreten lässt. Es ist, als zeigte die Röntgenaufnahme auf einmal ein unbekanntes Organ aus Blei.

Und wenn ich ein Tagebuch führe? Schon wieder, wollte ich gerade erwidern – als ob ich das je getan hätte … Die Notizbücher, die ab und zu über die Jahre hinweg verwendet wurden, haben immer nur als Mülleimer der Seele gedient. Hier endeten die Gedanken, die durch eine Formulierung halbwegs verworfen wurden; hier sind die knappen Telegramme der Synapsen über nichts besonderes, die vielen Berichte von den Pyrrhussiegen am Schreibtisch entsorgt worden. Aber eine sorgfältige Vivisektion der eigenen Beweggründe, der Hoffnungen und Affekte? Oder ein aufmerksames Ausforschen der Gegenwart, der Fluktuationen des Zeitgeistes oder zumindest der Flora und Fauna des allgemeinen Kulturlebens? Nada. Heute würde ich gerne lesen, was ich – zum Beispiel – über den Umgang mit deutschen Literaten während der ersten Jahren dachte. Oder was ich zehn Jahre zuvor über die Selbststilisierung älterer schwedischer Kollegen befand. Aber ebenso würden mich ehemalige Freundschaften interessieren, inklusive der blinden Flecken, die erst im Nachhinein deutlich werden, und all jene Leidenschaften, die spätere Versionen von mir mit Knoblauch und Spiegeln ausgetrieben haben.

Stattdessen fingere ich missmutig an geheimen Vorbehalten herum. Was ist aus meiner Vorbehaltlosigkeit geworden? Wo ist der Jubel, wo sind die Dithyramben? Im Kurzzeitgedächtnis erscheinen die wohlüberlegten Ansichten späterer Jahre so wishy-washy. Ist das der Preis dafür, dass man an den Fortschritt zu glauben vermag, diese entsetzliche Unlesbarkeit?

Wie viel einfacher es doch ist, Argwohn zu schwarzen Perlen zu schleifen, als Freude zu einem Fingerhut zu formen.

Kein unnötiger Zynismus, und nie bloß Galgenhumor. Es geht doch darum, an das tapfere Verzweifeln heranzukommen, auch an die Hitze der Traurigkeit?

Manche Sachen können nur bekanntgegeben werden, wenn man tot ist. Die Literatur ist die einzige Art, diese Regel zu umgehen, ohne dabei zu sündigen.

Heiner Müller bietet kargen Trost, aber vermutlich den einzig verfügbaren in den Zeiten des Bestsellerismus: Erfolg ist nicht gleich Wirken. Sonst würde Goethes Gerede von »Weltliteratur« wie Pfeifen im Walde klingen.

Ab und zu besuche ich jemanden, der mit graphischen Blättern handelt. Diesmal war ich auf der Suche nach Libellen, aber als er mir einen handkolorierten Kupferstich von Termiten zeigte, konnte ich nicht widerstehen. Er ist von »~1820«, wie mit Bleistift auf der Rückseite notiert steht. Unter den Zeichnungen von Insekten in unterschiedlichen Stadien der Entwicklung sieht man, was ein Märchenberg von Arnold Böcklin in braunen, grauen und grünen Nuancen sein könnte. Mit seinen hohen, dünnen Zinnen fühlt man sich an einen Spargelkopf erinnert. Auf der Zeichnung daneben sieht man dieselbe Formation, nun jedoch im Querschnitt. Die Termiten scheinen ihre Zerstörungsarbeit verrichtet zu haben. Der Innenraum ist ausgehöhlt; zwei Drittel bestehen aus weißem Pulver, ein Drittel ist Leere.

Erst als ich das Blatt umdrehe, verstehe ich, was ich sehe. »Das Merkwürdigste von diesen Insecten«, wird auf der Rückseite hervorgehoben, »ist der große und künstliche Bau ihrer Wohnungen. Diese sind oft 10 bis 12 Schuh hohe, aus Ton und Sande aufgeführte Hügel, welche Außen viele emporstehende Spitzen und Zacken haben, inwendig aber hohl, und mit einer Menge von Gängen, Zellen und Wohnungen versehen sind. Diese Hügel sind so fest, daß mehrere Menschen darauf stehen können, ohne sie einzudrücken. Von ferne sehen sie aus wie Negerhütten.«

Mein Traumtext wäre so eine Hütte. Mit einer Schale aus Gängen und Unterschlüpfen, die dennoch das Gewicht von Riesen duldet, und mit einem Inneren, das zu zwei Dritteln mit Gottespulver gefüllt ist – sowie mit einem Drittel Leere, damit der Leser Platz findet.

Literatur – oder der Beweis, wie man Freiheit durch Ordnung erreicht.

Thomas Mann hielt Hermann Hesse unter genauer Beobachtung. An einer Stelle in seinen Tagebüchern notiert er, dass er soeben Das Glasperlenspiel gelesen hat. Sein Urteil? »Beruhigt.« Mehr muss niemand über die Bedeutung der Rivalität für schreibende Wesen wissen.

Alter Buchtitel: In einer Abtreibungsklinik in Betlehem.

Titel, den ich lange als Arbeitstitel verwendete: Sieben Kapitel über Schmerz.

Buch, das ich wünschte, schreiben zu dürfen: Atlas über abgelegene Instinkte.

Noch eins: In der Termitenhütte.

Und ein drittes: Hitze.

Titel einer Biographie: Mein zweiter Selbstmord.

Kurzroman: Der Tag, an dem nichts passierte.

Werk auf ausländisch: Instructions pour un crépuscule.

Kurzgeschichtensammlung, die ich nie zusammenstellen möchte: Liebe und andere Katastrophe.

Auswahl von Aphorismen: Gebrauchsanweisung zum Staunen. (Oder möglicherweise: Die Termiten.)

Pamphlet: Seelen in Plastiktüten.

Traumseminar, gegebenenfalls religiöses Traktat: »Das«.

Gedichtband: Requiem für eine Mücke.