Meine Zunge, die nie vergessen kann

Essay · Das war die Gegenwart. Autoren zu Gast bei Literatur im Schloss V · Hrsg. von Ulrich Rüdenauer · Bad Mergentheim, 2018, S. 65–71


Kein Jammer ohne Verlautbarung, keine Qual ohne Gebärde. Damit unsere Klage wahrgenommen wird – und sie hat keinen anderen Zweck, sie will gehört werden –, muss sie ausgelebt, als Jeremiade oder Litanei formuliert oder durch Tränen, Heulen, Zähneknirschen ausgedrückt werden. Wir klagen immer im Jetzt; unser Unbehagen ist akut. Gleichwohl sind es gerade die herrschenden Umstände, die wir nicht aushalten wollen, nein, nicht aushalten können. Wenn wir uns beschweren, finden wir uns nicht länger mit der Situation ab. Das Unerträgliche ist diese Abhängigkeit von einem Zustand, der frei von uns existiert. Ein Teil unserer Klage beruht also darauf, dass wir klagen müssen. Die Klage ist eine Klage auch über sich selbst. Über die erniedrigende Tatsache, dass wir in eine Lage versetzt worden sind, in der wir nichts anderes tun können, als zu klagen.

Ist es denn überhaupt möglich, erträglich zu klagen? Anders gesagt: Wie schafft man es zu klagen, ohne zu klagen?

Hyakinthos hieß ein junger Prinz aus Sparta. Es wird erzählt, dass seine Gestalt so schön und athletisch war, dass er gleich von zwei Göttern hofiert wurde. Zum einen vom Patron des Lichts und der Dichtung, Apollon, zum anderen vom Westwind Zephyros, der jedes Jahr mit dem Frühling kam. Eines Tages soll Hyakinthos bei Amyklai, südlich von Sparta, mit Apollon gespielt haben. Der Gott warf einen Diskus; der Junge versuchte, mit der Scheibe um die Wette zu rennen. Gleichzeitig schlich Zephyros in der Nähe herum. Als er erkannte, dass der bezaubernde Prinz den Rivalen bevorzugte, wurde sein Herz schwarz und krank. Beleidigt füllte er seine Lungen mit unruhigem Wind. Als Apollon erneut den Diskus warf, verließ das Gerät unerwartet seine Bahn und trieb seitlich ab. Die Scheibe schlug gegen eine Felswand, prallte heftig zurück und traf Hyakinthos so unglücklich am Kopf, dass er starb.

Der verzweifelte Apollon begriff schnell, was passiert war, und setzte Zephyros nach. Er leerte den Köcher, aber keiner seiner Pfeile traf den Westwind. Verstört kehrte er zum Unglücksort zurück. Als Hades kam, um den Toten zu holen, verweigerte Apollon ihm dies. Stattdessen errichtete er einen Grabhügel dort, wo der Diskus den Prinzen getötet hatte. Aus dem Blut spross eine Blume. Seitdem wird sie Hyazinthe, nach Hyakinthos, genannt – auch wenn manche Forscher und auch Botaniker vermuten, dass es sich eher um eine Schwertlilie oder möglicherweise einen frühen Blaustern handelt.

»Du bist meine Trauer, mein Verbrechen!«, klagt der untröstliche Apollon in Ovids Metamorphosen. »Auf deinem Grab soll geritzt werden, dass du / den Tod aus meiner Hand entgegennehmen musstest. Ich bin es, der dir das Leben geraubt hat!« (X, 198 f.) Aber wie kann man des Todes einer anderen Person schuldig sein, wenn es kein Verbrechen ist, mit ihr zu spielen? »Zu lieben, kann das ein Verbrechen genannt werden?« (X, 201) Überwältigt von Schmerz sehnt Apollon sich nach dem, was der Klagende sucht, wenn das Schicksal gegen ihn ist und das einzige, was ihm übrigbleibt, gerade das beklemmende Lamentieren ist, bei dem er weder die Situation noch sich selbst auszuhalten vermag: Er will sterben. Nur so kann der Gott mit seinem Geliebten wiedervereint werden. Aber im Gegensatz zu Menschen ist Apollon göttlich und unvergänglich. Paradoxerweise muss er sich daher mit dem zweitbesten begnügen. Hyakinthos wird in der einzigen Welt wiederauferstehen, in der die beiden noch miteinander zusammen sein können: im Gedächtnis. Wie? Mit Hilfe der Dichtung: »Die Leier schlage ich mit meiner Hand, mein Gesang wird dich ständig loben, / und du sollst meine Klage in Schrift zeigen, in einer neuerschaffenen Blume. « (X, 205 f.)

Da haben wir sie, die Klage in ihrer schlichtesten Gestalt, und möglicherweise auch in ihrer schönsten: als Hyazinthe. Der Gesang selbst mag den Toten in schmerzhaft schönen Tönen rühmen. Aber der Garant, dass Hyakinthos in Erinnerung bleibt, ja, überlebt, ist nicht der Gesang, sondern das, was Ovid eine »Klage in Schrift« nennt. Der Schmerz steht schwarz auf weiß – oder vielmehr grün in grün: auf den Blättern der neuerschaffenen Blume. Im Chlorophyll lassen sich zwei Buchstaben ausmachen. Beide sind Vokale; gemeinsam formen sie den Jammer in seiner reinsten Form: »A I A I / kann noch deutlich gelesen werden, wie eine Erinnerung von untröstlicher Klage. « (X, 215 f.) Der erste Laut ist sanft, offen und befindet sich im hinteren Bereich der Zunge, der letzte ist der Gegensatz: hart, abgeschlossen und im vorderen Bereich der Mundhöhle beheimatet. Die Vokale sind also Extreme. Wenn wir ein ›A‹ ertönen lassen, öffnen wir den Mund maximal, wenn wir dagegen ein ›I‹ formen, machen wir die Öffnung möglichst klein. Die Klage ist diese Vereinigung von größter Aufgeräumtheit und eilendem, stetem Schmerz.

Nach dieser Lektion in alphabetischer Botanik ergänzt Ovid: »Es kommt auch ein Tag, an dem der tapferste Held von allen / die Gestalt deiner Blume annimmt, auf der dieselben Zeichen gelesen werden sollen. « (X, 207 f.) Der Dichter konnte damit rechnen, dass seine Leser die Anspielung verstehen würden. »Der tapferste Held von allen« ist der große Krieger, den die Ilias »das Bollwerk der Achaier« nennt und der laut übereinstimmenden Quellen der stärkste und mutigste Mann nach Achill gewesen sein soll – will sagen: Aias, der Königssohn aus Salamis. Der Name sagt alles: Aias, das ist Klage inkarniert.

Als Achill stirbt, kämpfen Aias und Odysseus weiter, Seite an Seite. Zusammen schaffen sie es, den Körper Achills zu retten, und begraben ihn neben seinem verstorbenen Freund Patroklos. Nach dem Begräbnis bricht allerdings ein Streit darüber aus, wer die begehrenswerte Rüstung des Helden erhalten soll. Aias meint, dass er der tapferste gewesen sei, und auch die Schiffe der Griechen gegen Hektors Angriffe geschützt habe. Dementsprechend stehe ihm die Rüstung zu. Aber Aias ist ein Krieger der alten Schule. Er denkt defensiv und vertraut roher Kraft, Mut und Unverfrorenheit. Odysseus ist ein Mann der Zukunft, der List, der Heimtücke und Diplomatie zu verwenden weiß. Schließlich erhält er die Rüstung.

Bei Sophokles erfahren wir, was danach passiert. In der Tragödie Aias begegnen wir dem entehrten Krieger wieder. Je mehr er sich beschwert, desto mehr klagt er vor tauben Ohren. Unfähig, sich mit der Situation zu arrangieren, kehrt er in sein Zelt zurück. Während der Nacht reift seine Entscheidung. Er wird sich rächen und die Führer der Griechen töten. Pallas Athene verwirrt ihn jedoch. Statt Menelaos, Odysseus und die übrigen Waffenbrüder zu ermorden, schlachtet Aias das Vieh der Truppen. Als der Morgen kommt und er wieder zu sich kommt, entdeckt er, was geschehen ist. Seine Scham ist so groß, dass er den Streit weder fortsetzen will noch kann. Entweder lebt ein Krieger von seinem Format in Ehre oder er stirbt wenigstens ehrenvoll. Von Hektor hat Aias nach einem ihrer unentschiedenen Duelle ein Schwert als Gabe erhalten. Diese Waffe befestigt er nun in der Erde Trojas – indirekt wird er von der Hand des Feindes auf fremdem Boden sterben.

Wie Apollon, der am liebsten sterben würde, klagt Aias, als er sich auf seinen ferngesteuerten Selbstmord vorbereitet. »Ai, Ai!« bricht es bei Sophokles aus ihm heraus. »Wer hätte je gedacht, dass mein Name / von meinem Unglücksschicksal zeugen würde?« (Z. 430 f.) Bevor er die Klinge in seinem Inneren begräbt, wechselt er jedoch von der ersten zur dritten Person Singular. Nachdem er von der Sonne sowie der fernen Heimaterde Abschied genommen hat, ist es nun, als entfernte er sich ein paar grammatische Schritte von sich selbst; Aias ist nicht länger Subjekt, sondern schon auf dem Weg, Objekt zu werden. »Dies ist das letzte Wort, das Aias euch sagt«, bekundet er. »Den Rest wird er den Schatten im Hades sagen« (Z. 864 f.).

Aus Aias’ vergossenem Blut wächst eine Blume. Dem Historiographen Pausanias zufolge, der den Mythos der Hyazinthe in seiner Beschreibung Griechenlands kommentiert, soll sie zum ersten Mal in der Heimat des Helden nach dessen Tod gesichtet worden sein. »Sie ist weiß und rotgefärbt, sowohl Blume als auch Blatt sind schmaler als die Lilie. Es kommen Buchstaben auf ihr vor, wie auf der Hyazinthe« (3.19.4). Eingeschrieben auf den Blättern der Pflanze, die Frühling für Frühling, Jahr für Jahr, wiederaufersteht, erinnern die Vokale ›A‹ und ›I‹ an einen Schmerz, der sich von seinem endlichen Subjekt gelöst hat, aber in Erinnerung an den Toten dennoch endlos bleibt. Zusammengezogen zu ›Aiai‹ bilden sie die Vokativform von Aias’ »Unglücksnamen« (Z. 914). Die Buchstaben berufen sich auf den Schmerz des Helden, reden ihn jedoch auch an. So trauern sie um einen Toten und halten gleichzeitig sein Leid am Leben.

Als Odysseus im elften Gesang der Odyssee in den Hades hinabsteigt, treffen wir Aias zum letzten Mal. Einer nach dem anderen treten die gefallenen Kameraden aus den Schatten hervor, um den Besucher zu begrüßen. Aber »der große Aias / hielt Abstand, noch bitter« (XI, 543 f.) über den Sieg des Waffenbruders. Heute würden wir vermuten, er ist gekränkt. Aber ich bin mir da nicht so sicher. Vielleicht hat der Held eingesehen, dass auch Schweigen beredt sein kann.

Odysseus versucht, den Schweigenden zu besänftigen. Es waren die Götter, die wollten, dass er und nicht Aias die Rüstung Achills erhalten sollte; was sie selbst wollten, spielte dabei keine Rolle. »[N]iemand trägt die Schuld / außer Zeus« (XI, 558 f.). Die riesige Gestalt im Dunkeln hört sich die Erklärung – oder ist es eine Entschuldigung? – an, gleichwohl sagt sie nichts: »Aias beantwortete meine Worte nicht, sondern kehrte zurück, / hinunter nach Erebros’ Tiefen und zur Schar von Menschenseelen. « (XI, 563 f.)

Bevor Aias sich in Sophokles’ Drama in sein Schwert stürzte, versprach er, der nicht länger ›Ich‹ zu sagen vermochte, dass »Aias« »den Rest« im Hades erzählen würde. Nun, da Odysseus ihn im Untergrund besucht, bringt er jedoch keinen Laut über die Lippen. »The rest is silence«, wie es in Hamlet heißt. Stattdessen dreht sich der tragische Krieger von Odysseus weg, mit einer Geste, die dem spätantiken Poetologen Longinus als ein »Widerhall von Seelengröße« (IX:2) erschien. Es ist eine Gebärde, die »groß ist«, wie er in seinem Traktat über das Erhabene bemerkt, »und erhabener als jede Rede« (IX:2). Aias zeigt uns, wie eine Klage ohne Klagen klingt.

Hyakinthos stirbt aus Versehen, Aias von eigener Hand. Zwischen der Liebe in dem einen und der Scham in dem anderen Fall, zwischen der Eifersucht und Trauer im einen und der Schmach und Stolz im anderen liegen Welten. Dennoch werden die beiden tragischen Gestalten durch die Vokale des Schmerzes zusammengeführt: das offene ›A‹, riesig wie Aias, und das schlanke ›I‹, agil und eilend wie Hyakinthos. Aus dem Blut beider sprießt eine neuerfundene Blume, die die Klagen weiterführen wird. Aber Pflanzen sprechen nicht. Stattdessen trägt die Hyazinthe – oder ist es eine Schwertlilie – oder vielleicht ein früher Blaustern – den Schmerz eingeritzt auf ihren Blättern, die der Klinge eines Schwerts genauso ähneln wie der Zunge der Menschen. So lebt das »Ai Ai« fort, jenseits von Subjekt wie Objekt, dem klagenden Aias so fern wie dem beklagten Hyakinthos, in geschriebener, aber unausgesprochener Form.

Wahrscheinlich ist es, wie Apollon bei Ovid meint: »[Du] sollst ewig leben […] auf meiner Zunge, die nie vergessen kann« (X, 203 f.).

Fussnote: Sämtliche Zitate in der Übersetzung des Autors.