Diese Rothäute, meine Dämonen

Essay · Originaltitel: »Mina rödskinn« · Übersetzung: Paul Berf · Sprache im technischen Zeitalter · 2013, No. 208, S. 478–483


Für Werner Hamacher

Wenn es stimmt, dass der Dämon ständiger Begleiter im Leben eines Menschen ist, dürfte meine persönliche Eskorte schmal, gelb und sechseckig sein. Außerdem hat sie einen Kopf aus rotem Kautschuk. Jedenfalls bin ich, solange ich denken kann, in der Gesellschaft eines Bleistifts gewesen.

Schriftsteller sind abergläubisch. Dennoch schmerzt es, sich der Frage zu stellen: Kann man an einem Stift hängen? So sehr, dass man sein Schicksal mit ihm verbindet und sich einbildet, ohne seine Hilfe würde nichts gut gehen? Wenn man bedenkt, dass ein Bleistift Spuren hinterlässt, nach und nach jedoch auch verschwindet, je mehr Abdrücke es werden, erinnert diese unglückliche Liebe wohl mehr als nur ein wenig an Kafkas Wunsch, Indianer zu werden – „gleich bereit, und auf dem rennenden Pferde, schief in der Luft, immer wieder kurz erzitternd über dem zitternden Boden, bis man die Sporen ließ, denn es gab keine Sporen, bis man die Zügel wegwarf, denn es gab keine Zügel, und kaum das Land vor sich als glattgemähte Heide sah, schon ohne Pferdehals und Pferdekopf“. Ich kenne zumindest keine andere Stelle in der Literatur, die schonungsloser den fatalen Wunsch schildert, Teil einer Bewegung zu werden, die freiwillig ihrem eigenen Ende entgegen hastet. „Schief in der Luft“, „erzitternd über dem zitternden Boden“: Ist das nicht ein exaktes Bild des Bleistiftritts über das weiße Blatt?

Das Pferd in meinem Leben trägt in der Regel den Namen Faber, was für „schöpferische Wesen“, diese homines fabri, wohl als Omen betrachtet werden darf. (Solange ich mich erinnern kann, ist der Härtegrad 2B gewesen – oder to be, wenn man so will, was wohl andeutet, das der Bleistift für das Leben- oder Lustprinzip steht.) Manchmal nennt er sich jedoch Koh-I-Noor oder Caran d’Ache. Dann bekommen die von ihm hinterlassenen Spuren etwas zugleich Flüchtiges und Funkelndes, als wäre der aufgewirbelte Staub aus Diamantenrauch gemacht. Auch Namen wie Venus, Lyra und Bonanza kommen vor. Und zudem nicht selten Staedtler – was die Schrift trister und sachlicher, aber auch zuverlässiger erscheinen lässt. Staedtler, das klingt wie ein Buchhalter aus dem heutigen Krefeld oder dem damaligen Prag: trocken, korrekt und mit solchen Ärmelschonern ausgestattet, wie auch Kafka sie sicher im Büro trug.

Ich erwerbe die Stifte in größeren Mengen und verwahre sie in einem alten Senfkrug. Wenn der Radiergummi nach oben zeigt, weiß ich, dass ein Stift noch neu und ungespitzt ist. Sonst steht er mit der Kappe nach unten. Das Arrangement ähnelt einem Blumenstrauß, bei dem einige Blüten abgeknipst wurden und nur spitze Stiele zurückbleiben. Hat ein Dämon seine Wehrpflicht am Schreibtisch absolviert, was den ersten Zentimetern seiner Existenz entspricht, wandert er zu Großvaters altem Lesesessel, auch „Das Schlachtfeld“ genannt. Dort verbringt er den größten Teil seines Lebens. Hier werden Passagen in Büchern markiert, erinnerungswürdige Sätze eingeklammert, einzelne Druckfehler berichtigt. In erster Linie geht es jedoch um Einsätze in eigener Sache. Am Schlachtfeld wird nämlich die Plackerei an Texten verrichtet. Im Lesesessel sind die Einwände und die ewigen Korrekturen daheim. Kurzum: Der Bleistift ist meine Putzkolonne.

Ehe wir uns versehen, hat der Dämon deshalb weitere sieben oder acht seiner ursprünglich achtzehn Zentimeter verloren. Daraufhin wird es Zeit, in eine Jacketttasche zu emigrieren. Dort verbringt er beschaulich seinen Lebensabend, selten benutzt, aber stets zu Diensten – bis er endgültig seine Spitze verloren hat und zu den ewigen Jagdgründen weiterzieht. Noch habe ich nicht herausgefunden, wo dieser mythische Ort liegt. Der Dämon hat die eigentümliche Fähigkeit, eines Tages völlig zu verschwinden – wie Kafkas Pferd ohne Hals, Kopf, etc. Aber ich vermute, dass diese Begräbnisstätte dem Friedhof der Elefanten gleicht. Die Stifte wissen wohl selbst am besten, wohin sie sich, still und diskret, zurückziehen müssen, um im großen Kreislauf der Kohleatome aufzugehen.

Vor zwanzig Jahren schrieb ich ein Buch über diesen Dämon. Ich hatte entdeckt, dass er die Texte anderer heimsuchte, und begann, Stellen zu sammeln, in denen die Kollegen sein Loblied sangen oder seine Existenz verdammten. Daraus entstand ein Essay mit dem Titel Das graue Buch, in dem es um die Bedeutung des Vagen in aber auch für die Literatur ging. Bei Rilke, der zweifellos zu den Lyra-Typen unter den Autoren gehört, fiel mir beispielsweise eine Szene zu Beginn des Malte auf. Wenn wir dem Helden des Romans begegnen, steht er gerade vor einem Schaufenster. Neben ihm kauert eine „graue, kleine Frau“, die eine Viertelstunde lang „mir einen alten, langen Bleistift zeigte, der unendlich langsam aus ihren schlechten, geschlossenen Händen sich herausschob“. Welche Bedeutung diese eigenartige Offenbarung hat, ahne ich heute ebenso wenig wie damals Malte, aber die Szene hat etwas von einer schäbigen Apotheose. Und bei Vladimir Nabokov, der zu den Venus- und Koh-I-Noor-Autoren gezählt werden muss, fand ich in jedem Roman mindestens eine bezeichnende Textstelle. Zum Beispiel diese Szene am Anfang von Einladung zur Enthauptung, in welcher der zum Tode verurteilte Held eine Entdeckung macht: „Auf dem Tisch leuchtete ein sauberes Blatt Papier, und von dieser Weiße hob sich deutlich ein wundervoll spitzer Bleistift ab, lang wie das Leben jedes Menschen mit Ausnahme von Cincinnatus und mit einem ebenholzschwarzen Schimmer auf jeder seiner sechs Facetten. Ein aufgeklärter Nachkomme des Zeigefingers.“

Obwohl das Schreibgerät, das Malte aus den Händen der kleinen Alten aufsteigen sieht, noch lang ist, und obwohl das Werkzeug, das auf dem Tisch in Cincinnatus‘ Gefängniszelle glänzt, an einen stattlichen Zeigefinger erinnert, erkennen beide, dass der Bleistift kein aufforderndes Ausrufe- sondern eher ein krummes Fragezeichen bildet. Es markiert ja nicht Emphase, sondern Verwunderung, nicht Ausruf, sondern Zweifel. Rilkes Held legt den Finger auf den wunden Punkt: „Ich fühlte, dass das ein Zeichen war, ein Zeichen für Eingeweihte, ein Zeichen, das die Fortgeworfenen kennen“. Aber ebenso wenig wie Cincinnatus weiß er, was das Zeichen zu bedeuten hat. Es ist „deutlich“, bleibt jedoch unverständlich. Wie für Nabokovs Helden ist es eine Indikation, also etwas, was sich damit begnügt, wie ein Finger über sich selbst hinauszuweisen. Als wäre dies nicht verhängnisvoll genug, begreifen beide Romanfiguren, dass es nicht auf die Größe ankommt. Im Gegenteil ist es die endliche Existenz des Stifts, die ihn so lieb und teuer macht. Im Unterschied zum Füllfederhalter, dessen Tinte immer nachgefüllt werden kann, und dessen Schrift stets beständig ist, wird der Bleistift kleiner, je mehr man mit ihm schreibt. Außerdem können seine Spuren ausradiert werden, auch wenn die Geister des Gesagten auf der Seite weiterleben – vage und kaum noch lesbar, als wären sie alphabetische Gespenster aus einer früheren Textepoche.

Der Stift erhebt also weder Anspruch auf Ewigkeit noch auf Permanenz, sondern teilt Eigenschaften mit seinem Benutzer, diesem homo faber, dessen Leben ebenfalls endlich und veränderlich ist. Samuel Beckett, der vermutlich zur Staedtler-Fraktion gehört, formulierte das Verhältnis in angemessen trockener Art. In Malone stirbt singt die Hauptfigur gleichen Namens eine Ode an seine „kleine Venus“ und die Wollust, die es ihm bereitet, an dem Stift zu lutschen. Im Gegensatz zu anderen spitzt Malone das Werkzeug allerdings an beiden Enden. „Und wenn sie stumpf geworden sind, schärfe ich sie mit meinen Nägeln, die lang, gelb, scharf und wegen Kalk- oder vielleicht auch Phosphatmangel spröde sind. Stück für Stück verkleinert sich also unausweichlich mein kleiner Stift, und es nähert sich rasch der Tag, an dem nichts zurückbleibt als ein Fragment, das zu winzig ist, um es zu halten.“ Ein solches Schicksal kann selbst das erbarmungsloseste Indianerherz erweichen.

Seit Das graue Buch erschien, habe ich meinen Dämon als so selbstverständlich hingenommen, wie man es eben mit seinem Schatten tut. Sobald ein Stift a fragment too tiny to hold geworden ist, wird er jedoch von einem neuen ersetzt. Er bildet also keine einmalige, wenn auch nicht greifbare Inkarnation des Schicksals eines Menschen, wie es der daimon der Antike voraussetzt. Auch wenn sich die Stifte zum Verwechseln ähneln, heißen sie ja einmal Faber, ein anderes Mal Lyra. Und es reicht im Übrigen aus, die Abdrücke der Eckzähne auf ihren schmalen Körpern mal hier, mal da zu vergleichen, um zu erkennen, dass es sich um unterschiedliche Werkzeuge handelt. Kurzum: Wenn der Bleistift ein Dämon sein sollte, gibt es ihn nur im Plural.

Das klingt verdächtig bekannt. Oder kommt nur mir Jesus‘ Besuch im eine Stunde Autofahrt nördlich vom heutigen Amman gelegenen Gerasa in den Sinn? Als Gottes Sohn dort eintrifft, begegnet er einer Gestalt von der es heißt, sie werde von einem „unreinen Geist“ heimgesucht. In der Septuaginta wird diese Bezeichnung mit δαίμων übersetzt, also „Dämon“. Der besessene Mann befindet sich dort, wo sich unselige Geister gewöhnlich aufhalten, zwischen den Gräbern. Da schreit und redet er in Zungen, lebt von Abfällen und verletzt sich selbst mit Steinen. Als Jesus dieses Prachtexemplar eines schwer zu integrierenden Menschen sieht, fragt er den Mann nach seinem Namen. Die Antwort ist ebenso bekannt wie beunruhigend: „Mein Name ist Legion, denn wir sind viele.“

Hier steht das Reine dem Unreinen gegenüber, das Einmalige dem Vielfältigen, Logos gegen Legion. Das ist jedoch nicht das einzige, was diese Szene aus dem Markusevangelium interessant macht. Wer die Aussage des Mannes genauer betrachtet, wird erkennen, dass nach der Behauptung, aber vor der Schlussfolgerung etwas geschieht. Im Herzen des Satzes gibt es eine Verzerrung, als deren Folge die Person, die den Satz beginnt, nicht dieselbe ist wie die, die ihn beendet. Zwischen dem ersten und dem zweiten Glied verwandelt sich der Sprechende von jemandem, der „mein“ sagen kann, in jemanden, der das weiter gefasste „wir“ benutzen muss. Kein Sprachsheriff kann die Ordnung in dieser Grammatik wiederherstellen, kein Freund des Dialogs als Erkenntnisform den Sprechenden daran hindern, in die Sprechenden verwandelt zu werden. Als wäre die Pluralform nicht schon spektakulär genug, erweist sich die angegebene Mehrzahl außerdem als so groß, dass nur die höchste taktische Organisationseinheit innerhalb der römischen Armee vermittelt, wie viele widerstreitende Willen dieses Kollektiv umfasst. Ähnelt das nicht der pronominalen Promiskuität eines Bleistifts, gefüllt mit so vielen Existenzen, die allerdings alle aus derselben Spitze herausdrängen?

Sollte der besessene Mann einen der vielen Decknamen verwenden, unter denen mein Dämon auftritt, würde er wahrscheinlich weder Venus noch Lyra wählen. Nein, nicht einmal Staedtler. Ich glaube, sein Pseudonym würde Bonanza lauten. Auch hier kommt ja die Vielfalt zur Sprache – nicht durch ein und denselben Mund, wohl aber durch eine und dieselbe Mündung. In Bonanza herrscht sozusagen Kreuzfeuer. Genau wie in Legion stellen sich die Stimmen im engen Inneren des Stiftes quer, sind widerspenstig, legen gegeneinander ihr Veto ein. Wie fasste Walt Whitman diese für Schriftsteller so peinlich bekannte Situation zusammen? „Widerspreche ich mir selbst? Na schön, dann widerspreche ich mir eben selbst, ich bin groß, ich enthalte Vielfalten.“

Für schreibende Wesen, die neues Land urbar machen wollen, kann es von Vorteil sein, nicht zu vergessen: Wo es eine Bonanza gibt, sind die Indianer selten fern. Jedenfalls nicht, wenn man damit Frage- und keine Ausrufezeichen meint. Zu den Aufgaben des antiken Dämons gehört ja nicht nur, einen Menschen zu begleiten, sondern auch, ihn zurechtzuweisen. An einer bekannten Stelle in Platons Verteidigungsrede bemerkt Sokrates: „Mir aber ist dieses von meiner Kindheit an geschehen: eine Stimme nämlich, welche jedes Mal, wenn sie sich hören lässt, mir von etwas abredet, was ich tun will, – zugeredet aber hat sie mir nie.“ So erscheint der Dämon, wenn er als innere Stimme auftritt: Er hindert uns oder rät uns ab. Kurzum: er korrigiert. Kann es etwas geben, was dieses Verhältnis besser demonstriert als der Gummikopf, der einen Bleistift ziert – diese Inkarnation des Todesprinzips?

Lassen Sie mich diese wilde Spekulation deshalb abschließen, indem ich zum Schauplatz der Berichtigungen in meinem Dasein – zum sanften Schlachtfeld – zurückkehre. Vor ein paar Jahren ließ ich den Sessel, an dem meine Bleistifte den größten Teil ihrer Lebensspanne verbringen, neu beziehen. Das Möbel befindet sich seit den zwanziger Jahren in Familienbesitz, als meine Großeltern es für ihr neues Heim im 7. Wiener Bezirk erwarben. Zu jener Zeit stand es im Herrenzimmer neben einem Bücherschrank, der mit Werken Nietzsches, Tagores und Karl Mays gefüllt war. In den sechziger Jahren wurde der Sessel jedoch nach Schweden verfrachtet. Als ich einige Jahre später die Cowboys und Indianer aufgab, wurde er mein Zufluchtsort. Hier tat ich, was Großvater bis zum Krieg an jedem Nachmittag seines Leben getan hatte: ich las. Zwar hatten wir einstweilen nur May gemeinsam, aber auch für das Enkelkind wurde der Sessel zu einem Reservat – der einzige Ort, an dem ich meine Ruhe haben durfte, ohne mich, verschanzt hinter einem Buch, einsam fühlen zu müssen.

Viele Jahre später erbte ich deshalb den Sessel. Inzwischen war das Leder rissig geworden und die Farbe abgeblättert, trotzdem erkannte ich erst, als auch die Spiralfedern aufgaben, dass meine Pietät deplatziert war und das Schlachtfeld neu bezogen und aufgepolstert werden musste. Über einen Freund kam ich in Kontakt mit einem Restaurateur in Kleinmachnow vor den Toren Berlins, der das Möbelstück eines Tages mit seinem Auto abholte. Selten habe ich mich so verloren gefühlt wie im folgenden Sommer. Ohne Reservat existierte keine Geborgenheit. Ohne einen festen Punkt im Dasein wanderten die Bleistifte wie unselige Geister durch die Wohnung. Ende August läutete dann endlich das Telefon. Die Kingeltöne waren wie die Trompetenstöße in den Western, die die Ankunft der rettenden Kavallerie verkünden. Als ich den neubezogenen Sessel am nächsten Tag probegesessen hatte und der Restaurateur sich verabschieden wollte, blieb er in der Tür stehen. Bei der Restauration hatte er einige Gegenstände gefunden, die unter die Sitzfläche gefallen waren. Aus der Innentasche seiner Jacke zog er einen Umschlag, in dem alte Münzen, einzelne Spielkarten und ein paar Fußballbilder lagen. Sowie eine kniende Figur ohne Arme. Ich erkannte sie sofort. Es handelte sich um einen Indianer in den traditionellen Farben des Bleistifts: gelbes Gewand und roter Hut. Als ich in meiner Kindheit mit ihm spielte, hatte er bewegliche Arme besessen und vorgebeugt an einem Lagerfeuer gesessen. Auch wenn seine Miene so stoisch war wie eh und je, sah er nunmehr wie ein Opfer aus. Die Arme waren abgeschlagen, der Kopf lehnte sich fatal vor. Offenbar wartete dieser Indianer nur noch auf den Gnadenschuss.

Während all der Jahre, in denen ich am Schlachtfeld sitzend Manuskripte korrigierte, hatte diese kleine Figur in dessen Untergrund gelebt. War dies nicht der einzige Beweis, den ich für die Liebe zum Schicksal benötigte, über die Nietzsche im Zusammenhang mit dem Dämon sprach? Ich suchte Großvaters alte Ausgabe heraus, die ich ebenfalls geerbt hatte. Mit Hilfe des Registers fand ich die Stellen, an denen Nietzsche die schmerzhafte amor fati erörtert. So etwa in einer seiner Schriften über Wagner. Der Schmerz mache uns nicht zu besseren, sondern tieferen Menschen, stellt Nietzsche dort klar, so dass wir „es dem Indianer gleichtun, der, wie schlimm auch gepeinigt, sich an seinem Peiniger durch die Bosheit seiner Zunge schadlos hält“. Da war sie schließlich, die geheime Botschaft des Dämons. Das einzige, was er uns wirklich lehrt, ist die Bedeutung einer boshaften Zunge. Nicht um Unsinn zu erzählen, nicht um zu verletzen oder zu kränken. Sondern um eine abweichende Ansicht anzumelden, um die herrschende Ordnung zu untergraben, um endlich Worte zu finden, die den Schmerz aufwiegen.

Wieder musste ich an die Szene in der Bibel denken. Dort bittet Legion flehentlich, in Frieden gelassen zu werden. Aber Jesus hört nicht auf ihn. Stattdessen treibt er die unreinen Geister aus und verweist sie in „ungefähr zweitausend Schweine“, die „sich den Abhang hinunter stürzten und im See ertranken“. Um die Seele des Mannes zu retten, war offenbar ein ebenso grundlegender Verlust erforderlich. Die Konversion setzt eine Perversion voraus: Eine ganze Legion Schweine ging verloren, über die in der Bibel kein weiteres Wort verloren wird. Diese Schweine bilden eine reine Verschwendung. Es fällt schwer, nicht an den Abrieb des Radiergummis zu denken. Ist der Dämon also etwa weder der gelbe Stift noch dessen roter Kopf, sondern besteht aus Kautschukresten – diesen wahren Rothäuten? Genau wie bei Platons daimon wird man durch sie nie klüger, lernt aber dennoch einiges. Oder wie Nietzsche über das Misstrauen des Indianers sagt: „Man kommt aus solchen langen, gefährlichen Übungen der Herrschaft über sich als ein andrer Mensch heraus, mit einigen Fragezeichen mehr –“.


Sprache im technischen Zeitalter