Starke Szenen
24.iv.22
Als Leser der Bücher anderer – welche Szene/welche Szenen wirst du nie vergessen?
Mich persönlich packt in einem Buch eher der Ton, seltener einzelne Szenen. Von Saul Bellows Herzog sind mir weder die Story noch die Nebenfiguren in Erinnerung geblieben, aber ich kann bis hin zu der exakten Stunde den tiefen Eindruck datieren, den die Erzählstimme auf mich gemacht hat. (Ich lag an einem menschenleeren Julinachmittag 1982 am Stockholmer Observatorielunden im Gras. Seither ist Bellow so mit Gras verbunden – grün, satt, stark – dass ich an Herzog nicht denken kann, ohne mich der Halme unter und um mich herum, ja vermutlich auch in mir zu entsinnen.) Oder Clarice Lispectors The Passion According to G.H. Die Erinnerung daran, wie ich die englische Übersetzung über die Kakerlake las, die die Hauptperson eines Tages in ihrer Wohnung entdeckt, im Kleiderschrank des Zimmers, in dem das Hausmädchen gewohnt hat, dem gerade gekündigt wurde … Der Ton, in dem die Erzählerin dieses Eindringen eines gründlich anderen Wesens in ihre bisher stabile Wirklichkeit neu bewertet – in einem solchen Maße, dass sie etwa in der Mitte des Buchs die Kakerlake isst und sie sich einverleibt in einer radikaleren Form der Transsubstantiation –, der ist geblieben. (Ich lag an einem saukalten Januarmorgen 1993 in Baltimore im Bett. Seither ist Lispector mit Laken, Schnee und zischenden Heizkörpern verbunden.)
Weder Bellow noch Lispector schrieben Romane, in denen narrative Ereignisse – nennen wir sie »Szenen«– das wichtige waren. Sie interessierten sich nicht für Action. Die eigentliche Handlung lag im Erzählen.
Woran liegt das?
Wahrscheinlich ist es eine Frage des Temperaments. Als Leser möchte ich natürlich wissen, was in einem Roman geschieht. Die Szenen sind auf einen Halm gefädelte Walderdbeeren. Die eine soll einer verborgenen, aber plausiblen Logik folgend zur nächsten führen. Wenn ich die letzte Beere erreiche, möchte ich eine Befriedigung erleben, die logisch ist.
Aber meine Leidenschaft als Leser – meine »Passion«, um mit Lispector zu sprechen – sieht anders aus. Was meine Aufmerksamkeit auf sich zieht, ist die Stimme, wie selbstverständlich und rätselhaft sie ist. Ohne Balance zwischen dem Offensichtlichen und dem Versteckten empfinde ich kein Vertrauen für das Geschriebene. Deshalb kann die Handlung grenzenlos banal sein (boy meets girl; ein Trauma tritt zu Tage; unterschiedliche Rechtsauffassungen stehen im Konflikt), solange der Autor den richtigen Ton trifft, trägt der Text dennoch.
Zum Beispiel Kafka. Seine Texte sind voller Unfug und Trauer und Verwunderung. Aber was uns veranlasst, sie wieder zu lesen, sind, glaube ich, nicht einzelne Szenen. Das wirklich Wichtige ist ja in der Regel eingetroffen, bevor die Handlung einsetzt. Eines Tages erwacht der junge Handelsreisende Gregor Samsa und entdeckt, dass er zu einem »ungeheueren Ungeziefer« verwandelt wurde. Oder: Jemand muss Josef K. verleumdet haben, denn eines schönen Tages schlägt er die Augen auf und wird »ohne dass er etwas Böses getan hätte« verhaftet. Der Rest von Kafkas Texten besteht aus den Versuchen zu verstehen, was vor ihnen passiert ist. Zugespitzt formuliert könnte man sagen, dass dies Anti-Narration ist. Sicherlich gibt es sowohl in Die Verwandlung als auch in Der Prozess viele denkwürdige Szenen – man nehme nur den Apfel, den der Vater wirft und der im Körper des Sohnes hängenbleibt und zu faulen beginnt; oder die Schwimmhaut, die Josef K. erblickt, als Leni die Finger spreizt. Solche Details vergisst keiner. Doch die Szenen tragen nicht entscheidend zur Handlung bei. Stattdessen laden sie den Text mit ebenso rätselhafter wie selbstverständlicher Bedeutung auf. Hätte Kafka nicht den richtigen Ton getroffen, wären der Apfel und die Schwimmhaut zu Symbolen so schwer und klobig wie Holzschuhe geworden. Nun ist ihnen im Gegenteil eine bezaubernde Leichtigkeit eigen. Der Ton zeigt, dass die Magie in einem Text durch das Erzählen erschaffen wird.
Nenne eine Szene, die dich beeinflusst hat.
Eine Szene, die mich wirklich beeindruckt hat, findet sich am Ende von Vladimir Nabokovs letztem Roman auf Russisch, Die Gabe von 1936-1938. Es ist Sommer in Berlin. Darauf wartend, seine Geliebte Zina Merts zu treffen, beschließt die Hauptperson Fjodor, in einem See am westlichen Stadtrand schwimmen zu gehen. Als er aus dem Wasser kommt, entdeckt er, dass jemand die Kleider gestohlen hat, in denen der Schlüssel zu der Wohnung liegt, in der er ein Zimmer mietet. Unbekümmert marschiert er durch die Stadt zurück, in tropfnasser Badehose. Ein Polizist stoppt ihn und weist darauf hin, dass man so nicht auf der Straße herumlaufen dürfe. Fjodor erklärt, er könne sich leider nicht in Rauch verwandeln oder einen Anzug wachsen lassen. Plötzlich beginnt es zu regnen und nachdem er Name und Adresse angegeben hat, setzt er seinen Heimweg fort – was in seinem Fall synonym mit einer Zukunft mit Zina ist, bettelarm, aber mit allen Voraussetzungen, glücklich zu werden.
Ein fast nackter Russe im Exil. Ein grobschlächtiger Polizist. Ein Bürgersteig, ein Wolkenbruch. Es passiert nicht viel. Aber die Art, wie es geschildert wird, der Ton, mit der eine abgebrannte Existenz gezeichnet wird, die gleichwohl alle Stärke und Seligkeit enthält, die ein Leben benötigt, hat mich viel darüber gelehrt, was ich auf Papier zustande bringen will.
Gibt es für dich als Schriftsteller wiederkehrende Bilder oder Szenen, bei denen du merkst, dass du sie nicht loslassen kannst?
Freud sprach von »Urszenen« im Leben der Menschen, schwer zu verstehenden Ereignissen, die definieren, wie sie handeln und sich selbst sehen. Natürlich haben auch schreibende Wesen solche Erlebnisse. Es sind selten viele und sie müssen für andere nicht immer von Bedeutung sein. Aber viel von der Energie in den Werken eines Autors wird aus ihnen geschöpft. Sie bilden eine Art Wunde, die nicht heilen will. Oder Beschwörungen – aber von was? Meiner Erfahrung nach wird man sich dieser Urszenen erst spät bewusst, also wenn sie bereits in Texten zum Ausdruck gekommen sind, was heißt, dass sie nicht abgehakt sind, sondern im Gegenteil auf Verständnis pochen.
Mein erstes Buch, das prosalyrische Buch des Teilens (1991), handelte von meiner Freundin, die bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Viele Jahre später endete der Roman Der letzte Grieche (2009) mit einer Kollision auf der fürchterlichen Autobahn durch das Jugoslawien früherer Zeiten, an einem verregneten Sommertag in den 1970er Jahren nahe Zagreb. Es gibt mit Sicherheit irgendeine Verbindung zwischen den Ereignissen. Auch in meinem neuen Roman, Die dünnen Götter, geschieht etwas, das ein Auto auf der falschen Straßenseite betrifft. Während der Arbeit am Buch dachte ich kein einziges Mal an die Ähnlichkeiten mit früheren Werken. Erst als das Manuskript abgegeben war, stach mir die Kontinuität ins Auge. Aber auch die Entwicklung. Im ersten Buch kommt meine Freundin um, im zweiten stirbt ein kleines Kind, aber nicht die Hauptperson, und im dritten … Ich werde nicht sagen, was passiert, aber auch wenn es zu einem Unfall kommt, wohnt ihm paradoxerweise Hoffnung inne. Dreißig Jahre Schreiben haben die Urszene verwandelt. Ihre verborgenen Energien sind nicht mehr ausschließlich destruktiv.
(SVT Babel am 24. April 2022)