Menetekel
1.iii.22
Ich interessiere mich für eine Erzählung, in der bei einem älteren Paar nach Mitternacht drei Mal das Telefon klingelt. Bei den ersten beiden Gelegenheitenbittet eine junge Frau, mit einem gewissen Charlie sprechen zu dürfen. Sie muss sich verwählt haben, deshalb sagt die Frau, die an den Apparat geht, sie müsse sicher statt einer Null ein O wählen. Aber dann klingelt es ein drittes Mal … Der Leser erfährt nicht, ob es die junge Frau ist, die ihren Irrtum wiederholt – die Erzählung endet mit den Klingelzeichen – aber die Wahrscheinlichkeit ist groß. Wer sonst sollte zu dieser späten Stunden bei einem betrübten jüdisch-ukrainischen Paar im amerikanischen Exil anrufen? Außer einem Verwandten und dem Personal, das sich in der Psychiatrie, die sie tagsüber besucht haben, um ihren Sohn kümmert, kennen sie in dem neuen Land anscheinend niemanden.
Ein Forscher, der einige Mühe auf diese Erzählung verwandt hat, weist darauf hin, dass der Buchstabe O auf den Wählscheiben alter Telefone zusammen mit M und N über der Sechs steht. Es fehlt also nur ein E, damit die Buchstaben ein schicksalsschweres Anagramm bilden. Er reflektiert allerdings nicht darüber, dass der wiederholte »Fehler«, wenn es denn dieselbe Person ist, die beim letzten Mal anruft, dann das unheilverkündende 6-6-6 bilden würde.
Ich persönlich finde, die Unsicherheit, wer beim dritten Mal anruft, rettet die Erzählung. Wenn der Teufel, dessen Kunst darin besteht, alles ins Gegenteil zu verkehren und aus dem Richtigen das Falsche zu machen, seine Finger im Spiel hat, ist es ja nur folgerichtig, dass er sowohl die Frau in der Erzählung als auch deren Leser zu einem Interpretationsakt zwingt, in dem es unmöglich ist zu entscheiden, ob man in die Klingeltöne zu wenig oder zu viel hineinliest. So wirken die Zeichen – durchaus beunruhigend – jenseits des Gegebenen.
Ich kenne solche unheilvollen Omen aus der eigenen Arbeit. Auf den letzten Seiten des Romans, der gerade abgegeben wurde, fährt die Hauptperson durch das nördliche Griechenland, in Richtung der Grenze zu dem, was zu der Zeit noch FYROM genannt wird. Er ist in schlechter Verfassung. Der Körper zittert vor Anstrengung, ihm schwirrt der Kopf. Ein paar Stunden zuvor hat er spontan drei minderjährige Flüchtlinge aufgegriffen, wahrscheinlich Afghanen, die nach »Germany« wollen. Ich bin in dieser Gegend zwar schon gereist, aber als die letzten Seiten geschrieben wurden, war dies so lange her, dass ich mich nicht auf mein Gedächtnis verlassen mochte. Stattdessen fuhr ich die letzten Kilometer vor der Grenze mit Hilfe von Google Earth. Ich hielt Ausschau nach einer passenden Stelle, an der es zu dem Unfall kommen konnte, der sich ereignen musste – und fand sie in einer Unterführung etwa eine Minute Fahrstrecke vom Grenzübergang entfernt. Straßenarbeiten hindern die Gruppe daran, bis zur Passkontrolle die Autobahn zu nehmen, und als sie in den zwanzig, dreißig Meter langen Tunnel kommen, zu dem der Verkehr umgeleitet wurde, fahren sie eigentlich gegen die Einbahnstraße. Dort verliert die Hauptperson die Kontrolle über den Mietwagen, mit fatalen Folgen.
Womit ich nicht gerechnet hatte, als ich die Unterführung im Netz fand, waren jedoch die Graffiti, die auf die Betonwand gesprüht waren. Dort stand nicht nur der Name einer griechischen Fußballmannschaft mit Wurzeln in den früheren Enklaven in Kleinasien. Oder die abgekürzte Form der liberalkonservativen Partei des Landes, deren zwei Initialen überall im Land mit der drei Buchstaben längeren Kurzform der Sozialdemokraten um den Platz kämpfen. Sondern, gesprüht in schwarzer Schrift über den roten beziehungsweise blauen Schriftzeichen auch mein Name gefolgt von Super-3. Höhere Mächte wissen, ob die Angabe ein Menetekel bilden sollte. Aber angesichts der Tatsache, dass der Roman in der »Ich«-Form erzählt wird und im Auto außer der Hauptperson drei Reisende sitzen, fiel es schwer, die Schrift an der Wand nicht als Zeichen zu deuten, die ebenso ominös waren wie jemals drei Sechsen.