Als gäbe es kein Morgen

8.iv.08

Das einzige Talent, für das ich als Jugendlicher zu Recht weltberühmt war: Schule schwänzen. Als ich ins Gymnasium ging, fand man mich öfter an einem Cafétisch als an einem Schulpult. Schwer zu sagen, warum. Es wäre zu einfach zu behaupten, daß es mit hormonellen Veränderungen oder der Entdeckung zusammenhing, daß nicht nur der Himmel, sondern auch die Seele bodenlos war. Der Wahrheit näher käme, daß ein unsichtbarer Weg vom Sechzehn-, Siebzehnjährigen zu jenem grimmigen Sechsjährigen zurückführte, der von zu Hause ausriß – und vorwärts zu dem Bürokraten mittleren Alters, der ich bis vor kurzem war und der ohne weiteres einen Termin erfinden konnte, um nicht in seinem Büro sitzen zu müssen, wo von ihm erwartet wurde, im Auftrag des Heimatlandes Großes zu vollbringen, und statt dessen durch die Stadt streunte in der Hoffnung, die Knoten in einem Text zu lösen, den er noch nicht einmal begonnen hatte. In neun von zehn Fällen blieb ihm nur die Irritation, die sich einstellte, wenn er sich Stunden später, meistens ohne ein Wort zu Papier gebracht zu haben, der Wäsche, dem Kochen, dem Zähneputzen des Kindes widmete. Diese Rollen – der Ausreißer, der Schwänzer, der Abtrünnige – sind offensichtlich verschiedene Versionen des gleichen, nicht reformierbaren Bedürfnisses: seinem eigenen Kalender zu folgen.

Und trotzdem … Wie willig, wie lustvoll habe ich davon geträumt, ein Rädchen in der großen Maschinerie zu sein. O, diese Utopie, Buchhalter, Angestellter, Beamter zu werden! Ist sie nur die Kehrseite der Medaille – also der Wunsch, in Frieden gelassen zu werden, diesmal jedoch, indem man sich austauschbar macht? In manchen Situationen bietet das Soldatenleben den besten Schutz. Keiner ist so loyal wie der Rekrut, der auf den richtigen Moment zu desertieren wartet.

»Wo willst du hin?«
»Auf den stillen Ort. Bete für mich.«

Die achte Todsünde: Phantasielosigkeit.

Als sie erkannte, daß Schmeicheleien, ironisch formuliert, ihr alle Türen öffneten, konnte sie in seinem Wohlwollen nach Belieben ein- und ausgehen.

In jüngeren Jahren störte mich die Unfähigkeit der Menschen, über etwas anderes als sich selbst zu sprechen. Meine Reaktion war die des Unerfahrenen: Ich versuchte, mit einer eigenen Erkenntnis oder Leistung zu kontern. Dann ging mir ein Licht auf: Die einzige Haltung, die diesen Namen verdiente, war die Weigerung, ständig über sich selbst zu sprechen. Der Vorteil bestand nicht nur darin, daß man mehr über die Welt lernte, indem man zuhörte (letztlich nur ein Geiz, der sich als Großzügigkeit maskierte), sondern auch darin, daß das Ich andere Proportionen annahm. Vor fünfundzwanzig Jahren hätte ich es nicht für möglich gehalten, heute jedoch weiß ich, Teile von mir existieren auf der Innenseite anderer Menschen. Macht mich das schwächer, macht mich das abhängiger? Keineswegs. Überlebenstauglicher.

Feuilletonchef S. ist so auf seine Sonderstellung bedacht, daß er jede Handlung, die nicht seinetwegen ausgeführt wird, als Beleidigung auffaßt. Ich lud ihn einmal zu einem Auftritt in der Institution ein, in der ich bis vor ein paar Monaten tätig war. Eine Viertelstunde, zwanzig Minuten verbrachten wir plaudernd in meinem Büro. Dann mußte ich einen Briefumschlag zukleben. Augenblicklich erhob sich S. aus seinem Sessel und bekam etwas von einem eingesperrten Tier. Er dachte, er sei ein Löwe. Nun sah man, was er war: ein Meerschweinchen ohne Rad.

Lange quälte mich eine eigentümliche Mischung aus Schuldbewußtsein und moralischen Skrupeln. Wenn mir jemand schrieb und eine Frage stellte – und sei es nur nebenher, womöglich ohne wirkliches Interesse –, fühlte ich mich verpflichtet, auf die Sache einzugehen. Wenn ich es unterließ, konnte es mich den Schlaf kosten, was zu absurden Kraftanstrengungen führte, um die Sache nachträglich zu reparieren. Im Laufe der Zeit erkannte ich, daß dieser Wille, es allen recht zu machen, mir von außen auferlegt wurde. Im Grunde verachtete ich vielleicht sogar die Person oder empfand zumindest Widerwillen gegen die Situation, in die sie mich versetzt hatte, so daß meine Einstellung früher oder später ins Gegenteil umschlug. Ich wurde arrogant oder oberflächlich, erlaubte mir absurde Übertreibungen oder abschätzige Urteile. Was für ein Spektakel. Wer seine Ruhe haben will, tut gut daran, sich der Zerstreutheit hinzugeben. Desinteresse ist fast immer ein Kraftakt. Nur der Zerstreute weiß, daß man nicht mit den Schlüsseln zur Ruhe klimpern darf, wenn man in Frieden gelassen werden will.

Apropos des ewigen Geredes über Stil: Stil ist das, was man nicht hat, wenn man ihn verlangt.

Genuß? Ich kann nicht sagen, was das ist, nur, worin er bestehen kann. Eine Eigenschaft bleibt konstant: Die Zukunft spielt keine Rolle mehr. Die Weisheitslehren wollen uns glauben lassen, das stimme nicht. Sie behaupten, nur das Wissen um eine Zukunft, der wir selbst nicht angehören, verleihe der Gegenwart Würze. Genuß gründet sich folglich auf Endlichkeit. Entweder wir ignorieren dieses Wissen, woraufhin wir im Überschwang die Fassung verlieren (wer hätte nicht vom Schwindel gehört, der Menschen am Abend vor dem Jüngsten Gericht erfaßt?), oder wir leben danach, was heißt, daß wir uns zügeln. Ersteres ist ein Leben in seiner dekadenten Form, letzteres ein (ethisches oder ästhetisches) Projekt. Ich spreche nicht von Ausschweifung oder Kultur; ich spreche von Selbstvergessenheit mit gesteigertem Gegenwartssinn. Nur dann stellt sich das, so begehrenswerte wie erstaunliche, Gleichgewicht ein. Als gäbe es kein Morgen.

Welchen Vorteil es hat, »über eine Sache zu schlafen«, lernte ich erst spät. Immer noch überrascht es mich, daß der Trick tatsächlich funktioniert. Am Vorabend herrscht Tiefdruck im Gehirn, am nächsten Morgen ist der Himmel klar. Oder es regnet in Strömen. Wie immer das Wetter aussehen mag: Es geht weiter.

Die einzige Benimmregel, die es wert ist, befolgt zu werden: Äußere nie ein gutes Wort über dich selbst.

Vor vielen Jahren hörte ich auf, Ausrufezeichen zu benutzen. Der Einwand war banal: Ein Satz muß selbst Steigerung oder Nachdruck suggerieren können. Gleichwohl irritierten mich Sätze, die mit einem Fragezeichen enden sollten, bei denen der Verfasser es jedoch unterlassen hatte, eins zu setzen. Warum? Müßte für Fragezeichen nicht das gleiche gelten wie für Ausrufezeichen? Nicht doch. Im Gegensatz zum Ausruf ist die Frage von etwas abhängig, das der Satz selbst nicht einschließt.

Nachdem ich die Aufzeichnung eines schottischen Dichters gelesen habe, erkenne ich ein neues Problem. »Ausrufezeichen sind etwas für Hysteriker«, schreibt er. »Ellipsen etwas für die Sensiblen. Der Doppelpunkt ist für die Herrschsüchtigen.« Trotz der Zuspitzung hat er möglicherweise recht. Fragt sich nur, was ich nun mit dem Doppelpunkt anstellen soll, den ich immer gemocht habe. Die Antwort des Autors reicht doch nicht? »Bitte: Können wir entweder die gesamte Interpunktion bekommen oder gar keine …« In diesem Satz heuchelt der Besserwisser Bescheidenheit. Nur ein Fragezeichen hätte ihn gerettet. 

Also, was soll ich mit dem Doppelpunkt anfangen? Was?

Er veröffentlicht ein Buch, und der einzige Einwand der Kritiker scheint zu sein: stilistisch viel zu gut. Wenn er jongliert, heißt es, verliert er keine Bälle. Die Brillanz erweckt Anstoß. Was für schlampige Leser! Er selbst hört auf den Seiten Träume und Porzellan zerschellen. Und im übrigen: Sieht man denn nicht, daß es sich um Christbaumkugeln und Granaten, um Nervenbündel und Spüllappen handelt? Reicht das nicht aus, damit sein Buch nicht mit einem Zirkus verwechselt wird? »Bitte sehr«, denkt er, »setzt euch auf die dreibeinigen Stühle in meinem Schädel. Erwartet aber keinen Seelöwen. Oder daß ich absichtlich vorhabe, die Fassung zu verlieren.«

Aphorismen sprechen selten im Konjunktiv. Was nicht heißt, daß sie die Unsicherheit verschmähen, nur, daß sie sich die Welt selbst einrichten – und in welcher Welt ist der Schöpfer schon unsicher, ob es sie gibt? In unseren Zeiten betrachtet man diese – eher indikative, an Voraussetzungen gebundene – Eigenschaft mit Vorbehalten. Man bevorzugt das Fragment, die Notiz, die Aufzeichnung – diese Garanten des Unfertigen. Die Einstellung ist nicht unsympathisch. Auch mangelt es ihr nicht an Gespür für die Eigenart von Literatur. Aber etwas an dem Anspruch auf Unfertigkeit ist vertrackt. Wer schreibt, will als er selbst aufgefaßt werden, eine Person »mit Warzen und allem«, wie die Angelsachsen sagen. Er ist mit anderen Worten ein Mensch, der noch seliggesprochen werden muß. Dieses Bedürfnis fordert jedoch laufend mehr Platz. Wenn die Person nicht so scharfsinnig ist wie Canetti, so unterhaltend wie Lichtenberg, so zerrissen wie Cioran in seinen besten Momenten, verbraucht sie mit der Zeit allen Sauerstoff in dem Raum, den ihre Aussagen öffnen. In dieser Hinsicht ist der Aphorismus anders. Er begrenzt die Notwendigkeit einer Aussage auf ein Minimum. So kann der Leser durch die Welt streunen, die nach seinem Belieben eingerichtet wird. Der Aphorismus läßt uns den Schreibenden vergessen.

Nabokov, der sein ganzes Leben der Bekämpfung von poshlost widmete, dem von der Masse gefeierten Kitsch, war selbst nicht ganz frei von diesem Gebrechen. Um uns zu trösten, vergoldete er das Gerümpel mit solchem Gefühl für Klarheit und Komposition, daß die meisten Leser seine Kritik für bare Münze nehmen. Aber ist er nicht der Kitschigste von uns allen? Gütiger Himmel, er liefert sogar genaue Anweisungen dafür, wie die Broschen aus der Vitrine benutzt werden sollen.

Schriftsteller sagen so viel Dummes über das Schreiben. Dies gehört nicht dazu.

Wenn du über dich selbst nachdenken mußt: Solidarisiere dich wenigstens mit den Termiten im Gebälk des Ichs.

Die Vorgeschichte des Übermuts. Ein regnerischer Sonntag im Februar. Seit acht Stunden – als ich aufwachte, war es noch dunkel – schreibe ich, was mir in den Sinn kommt, gleite wie ein Fisch im Wasser durch Reflexionen, fühle mich mit nichts verbunden als mit diesem Tag. Mein Zutrauen könnte kaum größer sein. Am Nachmittag, gegen halb drei, koche ich ein Ei, streiche Butter aufs Brot. Überwältigt von diesem seltsamen Rausch der Klarheit beschließe ich die Mahlzeit mit einer Tüte Gummibärchen, die ich im Vorratsschrank finde. Sie legen sich wie ein Klumpen in meinen Magen. Der Tag endet, ehe ich es begreife.

Die Dichtung fragt: »Wer bin ich?« Das Drama: »Wer soll ich sein?« Nur der Roman sagt: »Ich bin viele.«

Das Gefühl, wenn sich ein Text noch nicht einmal vorwärtsschleppt. Zweiminütiges Blättern in den Papieren reicht, um sich stundenlangen Ausweichmanövern zu widmen (Wäsche, Putzen, Nasebohren). Achtung: der Schriftsteller bei der Arbeit.

Die Tochter, als wir uns vor dem Weg zum Kindergarten anziehen: »Hey, paß auf mit meinem Körper! Es gibt ein Skelett in meinem Körper!« Wie erreicht man das Niveau einer solchen Poesie?

Nach dreiwöchigem Wassertreten stellt sich der Rhythmus ein. Seit ein paar Tagen ignoriere ich die Mails, sehe keine Veranlassung, ausländische Zeitungen im Netz zu lesen, gucke kaum fern. Alles ist Routine geworden, mit einer Vierjährigen, die in ihrem rosa Zimmer tobt. So sicher wie das Amen in der Kirche kommt die Scheu. Telefonate, die geführt werden müssen, schiebe ich endlos auf und rasiere mich nur, wenn das Kind findet, daß ich kratze. Die Post vergesse ich im Briefkasten. Die Gespräche mit dem Vietnamesen an der Ecke reichen mir als Gesellschaft – und die Spiele im rosa Zimmer. Freundlicher Alltag, lasse den Regenbogen eine Weile noch an diesem Schreibtisch verharren.