Habseligkeiten

Prosa · Übersetzung: Kristina Maidt-Zinke · Süddeutsche Zeitung · 6. August 2005


1

Ein tickender Wecker, ein großes Federbett, eine verschwitzte Pyjamajacke, die sich hochgeschoben hatte und im Nacken Wülste bildete, wie bei einer Schildkröte – und zwei Augen, die sich nicht öffnen ließen, so tapfer er es auch versuchte. Aus der Küche hörte man das unregelmäßige Klacken von Absätzen auf dem Fliesenboden. Harte Absätze, kalter Boden. Die Großmutter. Sie schien allein zu sein. Nach den Geräuschen zu urteilen, richtete sie das Frühstück.

2

Sie waren am Tag zuvor angekommen, in einem Auto, das unter der Last des Gepäcks schwankte und dessen Rücksitz voller Legosteine war. Weil die Großmutter mit Treppen nicht mehr so gut zurechtkam, war sie am Fenster stehen geblieben, winkend, bis sie die letzte Tasche in den Hauseingang getragen hatten. Sie wohnte immer noch in der alten Wohnung im siebten Bezirk, in der seine Mutter aufgewachsen war. Während sie die Treppe hinaufstiegen, erklärte ihm die Mutter, dass die Wohnung früher nicht nur eine Familie mit drei Kindern beherbergt hatte, sondern auch ein „MODEATELIER FÜR FEINE DAMENBEKLEIDUNG“. Im dritten Stock konnte er neben der Türklingel noch den dunklen Fleck sehen, den das Messingschild hinterlassen hatte.

Sie begrüßten die Nachbarin, die am Küchentisch saß und ihm, noch bevor sie sich seinen Eltern zuwandte, eine längliche, in Glanzpapier eingewickelte Schachtel überreichte. Dann zeigte Omi ihnen, wo sie schlafen sollten. Die Wohnungseinrichtung hatte etwas Geheimnisvolles, so als wüsste sie etwas über ihn, das er selbst noch nicht kannte. Das Päckchen enthielt dünne Schokoladetäfelchen, die staubten und sich nicht auflösen wollten, als er sie sich auf die Zunge legte, wie dunkle Oblaten. Er schluckte tapfer, aber die Tränen stiegen ihm in die Augen. Omi gab ihm ein Glas Milch. Die Schokolade hinterließ eine schlierige Spur, als er die Milch in den Ausguss spuckte. Er beschloss, auf Entdeckungstour zu gehen, sobald Frau Groddek sich verabschiedet hatte.

Die braunlederne Sitzgruppe, der glänzende Flügel mit seinen kleinen goldenen Füßen, eleganter als das Schuhwerk einer Konkubine, das knarrende Parkett, die Kachelöfen, die so gut dufteten, und das Wasser aus dem Hahn, das kälter war, als er sich kaltes Wasser je hätte vorstellen können – alles brütete eine rätselhafte Bedeutung aus, als er am selben Nachmittag seine Erkundungsreise unternahm. Die Sofagruppe neben den Hortensien und dem schlaffen Gummibaum verwandelte sich in ein handliches Afrika mit Festland und zwei Inseln, die er aus irgendeinem Grund „Mammabaskar“ und „Kanarisinsel“ taufte. Mit Hilfe einer Wolldecke und des elterlichen Federbetts wurde der Flügel zur Höhle, möbliert mit Stühlen aus Nietzsches gesammelten Werken und einem Tisch aus Tagores Dichtungen. Die Stein- und Muschelsammlung im Vorraum war die perfekte Wildnis, denn dort flimmerte die erbarmungslose Sonne einer nackten Glühbirne über einer prähistorischen Landschaft. Und auf der Toilette draußen in der Diele war ein naturgetreuer Nordpol samt weißgekacheltem Iglu und gurgelndem Geysir untergebracht.

Aber der Forschungsreisende auf Wollsocken, der den Gehstock einer älteren Dame in der Hand hielt und den verborgenen Mittelpunkt dieser Welt finden wollte, erkannte bald, dass er woanders suchen musste. In dem Raum, der einst das Herrenzimmer gewesen war und noch immer so hieß, stand ein respektgebietender Schreibtisch mit Schubladen, in denen er ständig neue Schätze entdeckte: Messingdosen, die ausländische Münzen aus Zinn und schwarze Knöpfe mit Fadenresten enthielten, kaputte Füllfederhalter, Büroklammern in langen Ketten, steinharte Radiergummis und Bernsteinbrocken, die sich ihren Glanz nur entlocken ließen, wenn er sie mit Spucke und Pulloverzipfel polierte. An der Rückenlehne des Schreibtischstuhls verknotete er das Ende eines Garnknäuels, dessen Faden er kreuz und quer durch das Zimmer laufen ließ und an Tür– oder Fensterklinken befestigte, um ein Bein des Flügels oder um ein Sofakissen wickelte. Danach konnten ferne Kontinente über orangefarbene Telegrafendrähte miteinander Kontakt aufnehmen. Und hinter den Glastüren des Bücherschranks lebte Großvaters Privatbibliothek in ungestörter Ruhe weiter. Nur ein paar von den Zeichnungen, die er der Großmutter geschickt hatte, im Austausch gegen Fehlersuchbilder, die sie für ihn aus der Abendzeitung ausschnitt, hatten die Ehre, den Büchern Gesellschaft zu leisten. Leicht, geradezu unbekümmert ruhten sie auf den schweren Leinenbänden mit ihrem vergoldeten Blattschnitt und ihren in Frakturschrift geprägten Rücken, die so ernst aussahen, wie nur deutsche Bücher es können.

Dennoch hätte kein minderjähriger Entdecker das dunkle Herz des Daseins in diesem Zimmer gefunden, wo nach wie vor die meisten Angelegenheiten des täglichen Lebens erörtert wurden. Erst als er sich ins innerste Gemach vorwagte, in Omis Schlafzimmer, begegnete er dem wahren Herrscher der Wohnung. Der finstere Raum roch nach Anis und Mottenkugeln und alter Frau. Über einer Stuhllehne lag ein Paar lebloser brauner Nylonstrümpfe, dünn wie die Flossen von Aquarienfischen, an der Wand lehnte eine Krücke. Früher hatte das Zimmer als Schneiderwerkstatt gedient – und dort, in der dunkelsten Ecke, neben der Nähmaschine, die ihn an eine mechanische Spinne erinnerte und ihn deshalb zugleich ängstigte und faszinierte, sah er die Schneiderpuppe.

Ihr ausgestopfter Oberkörper war mit dunkelbraunem Leinen bezogen und auf ein Holzgestell montiert, das mit einem Fuß aus Metall verschraubt war. Arme, Beine und Kopf fehlten, aber die weichen Hüften, die grazilen Schultern und die eleganten Wölbungen in Brusthöhe verrieten, dass es sich nur um eine Frau handeln konnte. Wenn er mit dem Hut, den er auf einem Stapel Schuhkartons gefunden hatte, sorgfältig genug zielte, segelte er durch die Luft, über das Bett und in den Winkel – wo er am abgehackten Hals der Puppe abprallte und zu Boden fiel. Bevor er den Hut aufhob, konnte er es nicht lassen, die Handflächen gegen den Rumpf der Puppe zu pressen. Unter dem Stoff fühlte er unzählige Hohlräume. Er drückte den Zeigefinger in eine der Ausbuchtungen und dachte, sie sei wie ein Nabel. Ja, hier war der Ursprung der Welt.

3

Während der Nacht musste der Sandmann ihm die Augen zugemauert haben. So sehr er es auch versuchte, er konnte sie nicht öffnen. Jetzt lag er im Bett der Eltern und drückte vorsichtig die Finger gegen die Verhärtungen. Er versuchte, mit einem Fingernagel ein wenig von dem Belag abzukratzen, aber es tat zu weh. Langsam fühlte er Panik in seiner Brust aufsteigen. Wenn er nun nie wieder sehen könnte! Als er die Hand ausstreckte und in der leeren Luft herumtastete, entschied er sich jedoch, nicht zu rufen. Es würde ihn ohnehin niemand hören. Jetzt war ihm klar, dass über Nacht Umwälzungen stattgefunden hatten.

„Heissi.“ Er spürte, wie die Großmutter sich auf die Bettkante setzte. „Was ist los?“

„Meine Augen. Ich bin blind.“

„Hm.“ Omi drückte ihre kühlen Fingerspitzen auf seine Augenlider. „Hm.“ Die Fingerspitzen, weich und fest zugleich, wanderten bis zur Stirn hinauf. Im nächsten Moment fühlte er Großmutters ganze Handfläche. „Hm“, wiederholte sie, als er fragte, wo denn seine Eltern seien. Sie stand auf und verließ das Zimmer, ohne auf die Frage zu antworten. Er hörte sie in der Küche den Wasserhahn aufdrehen, dann am Herd klappern. Als sie einige Minuten später zurückkam, erklärte sie: „Die Fußkranke führt den Blinden. Meine Hände müssen deine Augen sein. Hier. Und hier.“ Sie half ihm, die Füße in ein Paar viel zu große Filzpantoffeln zu stecken. Als sie ihn in die Küche geführt hatte, rückte sie einen Stuhl zurecht, bat ihn, Platz zu nehmen und sich über den Tisch zu beugen, und legte ihm ein Handtuch über den Kopf. Brühheiße Dämpfe schlugen ihm entgegen. Es roch nach Pfefferminz und etwas anderem, vielleicht Kamille.

Leise begann die Großmutter, von der Schneiderpuppe zu erzählen. Als im letzten Kriegsjahr die Bombenangriffe zugenommen hätten, erklärte sie, sei sie mit den Kindern und ihrem Nähzeug hinaus aufs Land gefahren. In einem Dorf, das ein paar Stunden Zugfahrt von der Hauptstadt entfernt lag, mieteten sie sich auf einem Bauernhof ein. Großvater, der damals schon krank war, blieb in der Stadt zurück und tat, was er konnte, um sie mit Geld zu versorgen. „Die Schneiderpuppe stand in unserer Wohnung am Fenster. Am 20. April ließ ich die Kinder zum ersten Mal allein. Frau Groddek war bei uns zu Besuch gewesen und hatte ihre Strickjacke vergessen. Ich nahm den Zug zum nächstgrößeren Ort, und ich wusste, dass ich dort einige Stunden auf den Anschluss zur Stadt warten musste. Konrad sollte auf die Mädchen aufpassen.“

Während Großmutter fort war, kamen deutsche Truppen im Dorf an, auf dem Rückmarsch von der Front. Die Ortsgruppenleitung hatte auf dem Sportplatz Bänke aufgestellt und Fahnen gehisst. Gegen Abend wollte man den Geburtstag des Führers feiern. Die Kinder hatten darüber diskutiert, ob sie hingehen sollten oder nicht. Konrad wollte gehen, aber die Mutter hatte es verboten. Schließlich einigten sich die Kinder, dass sie zum Sportplatz gehen, aber Omi nichts davon sagen würden. Sie waren kaum dort angekommen, jeder mit einem Becher in der Hand (alle Kinder sollten zu heißer Schokolade und Kasperletheater eingeladen werden), als man ein Grollen über den Baumwipfeln hörte. Im nächsten Moment tauchten die ersten russischen Flugzeuge auf. In aller Eile wurde die Festlichkeit abgebrochen. Frauen und Kinder erhielten die Anordnung, sich im Wald zu verstecken, die Soldaten gingen in Verteidigungsstellung. Dann brach die Hölle los.

Mehrere Stunden war seine Mutter herumgeirrt, mit Edith an einer Hand und ihrem Becher in der anderen. Wohin es Konrad verschlagen hatte, wussten sie nicht. Schließlich sahen sie etwas Rotes zwischen den Bäumen. Es war eine Frau aus dem Dorf, die sich unter einer entwurzelten Fichte versteckt hatte. Sie nahm sich der Kinder an. Erst bei Einbruch der Nacht wagten die drei, zum Dorf zurückzuwandern. Dort stand alles in Flammen. Als seine Mutter und Edith heimgefunden hatten, stellte sich heraus: Ihr Haus war als einziges in der Nachbarschaft stehen geblieben. Im zweiten Stock fanden sie den Bruder, der sich in eine Ecke verkrochen hatte und weinte, als ob er nie wieder aufhören wollte. Überall lagen Mörtelbrocken und Glasscherben. Die Möbel waren umgestürzt und beschädigt. In der Küchenwand gähnte ein großes Loch, durch das man sehen konnte, wie die Hühner unten im Hof herumirrten.

„All unsere Habseligkeiten waren zerstört. Nur die Puppe war heil geblieben. Während des Bombenangriffs hatte sie die ganze Zeit am Fenster gestanden. Erst als wir am nächsten Morgen aufräumten, entdeckte Lily die Einschusslöcher.“

Mit verschnupfter Nase wollte er wissen, was das sei, „Habseligkeiten“. Die Großmutter goss heißes Wasser nach und erklärte, das seien selige Dinge – wie eben die Puppe im Schlafzimmer. Sie erinnerten einen daran, was man verloren hatte.

„Aber du hast doch das alles“, protestierte er, hob schniefend die Hand über seinen verhüllten Kopf und deutete vage in alle Richtungen.

„Nichts, was mich daran erinnert, wie ich meine Zuversicht verloren habe.“

4

Je länger die Großmutter redete, desto mehr vom Mörtel des Schlafs löste sich in den Dämpfen auf. Bald konnte er wieder sehen. Er warf das Handtuch von sich und lief ins Schlafzimmer. Einen Augenblick blieb er auf der Schwelle stehen, zögernd, unsicher, obwohl er schon wusste, was er tun würde. Dann ging er auf die Schneiderpuppe zu und umarmte sie. Nach dem Dampfbad brauchte er nicht mehr die Zähne zusammenzubeißen.