Ein zweiter Morgen

Antrittsrede · Akademie der Künste, Berlin · 2. Dezember 2022


Ich bin nur einmal in meinem Leben auf einen Schatz gestoßen. In Berlin.

Drei Besuche waren erforderlich, bevor es geschah. Das erste Mal war ich noch Teenager. Nach einer schlaflosen Reise gegen Ende der bleiernen Zeit entstieg ich dem Zug am Bahnhof Zoo. Als halbwüchsiger Nachtschwärmer wollte ich, böse berliner Blumen zu Sträußen zu binden, wenn auch mit dem Unkraut der Unbeholfenheit verziert. Ein Freund lebte seit ein paar Wochen in einer Mietbaracke im Norden. Sein Zimmer erwies sich jedoch als so klein, dass ich nur im Stehen hätte schlafen können, weshalb ich zu einem griechischen Bekannten zog, der im Botanischen Garten arbeitete. Das Labor, in dem ich mich einrichtete, war mit Pflanzen gefüllt, die pausenlos besprüht wurden. Nach ein paar Nächten auf der dauerfeuchten Couch, in Decken eingehüllt wie zur Balsamierung, wachte ich frostgeschüttelt auf. Das Einzige, was ich während des bald danach abgebrochenen Besuchs festzuhalten vermochte, waren die Namen der Gewächse. (Weder boshafte, noch blaue Blumen darunter.) Und dass der Himmel über Berlin einen Schleier aus Braunkohle trug.

Der zweite Besuch erfolgte zehn Jahre später, kurz nach dem Mauerfall. Diesmal kam ich besser gerüstet. Ich hatte aufgehört Hymne an die städtische Nacht zu schreiben, aber im Gepäck war alles, was zum Überleben als Deuter von deutscher Lyrik erforderlich war: Wärmflasche, lange Unterhosen, Heinrich Lausbergs Handbuch der literarischen Rhetorik. Außerdem hatte ich eine Freundin, die die Vorgeschichte der Kommunistischen Partei erforschte. Während sie ihre Tage in den beheizten Räumen des Zentralarchivs verbrachte, lag ich mit abgeschnittenen Fäustlingen unter doppelten Decken, vergnügt überrascht, dass es Fortschritte bei der Arbeit geben konnte. Die Verkabelung in der Wohnung war allerdings so heimtückisch, dass der Heizkörper, den wir auf dem Polenmarkt beschafft hatten, nach einer Stunde spröder Hitze zu rauchen anfing. Täglich rechnete ich mit einer ähnlichen Rauchentwicklung am Computer und schrieb daher schneller, als es der bedächtigte Lausberg für meine Überlegungen wohl gutgeheißen hätte.

Kurz vor Weihnachten fuhr meine Freundin zu ihrer Familie in Schottland. Das Archiv war geschlossen, die Wohnung zu kalt. Heiligabend verbrachte ich allein vor dem Ofen. Das Türchen war kleiner als ein A4-Blatt, aber die Hitze höllisch – offensichtlich wurde die Sonne in einer Zelle aus Gusseisen festgehalten. Die Körperteile, die es mir vor der Öffnung zu platzieren gelang, bekamen eine halbe Minute Hitze ab. Wenn ich die Position wendig genug veränderte, verbrannte ich mich nicht. Einen Tag später fuhr auch ich zu meiner Familie. Berlin gab immer noch ihr Bestes, um mich kaltzustellen.

Im Botanischen Garten hatte ich mich wie eine Mumie gefühlt, ohne Sinn für Flora oder Selbstentfaltung. Vor der Ofentür im Winzviertel wurde mir klar, dass die »heilige, unaussprechliche, geheimnisvolle Nacht«, von der Novalis einst dichtete, möglicherweise unsäglich bleiben würde, aber weder heilig noch geheimnisvoll vorkam. Zwei Aufenthalte, einmal im Westen, einmal im Osten, und trotzdem zwei geplatze Träume. Nach dem Abschied von der Lyrik, und später auch von der Literaturwissenschaft, blieb mir beim dritten Besuch ein paar Jahre darauf nur ein Traum noch übrig: Romane zu schreiben.

Aus Gründen, die mit einer neuen Liebe zu tun hatten, verbrachte ich diesmal eine Woche im Monat auf der anderen Seite des Atlantiks. Die meiste Zeit lag ich daher mit Jetlag in der Wohnung, die ich an einer der Hauptadern der soeben wiedervereinten Stadt gefunden hatte, in einem Hinterhaus, das zu Vorder-Dito befördert worden war, weil das eigentliche Gebäude bombardiert und nicht wieder aufgebaut werden konnte. Bald erkannte ich die Vorteile. Nein, »Vorteile« ist ein zu mildes Wort. Ich erlebte eine riessige und dennoch zurückhaltende Freude aufzuwachen, wenn andere es nicht taten. Vielleicht weil ich zu denen gehöre, deren Gehirne nur gleich nach dem Schlaf halbwegs arbeitstauglich sind. Nun passierte dies zunächst morgens gegen halb fünf, als die Durchgangsstraße, die damals noch Wilhelm-Pieck-Straße hieß, so selbstverloren und idyllisch lag, als verliefe sie durch einen Märchenwald. Dann nach dem wirren Nickerchen um die Mittagszeit – erneut gegen halb fünf, diesmal am Nachmittag. So lernte ich, dass Berlin Gehirnen von meiner Sorte doch einen zweiten Morgen anbot.

Bei diesem dritten Aufenthalt war ich auf die Kälte vorbereitet. Die Männer, die Briketts lieferten, die ich sicherheitshalber schon Anfang September bestellte, erklärten, dass sie nicht vorhätten, die Ladung bis zur Wohnung hoch zu tragen. Es gab doch einen Kohlenkeller, oder? Unsicher zuckte ich mit den Schultern.

Der am wenigsten betrunkenen Mann identifizierte eine Tür im Hof; zusammen stiegen wir nach unten. Jeder Kellerraum war mit einem Vorhängeschloss versehen, ein sichtlich unheilbringender Gang führte jedoch weiter. »Keene Angst«, versicherte der Kohlenträger und setzte torkelnd fort, eine Kurve nach der anderen. Schließlich fanden wir in einem Winkel, der so fern war, dass ich annahm, wir hätten das Grundstück, auf dem das Haus stand, verlassen, die Durchgangsstraße überquert und die Querstraße auf der anderen Seite betreten, einen offenen Lagerraum. Der Mann riss die Tür auf. Und dort, im Licht der Glühbirne im Gang, leuchtete matt und – zugegeben – etwas modrig der Schatz. Die fünf, vielleicht auch zehn Tonnen Briketts, die jemand anno dazumal vergessen haben musste, waren von der Marke Rekord – was im sozialistischen Deutschland Goldbarren am nächsten kam, glaube ich. »Jut. Det war’s.« Das Grinsen des Kohlenträgers war um einige Watt heller als die Glühbirne. Ich sah sogar seine Plomben.

In jenem Winter stieg ich regelmäßig in die Unterwelt hinab. Zum ersten Mal fühlte ich mich auf Augenhöhe mit der Stadt. Da ich einen klugen Umgang mit den Briketts nie lernte, waren Möbel und Kleider und Papiere schnell verrußt. Aber das bestätigte bloß den Verdacht, den ich bei einem der zwei wachsten Köpfe Berlins fand: »Es träumt sich nicht mehr recht von der blauen Blume. Wer heut als Heinrich von Ofterdingen erwacht, muss verschlafen haben.« Wie für Walter Benjamin vor dem Krieg galt für Träumer, die nach ihm schreiben wollten, das Gegenteil: »Der Traum eröffnet nicht mehr eine blaue Ferne. Er ist grau geworden. Die graue Staubschicht auf den Dingen ist sein bestes Teil.«

Es dauerte noch eine Weile, und klingt ungewollt blumig, aber in einem Berliner Hinterhaus ging mein Traum in Erfüllung. Ich verfügte über einem braun-schwarzen Schatz und doppelt so viele Vormittage wie die übrigen Bewohner. Seither kann ich nicht an die Wärme denken, die das Einzige ist, was ein Gehirn alternativlos braucht, um zu funktionieren, ohne an jenen willkommenen Jetlag zu denken, nicht an den kaputten Tagesrhythmus, ohne die verheißungsvolle Braunkohle zu riechen.

Das Haus, in dem ich damals wohnte, lag übrigens in der direkten Verlängerung der Querstraße, die nach dem zweiten der beiden klügsten Köpfe der Weimarer Republik benannt worden ist – dem Mann, der 1929 floh und nur sechs Jahre später in meiner Geburtsstadt sein Leben beendete. Vor hundert Jahren stellte der in Göteborg verstorbene Kurt Tucholsky klar: »Gebt den Leuten mehr Schlaf – und sie werden wacher sein, wenn sie wach sind.« Ich kann nicht versichern, dass es mir gelingen wird, diesem Ideal gerecht zu werden. Aber ich verspreche, ich werde nicht einschlafen. Nicht hier, nicht in Ihrer wacheren Gesellschaft.

Ich danke Ihnen sehr für die Aufnahme in Ihren Kreis.