Ein schlechtes Herz
Erzählung · Übersetzung: Paul Berf · 17. Freiburger Literaturgespräch · 2003, S. 22–25
Nachher schlief sie immer leicht und traumlos, als wäre sie aus Luft. Er lag zumeist hinter ihr, ein weiches, massives Volumen mit einem Arm um ihre Taille und dem Mund warm im Nacken. Dieser Nachmittag auf dem Sofa aus Kunstleder bildete da keine Ausnahme. Doch aus irgendeinem Grund konnte sie die Augen nicht schließen.
Wie üblich hatten sie sich nach dem Mittagessen getroffen. Inzwischen waren einige Stunden vergangen und die Sonne verschwand allmählich hinter dem Gewirr aus Fernsehantennen auf dem Nachbarhaus. Der Tag war auf dem Weg ins laue Halbdunkel, das ihrethalben ewig währen durfte. Die weißen Florgardinen bewegten sich träge und schwer, als atmete ein stiller Gott hinter ihnen. Doch der Körper wollte nicht leicht werden, die Gedanken sich nicht in Luft auflösen. Sie neigte den Kopf und betrachtete das kleine braune Loch, das eine seiner unvorsichtigen Zigaretten in die Gardine gebrannt hatte. Ein ausgefranster Lichtstrahl fiel hindurch, eine keimende Verwirrung in der perfekten Stille des Staubs. Ihre Haare, vor Stunden toupiert und gesprayt, waren verschwitzt, und sie spürte, dass sie durch die Feuchtigkeit ihre Form verloren hatten. Noch war er in ihr, glatt und geschmeidig, wie ein Segen. Aber sie wusste, schon bald musste sie sich an ihn pressen, wenn sie sicher bleiben wollte.
„Setzen Sie sich“, hatte er bei ihrer Einstellung vor einem halben Jahr gesagt, mit der unvermeidlichen Zigarette gewedelt und sich auf seinen Stuhl zurücksinken lassen, während die Rauchkringel letzte ungeduldige Wirbel beschrieben. Sein Hemd war weiß und gestärkt gewesen und der Schlips – ein schwarzer, ausgerollter Schnürsenkel – hatte im Flattern des knarrenden Ventilators gezittert. Anschließend war er mit der Hand durch die zurückgekämmten Haare gefahren und hatte seine Zähne entblößt. Sie war zählend beim dritten Goldzahn angelangt, ehe sie mit sich wettete: ‚Zwei Wochen. Dann liegen wir da.‘
Es dauerte vier Tage und beim ersten Mal standen sie. Kurz vor dem Mittagessen hatte er die übrigen Angestellten nach Hause geschickt und bei dem Büro angeklopft, in dem sie hinter einem Aktenberg saß. Während er die kleinen Tassen mit erstarrtem Kaffeesatz einsammelte, hatte er gesagt, später würden ein paar Freunde kommen (man spielte einmal in der Woche Karten), und hinzugefügt, sie könne gehen, sobald sie mit den Frachtbriefen des Vormonats fertig sei. Doch statt nun selber zu gehen, hatte er die Tassen abgestellt und die schwere Uhr herabgeschüttelt, indem er die erhobene Hand drehte, als hätte er Engel aus der Neonröhre an der Decke herabrufen wollen. „Kommen Sie“, hatte er gesagt und seine Zigarette so hastig ausgedrückt, dass sie in der Mitte brach. „Vielleicht gibt es etwas Passendes für das Wochenende.“ Es war kurz vor Pfingsten gewesen und als sie ihm ins Lager gefolgt war, begriff sie, ihre Wette hatte sie verloren.
Das erste Mal war kurz und nicht sonderlich zärtlich gewesen, eine Verblüffung lang. Sie hatte sich mit dem Rücken gegen einen der Kleiderständer gelehnt, sich an zwei dünnen Bügeln fest gehalten und versucht, ihm mit Strumpfhose und Slip an den Knöcheln zu begegnen. Als sie nachher ihren Rock glatt strich, war er bereits damit beschäftigt gewesen, die Kleidungsstücke aufzusammeln, die heruntergefallen waren. Er hatte die Hemden über die Kleiderstange gelegt und ohne sie anzusehen erklärt, sie könne sich eine der Rayonblusen nehmen. Anschließend hatte er sich eine neue Zigarette angesteckt, war sich mit der Zunge über seine Goldzähne gefahren und hatte gefragt, ob sie sich nicht ein wenig besser kennen lernen könnten. Um Zeit zu gewinnen hatte sie versucht, die Bügel wieder gerade zu biegen. Als sie das krumme Resultat hochhielt, mussten sie beide lachen, und in dem Moment hatte sie verstanden, dass sie gegen seinen Vorschlag nichts einzuwenden hatte.
Beim zweiten Mal hatte er gesessen, beim dritten Mal auch, aber vom vierten Mal an hatten sie beide gelegen. Einen Monat später konnte sie sich ein Leben ohne ihre Nachmittage eine Etage höher nicht mehr vorstellen. Der Lauf der Sonne hinter den Gardinen, die atmeten, die Ikone mit dem rußigen Docht in einem Trinkglas mit Öl und das Foto von einem der Obristen an der gegenüberliegenden Wand, das als Pfeilzielscheibe benutzt worden war, dann der Stuhl, den er stets vor die Tür stellte … Ihre Welt bestand aus vier Wänden, war jedoch weiter als jeder Himmel.
Auf der zweiten Herbstreise in den Norden – mit jeder Kollektion, die sie verkaufen konnten, war er immer großzügiger geworden, während sie immer weniger gegessen hatte – breitete er die Arme aus und meinte, es sei an der Zeit, etwas an der „Situation“ zu verändern. Anfangs hatte sie ihn missverstanden, doch als sie erkannte, was er meinte, hatte sie gespürt, wie sich Wärme in Leisten und Achseln ausbreitete; ihr Herz war vor Freude fast wild geworden. Am Abend hatte er mehrere Telefonate geführt. Als sie sich vor dem Spiegel zurechtmachte, hatte er jedoch angeklopft, sich auf den Rand der Badewanne gesetzt und mit harten, schwarzen Augen gesagt, wie schwierig alles war. Sie hatten sich geliebt, schweigend und erbärmlich, und als sie am folgenden Morgen aufwachte, tat ihr der ganze Körper weh. Sie nahm den 12-Uhr-Zug nach Hause.
Als er einige Tage später zurückkehrte, waren sie stillschweigend dazu übergegangen, sich einmal in der Woche zu treffen, immer donnerstags, und sie hätte diese Begegnungen als eine Art Sitzung betrachtet, wenn er nicht darauf beharrt hätte, über die Zukunft sprechen zu wollen. Jedes Mal hatte sie einen tapferen Finger auf seine Lippen gepresst, als wollte sie sagen, Worte seien nicht nötig, was ihn in einen hungrigen Mund und unerwartete Händen verwandelt hatte. Am Ende war in ihr dennoch etwas gestorben. Alles ging in ihn, nichts kehrte mehr zu ihr zurück. Als sie an diesem späten Nachmittag im November 1972 nicht einschlafen konnte, begriff sie, dass sie sich schon entschieden hatte.
„Weißt du“, sagte sie, unerwartet laut, während sie den trägen Staub betrachtete, der in den Lichtstrahlen rotierte. Eine Weile hatte sie versucht, mit dem Blick einem bestimmten Partikel zu folgen – still, fast lethargisch hatte er sich aus dem Licht bewegt, in die grobe Dunkelheit hinein. Als sie ihn nun aus den Augen verlor, drehte sie sich auf dem jammernden Sofa um und stieß ihn in die Seite. „Weißt du“, sagte sie und senkte die Stimme, „ich kann so nicht …“ Schlief er etwa wirklich? Erneut versetzte sie ihm einen Stoß – diesmal etwas unsanfter, so dass man das Kreuz durch die gekräuselten Haare auf seiner Brust leise rascheln hörte. „Ich kann so nicht weitermachen, habe ich gesagt. Und im Übrigen …“
Es dauerte ein paar Augenblicke, bis sie verstand, dass er nicht die Absicht hatte zu antworten, weitere, bis sie erkannte, dass er aufgehört hatte zu atmen. Eine halbe Stunde später erklärten die Rettungssanitäter, Stavros Fioretos, 48 Jahre alt und Kleiderfabrikant aus Athen, sei an einem Herzinfarkt gestorben.