Biologie der Literatur

Essay · Originaltitel: »Litteraturens biologi« · Übersetzung: Paul Berf · Frau und Hund · 2007, No. 11, S. 179–223


Das dritte Leseorgan

Lange bereitete mir die Literatur Kopfzerbrechen. Oder besser gesagt: Ich fühlte mich von einer bestimmten Frage bedrängt. Wahrscheinlich war sie banal, da sie weder Stil noch Relevanz, weder technische Aspekte noch thematische berührte. Aber sie brachte mich in Verlegenheit und mit der Zeit griff meine Unsicherheit auch auf Ansichten über, die unerschütterlich schienen. Die Frage betraf den Körper. In ihrer einfachsten und, so meine Vermutung, eingeschränktesten Form lautete sie: Hatte die Literatur eine biologische Bedeutung?

Damals war ich zwanzig und ein paar Jahre alt und nahm nur Bücher wichtiger als mich selbst. Die Unsicherheit, die ich im praktischen Umgang mit Texten erleben konnte, eigenen oder von anderen, suchte ich mit theoretischem Zement zu armieren. Um meinen Grübeleien ein Ende zu setzen, nahm ich deshalb an, Leser, die eine packende Geschichte schätzten, gezeichnet in satten Farben und mit einer reichen Personengalerie versehen, würden die Frage ohne größere Bedenken mit Ja beantworten, mit den Schultern zucken und zum Buch in ihren Händen zurückkehren. Als Literaturliebhaber wussten sie ja, dass es Bücher gab, die man wie geliehene Paradiese betreten konnte, Schriften, die einen in solch ungewöhnlichem Maße ergriffen, dass das Herz begann, in einem anderen Takt zu schlagen. Von Lesern, die klar durchdachte Überlegungen auf dem Schauplatz der Seele bevorzugten, erwartete ich eher ein vorsichtiges Nein. Wie ich waren sie wohl unsicher, ob die Biologie den richtigen Rahmen bot, um eine Kunstform zu verstehen, der es trotz allem an der Greifbarkeit von Körpern fehlte. Für die einen waren Lust und Identifikationsmöglichkeiten entscheidend, für die anderen List und taktische Fremdheit. Wo erstere sich willig von der Welt absorbieren ließen, die das Buch offenbarte, bevorzugten letztere, auf Distanz zu gehen, erpicht darauf zu sehen, wie ein Bewusstsein als Text inszeniert wurde. Kurzum: Ich nahm an, man las entweder mit Herz oder Hirn.

Ich selber bezweifelte nicht, welche Lesart ich vorzog, obwohl ich mit keinem dieser Organe auf besonders gutem Fuß stand. Sobald ich mich dabei ertappte, in einem Buch zu versinken, schrillte am Rande des Bewusstseins ein Wecker. Zeit aufzuwachen aus dem lustvollen, aber gedankenlosen Schlummer! Zeit, sein kritisches Urteilsvermögen zu nutzen! Wenn ich andererseits einen Roman mit all der List las, zu der ich mich fähig glaubte, auf der Jagd nach dem verborgenen Mechanismus, der den Text lebendig machte, kam mir früher oder später der Verdacht, dass gerade meine penible Wachheit den Grund für die Attraktion davon abhielt, deutlich zu werden. Schwankend zwischen Einfühlung und Reflexion, Teilnahme und Überblick, fand ich nur in Ausnahmefällen zur ersehnten Balance.

Mit der Zeit begriff ich, dass an einer Auffassung von Literatur, die nur zwei Arten des Lesens zuließ, suspekt sein musste. Dennoch gestand ich mir erst viele Jahre später meine eigene Scheinheiligkeit ein. Denn natürlich war mir bewusst, dass es möglich war, mit mehr als zwei Organen zu lesen; nur, dass man ungern über die Sache sprach. Wie so viele andere, die den Verlockungen der Literatur in jungen Jahren erlegen waren, wusste auch ich, dass es Bücher gab, die Teile der eigenen Biologie beeinflussten, die nicht auf der oberen Spielfeldhälfte des Körpers heimisch waren. Ganz gleich, was man von diesen „schmutzigen“ oder „verbotenen“ Schriften hält. Vielleicht bildeten sie eine Sektion des Bücherbestands, von der Bibliothekare am liebsten nichts wissen wollten. Aber nur, weil sie in Giftschränken oder unter Matratzen verwahrt wurden, konnte man doch nicht davon absehen, wie der Körper in Anspruch genommen wurde, wenn man sie las?

Ursprünglich war es Der Pate gewesen, der mir gezeigt hatte, dass ich ein drittes Leseorgan besaß. Als Zwölf- oder Dreizehnjähriger las ich einige Seiten am Anfang von Mario Puzos Roman so oft, dass das Buch automatisch genau bei der Stelle aufgeschlagen wurde, an der sich eine Brautjungfer während laufender Mafiahochzeit rittlings auf Sonny Corleone niederlässt. Der Autor widmete sich keinen stilvollen Umschreibungen und für den jungen Leser war dieser Mangel an Schüchternheit irrsinnig interessant. Doch mit der Zeit bekam die Szene – die sich im Verborgenen abspielte, während die übrigen Hochzeitsgäste im Garten Prosecco tranken und Cannoli aßen – eine andere, dauerhaftere Bedeutung. Statt wie zunächst jemandem, der zu jung war, um den Playboy zu kaufen, halbliterarische Pornographie zu bieten, wurde sie stellvertretend für eine Literatur, die, ohne eigentlich erotisch zu sein, Seiten enthielt, die unerwartete Teile meiner Biologie zum Leben erweckten. Erinnerte der verstohlene Akt, dem sich Sonny und die Brautjungfer hingaben, nicht an jenen, in den ich selber gerade verwickelt war, im Wohnzimmer auf der Couch liegend, das aufgeschlagene Buch auf dem Schoß, während die übrigen Familienmitglieder in der Küche nichtsahnend das Abendessen vorbereiteten? Immer mehr bekam der Umgang mit Literatur etwas Verstohlenes, und schon bald war es schwer – nein, unmöglich –, davon abzusehen, dass das Lesen eine asoziale, oftmals ziemlich unsittliche Angelegenheit war.

Zwar blieb unklar, ob sich sagen ließ, dass ich als Leser in den Text eindrang oder ob es nicht im Gegenteil er war, der sich, well, rittlings auf meinen Gedanken niederließ. (Ich war ein Teenager und subtilere metaphorische Alternativen kamen kaum in Frage.) Außerdem sollte es noch dauern, bis ich Zugang zu einem kritischen Vokabular bekam, das die Ähnlichkeit zu beschreiben vermochte, die ich entdeckt zu haben meinte. Intuitiv hatte ich jedoch eine allegorische Perspektive wahrgenommen, aus der Les- und Geschlechtsakt ungeahnte Parallelen aufwiesen. Bestimmt war die Frage, wer was mit wem machte, weniger wichtig als die Tatsache, dass auch erstgenannter Akt seinen verborgenen Reiz hatte. Plötzlich erkannte ich, dass es Aspekte an Büchern gab – sogenannte „Stellen“ – die Grund genug waren, um sie zu lesen, und es dauerte nicht lange, bis ich alles auslieh, was es in der Schulbibliothek von Lawrence Durrell gab. Der Schulkamerad, der mich auf Der Pate aufmerksam gemacht hatte, behauptete nämlich, ein gewisser Lawrence habe eine skandalöse Schrift über eine englische Lady und ihren Liebhaber verfasst. In den folgenden Wochen flog mein Blick über die Seiten von Justine, Balthazar, Mountolive und Clea, immer auf der Jagd nach Passagen, in denen es heiß herging. Aber es fiel mir schwer, der Handlung und den Figuren zu folgen, und ich fand auch nicht unbedingt, dass die protzige Prosa die Stellen aufwog, die ich ab und an lokalisierte – entlegene Orte, an denen der Text endlich seine flotte Ausstattung ablegte, sich entblößte und zur Sache kam. Als mir schließlich die Verwechslung aufging – viele Jahre später, auf dem Gymnasium – war es zu spät: Ich hatte die Franzosen entdeckt und D. H. Lawrences viktorianische Lästerungen ließen mich kalt.

Wenn ich mich recht erinnere, begann die systematische Jagd auf Stellen mit Maupassant oder Barbey d’Aurevilly. Jedenfalls bin ich mir einigermaßen sicher, dass sie mit Bataille endete. Denn als ich mich auf seine Schriften eingelassen hatte, wurde mein Verhältnis zum dritten Leseorgan komplizierter. Dabei denke ich weniger daran, dass ich die Pubertät hinter mir hatte, mir eine, wie ich hoffte, kultivierte – will sagen: stubenreine – Sicht der Literatur zugelegt oder eine bis dahin vielversprechende Bekanntschaft dadurch zerstört hatte, einer Frau, der ich den Hof machte, ein Exemplar von Madame Edwarda zu schenken, ohne das Buch vorher gelesen zu haben. Was die Situation vielmehr erschwerte, waren die Gedankenstrukturen. Unfreiwillig zeigte Bataille, dass langen, offenherzigen Schilderungen der Pracht und Verwirrung des Geschlechtslebens fast immer etwas Lächerliches anhaftete, ungefähr wie bei einem Kaiser ohne Kleider, die intellektuelle Energie, die ihre Triebfeder war, jedoch sexy an sich sein konnte. Was waren schon Beschreibungen von Flüssigkeiten und Körperöffnungen gegen Tropen und Argumente, die vorhersehbaren Bewegungen der Begierde gegen die verschlagene Choreographie der Denkfiguren? Kurzum: Wegen Bataille fing ich an, Theorie zu lesen. (Ja, ja. Das war Anfang der achtziger Jahre.) Plötzlich wurde die allegorische Perspektive aus einem erkenntnisorientierten Blickwinkel interessant und schon bald verführten mich Texte, die so abstrakt waren, dass man über ihre Anziehungskraft bloß in Termen von „libidinöser Ökonomie“ sprechen konnte.

Im Großen und Ganzen verbrachte ich die folgenden Jahre zwischen keuschen Worten und unzüchtigen Begriffen. Von Zeit zu Zeit rief sich noch der passionierte Leser in Erinnerung, der mit geweiteter Herzkammer und pochendem Puls las. Aber ich zog vor, mein Vertrauen dem Gehirn zu schenken – das, so meine Hoffnung, kühl, stilvoll und präzise blieb. Was mein drittes Leseorgan betraf, so fristete es ein kümmerliches Dasein. Es fand selten Verwendung – nicht, weil ich nichts von ihm wissen wollte, sondern einfach weil ich glaubte, dass es einer früheren Stufe in meiner Evolution als homo lectionis angehörte. Wenn der südliche Teil der Biologie in seltenen Momenten seine Gegenwart anmeldete, wurden immerhin sowohl kritisches Urteil als auch Stilgefühl außer Gefecht gesetzt. Erst verdichtete sich die Stimmung im Text, dann fielen mit vorhersehbarer Regelmäßigkeit gewisse Worte und schließlich wurden auch die indirekten Anspielungen von alphabetischen Zusammensetzungen ersetzt, die außerhalb des Schlafzimmers kaum Bedeutung hatten. Mit Beginn letzterer Phase war es unmöglich, noch mit Herz oder Hirn zu lesen. Das Buch war zum Hilfsmittel reduziert worden. Wer wollte, konnte es ohne weiteres in einer Hand halten. Und das wollte ich nicht. Ich fühlte mich manipuliert und fand, dass es ein beklemmender Beweis für Eindimensionalität war, wenn ein Text freiwillig auf alle Ansprüche verzichtete, die ihn zu guter Literatur machten – und zu allem Überfluss damit rechnete, dass der Leser applaudieren würde. Oder was immer er mit seiner freien Hand anstellen sollte.

 

Stellen

Zu dieser Zeit, Anfang der neunziger Jahre, bereitete die Literatur mir erneut Kopfzerbrechen. Aber es sollte noch ein paar Jahre sowie zwei spekulative Essaybücher dauern, bis ich erkannte, dass ich die Antworten auf die Fragen, die mich umtrieben, in der Form des Romans suchen musste. Als einigermaßen routinierter Leser wusste ich, dass Literatur einen auf eine Art beeinflussen konnte, die nur der Prüde leugnen kann. Gewisse Schriften hatten nachweislich Auswirkungen auf die Aktivität der Drüsen, und folglich biologische Relevanz, auch wenn diese nichts war, womit man in Seminarräumen oder Salons Eindruck schinden konnte. Als theoretisch geschulter Literaturmensch wusste ich jedoch auch, dass nur wenige Dinge so lustfeindlich waren wie ein Text, der den Sinn des Lesers für Finten und Finessen nicht ernst nahm. Es stellte sich somit die Frage, wie man als Schrifsteller die Lust mit der List vereinen konnte, das Nackte oder Offenbare mit dem Verborgenen oder Indirekten, und sich aus einem gewissen Typ klarer Sprache ein Werk erschaffen ließ, das gleichwohl die Verstellung feierte. Nur so, stellte ich mir vor, würde man doch der biologischen Bedeutung von Literatur gerecht werden, ohne klinisch zu werden. Nur so würde man die Möglichkeiten des Geschlechtslebens feiern, ohne pornographisch zu werden. Aber wie zum Teufel sollte das gehen – nicht in der Theorie, sondern in der Praxis?

1994 hatte ich Das graue Buch veröffentlicht, einen Essay, der sich literarische Mittel dienstbar zu machen suchte, um über „Grauzonen“ in der Literatur zu sprechen. Mich erinnerten diese Regionen, vage, aber gewagt, an das, was in anderen Zusammenhängen „Stellen“ genannt wurde – mit dem entscheidenden Unterschied, dass sich das Schlüpfrige auf das Verhältnis zwischen Fiktion und Kritik, Primär- und Sekundärliteratur beschränkte. Ich wollte die Genres mischen und plädierte für eine Para- oder vielmehr Hybridliteratur, die jenseits der Kritik aber diesseits der Fiktion lag. Nachdem ich das Buch einige Jahre später ins Englische übersetzt – oder eher transmutiert – hatte, fühlte ich mich meiner Sache allerdings alles andere als sicher. Als ich den Text von der Ausgangs- in die Zielsprache überführte, änderte ich so viel darin, nicht nur in Bezug auf Wortwahl und Darstellungsweise, sondern auch auf den Inhalt, dass mich der Verdacht nicht mehr loslassen wollte, mein wahres Thema war eher die Art der Literatur zu bedeuten, als die Bedeutungen selbst. War das nicht der Gipfel der Beliebigkeit? Was meinte ich denn mit „Grauzonen“, wenn deren Eigenart sich im Übergang vom Schwedischen zum Englischen so veränderte? Die Unzufriedenheit wuchs, und als ich schließlich das Manuskript beim Verlag ablieferte, musste ich mir eingestehen, sie basierte auf etwas so Grundlegendem wie meiner Haltung zur Literatur. Endlich begriff ich: In den fünf Jahren, die zwischen den beiden Versionen lagen, hatte sich zwar etwas verändert, aber nicht die Literatur, sondern ich selbst. Verblüfft erkannte ich, dass ich mich nicht mehr für die Literatur an sich interessierte, also dafür, ihre vielen Wunder und Eigenheiten zu erproben und zu feiern, sondern vielmehr für all das andere, was sie auch war, wenn es zufällig einmal nicht um ihre eigenen Voraussetzungen ging. Mit zehn Jahren Verspätung wurde The Gray Book zu meinem deplatzierten Abschied von den Achtzigern.

Die Erkenntnis löste keine praktischen Probleme, brachte aber zumindest insofern etwas Gutes mit sich, dass ich schließlich begriff, ich wusste zu viel, konnte jedoch zu wenig. Wenn der Trieb Gegenstand meines Interesses war, würde ich nicht sehr weit kommen, so lange ich mich auf Reflexion verließ – will sagen aufs Denken. Oder von mir aus auf Hintergedanken. Wollte ich jedoch der Fähigkeit der Fiktion auf den Grund gehen, Begehren zum Leben zu erwecken, war auch ausgeschlossen, in jene Art von Tabubruch zu verfallen, die in den Neunzigern immer vorhersehbarer geworden war, und deren Ziel nur in seltenen Fällen mehr mit den Bedingungen der Literatur als mit der Rücksicht auf den Markt zu tun hatte. Niedrige Instinkte in allen Ehren, aber was interessierten mich die zeitgenössischen Romane, wenn ihre raison d’être das melancholische Spiel mit Identitäten war, in dem der pikante Unterschied zwischen realem Autor und fiktiver Hauptperson zwar unsicher gemacht wurde, obwohl die Sprache so klischeehaft war wie das Stockholmer Nachtleben oder der gegeißelte Sextourismus nach Thailand? Verhielten sich diese Bücher zur subersiven Literatur nicht ungefähr so wie Klamotten von H&M zu maßgeschneiderten Kleidungsstücken? Man musste doch kein Snob sein, um auf einem Gefühl für die Eigenschaften des Stoffs, für handwerkliches Können, Stil und Idiosynkrasie zu bestehen? Oder nehmen wir diese Schreiberlinge, die notdürftig kaschierte Bekenntnisse über ihr „geheimes“ Sexleben zu Papier brachten. Was könnte gleichgültiger sein als Schriften, die einem bereits missbrauchten Genre nichts als neue Wiederholungen hinzufügten, ebenso mechanisch wie die des göttlichen Marquis, aber ohne nennenswertes Verständnis für das Risiko, das er im revolutionären Frankreich des 18. Jahrhunderts einging?

Eine Libertinage aktualisiert für ein ironisches und konsumhungriges 21. Jahrhundert – gleichzeitig medienbewusst und selbstverwirklichend, verschlagen und naiv –, das war nicht meine Sache. Da bevorzugte ich „Puh, der Bär“. Im zweiten Buch über Christopher Robin und seine Freunde, lassen sich die Kameraden ein neues Spiel einfallen. Erst wirft man Stöcke von der einen Seite einer Brücke in einen Fluss, dann läuft man auf die andere Seite, um zu schauen, wessen als Erster sichtbar wird:

Kaninchen beugte sich weiter vornüber als je zuvor und hielt nach seinem Stock Ausschau, und Ruh zappelte und sprang in die Luft und schrie: „Nun komm schon! Stock, Stock, Stock!“, und Ferkel regte sich sehr auf, weil sein Stock der einzige war, der bisher gesichtet wurde, und das bedeutete, dass es, Ferkel, gewann.

„Er kommt!“, sagte Pu.

„Bist du sicher, dass er meiner ist?“, quiekte Ferel aufgeregt.

„Ja, weil er grau ist. Ein großer grauer. Da kommt er! Ein sehr … großer … grauer … Oh! Nein, er ist es nicht, es ist I-Ah.“

Und I-Ah kam angetrieben.

Obwohl Puwinkel eine zweideutige Szene darüber enthielt, was der Leser sich bei „ein großer grauer“, nun ja, bei einem Stock, vorstellte, war das Buch eher doch nicht der Typ von Literatur, der mir vorschwebte. Dennoch bewunderte ich, wie elegant A. A. Milne das „Stöckchenspiel“ beschrieb. Die Doppeldeutigkeiten nicht nur in der Wortwahl, sondern auch in der Syntax, erinnerten mich daran, dass die Literatur stets den Schein wahrte, wenn sie unanständig war. Hässliche Dinge wurden selten ohne Umschweife gesagt, in Worten der Variante, die im Englischen vier Buchstaben lang sind und sich meist hinter kleidsamen Asterisken verbergen. Ein wesentlicher Teil des Vergnügens an solchen Szenen bestand im Gegenteil darin, dass sie zwei Verständnisebenen voraussetzten – eine, auf der das Gesagte eine wörtliche Bedeutung hatte, eine andere, auf der es figurativ gedeutet werden musste. Was hieß, vom Leser wurde angenommen, dass er seine Vorstellungskraft benutzte und immer bereit sein musste, das Gesagte im übertragenen Sinn zu verstehen. Das war die halbe Miete, wie es hieß, als ich noch in Puzos Roman blätterte. Denn der Text setzte ja die Beteiligung des Lesers voraus, in manchen Fällen sogar seine Mittäterschaft: Nur ein Elternteil, das Ohren hatte zu hören, errötete beim Gedanken an Milnes Spiel.

Diese Problematik faszinierte nicht zuletzt aus technischen Gründen. Welcher Schriftsteller will nicht Bücher schreiben, die den Funken schlagen, durch den der eigentümliche Abstand zwischen Text und Leser überbrückt werden kann? Doch nun erkannte ich zum ersten Mal, dass ich den zündenden Moment als Ausgangspunkt wählen konnte. In gewissem Sinne war er ja die Prämisse für schmutzige Literatur. Allmählich begriff ich, dass ich möglicherweise auf einen Weg gestoßen war, meine Arbeit voranzutreiben, ohne den Text zu einem Instrument zu reduzieren. Warum nicht das Unanständige selbst inszenieren? Im 21. Jahrhundert reichten Doppeldeutigkeiten nicht mehr. Es war trotz allem viel Wasser den Berg hinuntergeflossen, seit I-Ah an einem Sommertag des Jahres 1928 in Sichtweite einer erregten Tierschar trieb. Sicherlich schrieb Milne für Kinder und sicherlich war der frivole Untertext in erster Linie für die erwachsene Person gedacht, die vorlas. Aber seine Zeit hatte verlangt, dass Schändliches, nicht zuletzt sexueller Natur, unausgesprochen blieb. Ein Dreivierteljahrhundert später fiel es schwer, in Konventionen dieser Art noch etwas anderes als Prüderie zu sehen. Nach Bataille, Duras und Genet konnte man kaum so tun, als wäre in der Literatur nichts passiert. Wie sollte sich ein Roman von heute also geben, um zu vermeiden, prüder als nötig zu erscheinen, und somit aus dem Gleichtakt mit der Gegenwart zu geraten, gleichzeitig jedoch alle Register des übertragenen Sinns zu ziehen? Vielleicht konnte er den umgekehrten Weg einschlagen, will sagen, etwas, das ins Blickfeld des Lesers gelangte, nicht einen großen, grauen Stock sein zu lassen, sondern tatsächlich, buchstäblich gesprochen, das, worauf Milne anspielte? Man stelle sich vor, der Text nähme diese Enthüllung als Ausgangspunkt der Handlung, und erschüfe daraus eine neue Art von Verschworenheit, eine Kleidsamkeit zweiten Grades, die gleichzeitig neckischer und weniger naiv war? Triebe dies nicht die eventuellen Parallelen zwischen Les- und Geschlechtsakt auf die Spitze, ohne auf eine Art unnötige Aufmerksamkeit auf die Darstellung zu lenken, die in sogenannter „postmoderner“ Literatur inzwischen so ermüdend geworden war?

In solche nicht eben einfach zu meisternde Überlegungen dazu, wie man den Phallos auf angemessene Weise als Leitmotiv handhaben konnte, vertieft, kam ich vor einigen Jahren an der Messehalle Moskau in Berlin vorbei. Ich hatte es mir zur Gewohnheit gemacht, nachmittags spazieren zu gehen, allein schon, um den Kopf ein wenig zu lüften. Als ich nun aufblickte, entdeckte ich, dass ich mich vor dem Eingang einer Erotikmesse befand. Angesichts des überraschenden Orts war es natürlich undenkbar, keinen Studienbesuch abzulegen. Die Messehalle ist eine von Honeckers alten Protzbauten aus Glas und Marmor auf der Karl-Marx-Allee unweit des Alexanderplatzes, kurz nachdem die stalinistischen Mietskasernen beginnen. Die Kombination aus betagter DDR-Ideologie und Kommerz in seiner nacktesten Form entbehrte nicht bedenkenswerter Aspekte, weshalb ich meine Visite mit der Annahme rechtfertigte, dass sie mir einen überraschenden, aber willkommenen Einblick in das kollektive Unterbewusstsein des wiedervereinigten Deutschlands gewähren würde. Wenn sie mir darüber hinaus half, ein tieferes Verständnis für mein Leitmotiv zu entwickeln, war ich niemand, der sich zierte. 

Vor dem Eingang räkelten sich weibliche Teenager auf einem quietschenden King-Size-Bett, während zwei plumpe Bodybuilder sich gaben, als würden ihre Dienste am Eingang benötigt. (Es war vier Uhr nachmittags, die Sonne strahlte und die Leute aßen Eis.) Um zu verhindern, dass man von der Straße aus hineinsah, hatten die Veranstalter Müllsäcke aus schwarzem Plastik zerschnitten und auf die Innenseiten der Fenster geklebt. Hier und da gab es jedoch Lücken, durch die man die silbrigen Reflexe einer rotierenden Discokugel sowie einen Haufen leerer Pappschachteln sehen konnte, in denen Vibratoren gelegen hatten. Das Ganze machte nicht unbedingt einen professionellen Eindruck. Eine Viertelstunde lang wartete ich wie etwa vierzig andere Besucher darauf, eingelassen zu werden. Wie vermutet, waren ältere Herren mit wässrigem Blick und einer Videokamera in der Hand zahlreicher vertreten als jugendliche Paare und wesentlich zahlreicher als Frauen ohne Begleiter. Doch bei einer einigermaßen sorgfältigen, wenn auch nicht wissenschaftlichen Berechnung, erwies sich das Verhältnis zwischen den Geschlechtern als erstaunlich ausgeglichen – zirka 60/40 zugunsten des Y-Chromosoms.

Die knappe Stunde, die ich auf der anderen Seite des Drehkreuzes verbrachte, verging schnell. Als ich in die Nachmittagssonne zurückkehrte, hatte ich sieben Messestände mit Hilfsgerätschaften, Videos und Kleidungsstücken inspiziert, zwei Striptease-Nummern gesehen, an „aphrodisischen“ Parfüms gerochen und mir Gedanken über den Piercingstand im Untergeschoss gemacht – sowie in dem Lokal im ersten Stock lauwarmes Bier getrunken und eine Bratwurst verspeist. Für weitere fünf Euro Eintritt hatte ich außerdem eine 3D-Show erlebt, die zu gleichen Teilen aus Videospielen und häuslicher Pornographie bestand (Rennwagen, Feuersbrünste und ein Schaumbad – in dieser Reihenfolge). Natürlich wurde wild mit Tabubrüchen geflirtet, die keine mehr waren. Natürlich wurde auch hier der Mythos von unser aller Unzulänglichkeit gehegt und gepflegt, damit Mittel gegen schwächelndes Selbstvertrauen den passenden Absatz fanden. Und auch wenn die Anzahl sexueller Ausdrucksformen erstaunlich groß war, blieb die Rollenverteilung natürlich beklemmend gleichförmig. An einem Stand studierte ich die Titel der Videokassetten. Amateurs from Russia und Das Superding gaben den Inhalt sicher so korrekt an, wie ein potenzieller Käufer es sich wünschen mochte, waren jedoch wohl kaum Höhepunkte in der Geschichte der Titelgebung. Dass Künstlernamen nur dann vorkamen, wenn die Person einem größeren Publikum bekannt war – Dolly Buster, John Holmes, Gina Wild – wunderte mich auch nicht weiter. Dann fiel mein Blick auf einige Proben der einen Kategorie von Filmen, die meines Wissens, neben der anonymen O, eine berühmte Vorlage in ein Genre verwandelt haben: Lolita. Hier wurde die Hülle von Frauen Anfang zwanzig geziert, die wie kleine Mädchen mit Zöpfen gekleidet waren und wahrscheinlich Zuckerstangen in der Hand hielten. Vergeblich suchte ich nach weiteren literarischen Einflüssen. Aber es gab keine Werther-, Valmont- oder Mr Knightley-Filme; auch Effi Briest, Molly Bloom oder Fanny Hill hatten kein eigenes Genre begründet. Nur der französische Marquis und sein Pendant, der österreichische Adlige, hatten Filmen ihren Stempel aufgedrückt, deren Futteral ausnahmslos schwarz mit roter Schrift ausfiel.

Obwohl die Differenzierung erstaunlich groß war, hätte sogar Puh, der Bär erkannt, dass Pornographie genrebestimmt und opportunistisch ist. Jede Neigung und jeder Fetisch, jede Kombination von Mensch und Werkzeug hat ihre Regeln und Unterkategorien. Manchen Kunden war es offenbar wichtig zu erfahren, ob die weiblichen Darsteller schluckten oder nicht, ob Gummi oder Leder, schwangere Damen oder behaarte Herren in den Filmen vorkamen, ob Traci Lords sich einem „Duett“ widmete oder ob Dita von Teese als Nonne oder Krankenschwester auftrat. Wahrscheinlich würde es nicht mehr lange dauern, bis die Kassetten Produktbeschreibungen im Stile derer enthielten, wie man sie auf Lebensmitteln oder Kleidungsstücken findet. Das Enzige, was in diesem Aufgebot sexueller Arten und Abarten neben Taktgefühl fehlte, war Überraschendes. Das Angebot wurde konsequent von der Nachfrage bestimmt, und da die Nachfrage immer weniger von Selbstzensur gehemmt wurde, war die Zahl der Nischenmärkte gestiegen. Gleichwohl blieb das Klischee wichtigstes Stilkennzeichen der Pornographie. Was bedeutete, der Besuch in der Messehalle bekräftigte im Grunde lediglich, was ich schon wusste: Während die Pornographie darauf abzielte, den Abstand zwischen Wirklichkeit und Illusion zu verringern, steigerte die Literatur die Illusion, bis sie ihre eigene Wirklichkeit wurde. Hier ging es nicht um hochgeschraubte Verführungskünste, sondern um verzaubernde Nüchternheit, nicht um geplante Erregung, sondern um leidenschaftliche Unvorhersehbarkeit. Die gute Literatur gab es nicht, die ihr Publikum nicht überraschte.

Dennoch verließ ich die Halle mit dem aufgekratzten Gefühl, etwas gelernt zu haben. Mit jedem Schritt wurde mir der Grund dafür klarer. Ohne es zu wollen, hatten mich die Messeveranstalter der Wirklichkeit ausgesetzt. Roland Barthes prägte einmal den Begriff „Wirklichkeitseffekt“, womit er den bewussten Gebrauch des Kunstwerks von scheinbar unbedeutenden Details meinte, um eine Aura der Authentizität zu schaffen. In Pornos sind solche Effekte selten oder nie beabsichtigt, auch wenn ein Messeverkäufer, mit dem ich mich unterhielt, meinte, das „Amateur“-Genre sei auf dem Vormarsch. Als ich darüber nachdachte, erkannte ich, dass mich genau diese Effekte interessierten, wenn ich mir einmal nach Mitternacht einen Film im Hotelfernsehen angesehen hatte. Das fleischliche Spektakel stimulierte wesentlich weniger als die Steckdose im Hintergrund, die verriet, ob der Film in den USA, England oder auf dem europäischen Festland eingespielt worden war. Die Schauspieler, beklemmend austauschbar, waren weniger wichtig als ein schief getretener Schuh oder die Brille, die jemand auf dem Nachttisch abgelegt hatte. Während des Spaziergangs nach Hause erkannte ich schließlich: Als Schriftsteller war ich Wirklichkeitsfetischist.

Das unverhüllt Verhüllte

Der Besuch auf der Messe brachte mich auf die richtige Spur, oder was ich als solche zu betrachten beliebte. Mit Barthes im Hinterkopf beschloss ich, die scheinbar unbedeutenden Details im Triebleben ernst zu nehmen. Was in anderen Zusammenhängen als Ausschmückung und Kulisse betrachtete wurde, freiwillig oder nicht, sollte bei mir zu ungeahnten Trägern von Bedeutung werden. Als ich heimgekehrt war und in meinem Material zu dem Roman blätterte, an dem ich arbeitete – eine Geschichte darüber, in welche Schwierigkeiten eine lebhafte Fantasie einen jungen Kinomaschinisten in Berlin in jenem Jahr bringen konnte, in dem I-Ah unter einer Brücke irgendwo in Englands ruhigen Gewässern herantrieb – erkannte ich, wo der Schuh klemmte. Ich hatte meine Hauptfigur, die zugleich der Erzähler war, in allzu diskreten Farben gezeichnet. Zwar war er Träger eines Phallos, der ihm sowohl Freude als auch Probleme bereitete, aber wenn er als heimtückisches Identifikationsobjekt dienen sollte, reichte es nicht, dafür zu sorgen, dass ihm die Umstände ein Bein stellten. Möglicherweise würde Spannung erzeugt werden, wenn Sascha Knisch, wie ich ihn nennen wollte, ein Verhältnis mit einer Halbweltdame hatte und von einem Malheur zum nächsten stolperte. Doch wenn er selber keine Geheimnisse hatte, sondern nur etwas so romantechnisch Konventionelles riskierte wie sein Leben, würden zwar die Sympathien des Lesers möglicherweise geweckt und mit etwas Glück auch entwickelt, jedoch niemals verwickelt werden. Und so lange das nicht geschah, konnte ich mir nicht vorstellen, dass das Buch jemanden ernsthaft angehen würde.

Sicher: Die Handlung an einem Ort spielen zu lassen, der für seine Verdienste um einen angemesseneren Blickwinkel auf die Wirrungen des Geschlechtslebens bekannt war, Magnus Hirschfelds Institut für Sexualforschung im Tiergarten in Berlin, lieferte mir einen passenden Rahmen und einen interessanten Stoff. Aber einen regelrechten historischen Roman zu schreiben, kam mir ungefähr so verlockend vor, wie mir Sandalenfilme mit Kirk Douglas anzusehen. Oder A. S. Byatt zu lesen. In meinen Augen war ein in die Vergangenheit verlegtes Kostümdrama eine allzu konservative Aufgabe, da es den Leser im Grunde nicht zu einer Revision des Geschehenen aufforderte, sondern letztlich allgmeine Weisheiten bestätigte. (Ja, stell dir vor, die Busse waren damals tatsächlich gelb.) Ich wollte im Gegenteil das Wissen darüber, was sich zugetragen hatte, unsicher machen – nicht um die Geschichtsschreibung zu relativieren, sondern um die latenten Bedeutungen der Vergangenheit zu aktualisieren. Nur so, stellte ich mir vor, konnten die Splitter zukünftiger Relevanz, die in der Vergangenheit verborgen lagen, aktiviert werden. Doch damit das geschehen konnte, musste zunächst der neuralgische Punkt, an dem einem der historische Stoff unter den Nägeln zu brennen begann, lokalisiert werden. Kurzum: Wenn ich von dem, was im Verborgenen geschah, so unverblümt erzählen wollte wie möglich, musste mein Erzähler Transvestit werden.

Das war, gelinde gesagt, eine Herausforderung. Dennoch war der Gedanke nicht so gewagt, wie ich mir anfangs einbildete. Immerhin wusste ich, dass Hirschfeld – der jüdischer Abstammung, engagierter Sozialdemokrat und homosexuell war; schlimmer konnte es in den dreißiger Jahren kaum kommen – der erste Mediziner war, der „den Verkleidungstrieb“ in wissenschaftlichen Begriffen beschrieben hatte. Seine bahnbrechende Studie aus dem Jahre 1910 hatte ich zwar nicht ausfindig machen können, aber immerhin hatte ich Zitate aus ihr gesehen und in seiner breit angelegten Geschlechtskunde gab es Fallbeispiele, in denen er darlegte, warum gewisse Personen Gefallen daran fanden, sich die Attribute des anderen Geschlechts anzueignen. Noch war ich nicht kühn genug gewesen, den Gedanken an eine Hauptperson mit dieser Veranlagung in Erwägung zu ziehen. Nun aber erkannte ich die Vorteile. Das Buch würde unweigerlich eine gewisse komplizierte Spannung erhalten, wenn der Held, oder vielmehr der Antiheld, eine Frau zu werden oder sich wie eine zu benehmen versuchte. Auch wenn viele der Fragen, die den Unterschied zwischen den Geschlechtern als biologische Tatsache und soziale Konstruktion betrafen, damit zugespitzt würden, oder zumindest moralische Schärfe bekämen, sah ich die Schwierigkeiten. Das erste Problem bestand darin – ohne dass es nach Buch roch –, die Faktoren zu schildern, die einen Menschen veranlassen, sich erst „wahr“ zu fühlen, wenn er verkleidet auftritt. Mit Ausnahme einer Episode im Alter von sechs Jahren, bei der ich während des Ballettunterrichts Strickstrumpfhosen getragen hatte, mangelte es mir in dieser Hinsicht an persönlicher Erfahrung.

Zunächst verbrachte ich die Tage auf der Couch. Psychopathia sexualis versorgte mich mit hilfreichen Informationen, Curt Morecks Führer durch das „lasterhafte“ Berlin von 1931 steuerte Lokalwissen bei und Alles, was im Baedeker nicht steht war eines dieser Fundstücke, die zwar nicht enthalten, was sie versprechen, dafür jedoch wichtige Informationen offenbaren, nach denen man nie gesucht hätte. Ein Stadtplan von 1929, dem Jahr, in dem Berlin Alexanderplatz erschien, verbesserte die Orientierungsfähigkeit in der Stadt. (Ich stellte mir die verniedlichende Form des Vornamens meines Helden als eine versteckte Hommage an Döblin vor.) Trotz der Hilfen tappte ich jedoch weiter im Dunkeln. Erst während eines Besuchs in München, wo ich ein Exemplar von Hirschfelds „Untersuchung des erotischen Verkleidungstriebs“ fand, bekam ich festeren Boden unter den Füßen. Schon auf dem Rückflug begann ich den sahneweißen Leinenband mit Stockflecken zu lesen, und setzte die Lektüre in der folgenden Nacht fort. Als ich etwa vierundzwanzig Stunden später das Werk zuschlug, war ich zerrüttet – als wäre ich gerade von einer wesentlich weiteren Reise als der nach Bayern zurückgekehrt.

Hirschfelds Studie bestärkte mich in meinen Vorsätzen: Sascha Knisch konnte nur Transvestit sein. Doch das Buch ließ mich auch erkennen, wie wenig ich über die Voraussetzungen für Personen seiner Art wusste. In den folgenden Wochen durchforstete ich die Antiquariate. Binnen kurzer Zeit gelang es mir, eine ansehnliche Menge von Sexualia aus den Jahrzehnten um die Jahrhundertwende aufzutreiben, geschrieben in aufklärerischer und nicht selten erzieherischer Absicht. Einige dieser Schriften erschienen aus heutiger Perspektive einigermaßen komisch. Viele der beschriebenen „Abweichungen“, hatten ja längst aufgehört, die Mitbürger zu entsetzen, und es fiel schwer, nicht über den Bierernst zu schmunzeln, mit dem die Autoren sich etwas annahmen, das sie als ein unangenehmes Thema betrachteten. Andere Schriften, beispielsweise ein Anleitungsbuch in der Kunst, nächtliche Samenergüsse zu vermeiden, betrübten mich. Auch eine kleine Schrift über künstliche Geschlechtsumwandlung war wenig geeignet, größeres Vertrauen in die Chirurgie während einer ihrer experimentelleren Phasen einzuflößen. Es war kein Geheimnis, dass sich die Sexologen, die vor hundert Jahren den dunklen Kontinent des Geschlechtslebens sondierten, als Entdeckungsreisende sahen: Die meisten von ihnen versuchten, die Flora von Problemen, die auftreten, wenn Drüsen und Liebe in Konflikt geraten, so einfühlsam wie möglich zu dokumentieren, aber einige begingen Untaten. Eugenische Ambitionen waren selten fern und bei jeder beschriebenen prophylaktischen Handlung konnte sich jemand, der das Fazit der Geschichte kannte, ein Dutzend weniger gute vorstellen. Schriften, die ich nicht bei Ahnert oder Linke aufspüren konnte, fand ich gewöhnlich bei ZVAB. Die Internetsuchmaschine hat neben ChooseBooks.com und ähnlichen Adressen zwar die Glückstreffer früherer Zeiten unmöglich gemacht, aber dafür werden Raritäten bereitgestellt, ohne dass man Jahre brauchen würde, um sie ausfindig zu machen. Dennoch fand ich keine Informationen dazu, was sich tatsächlich hinter den Pforten von Hirschfelds Institut abgespielt hatte. Ein paar Bücher schilderten die Forschung, andere die Geschichte der Immobilie. Doch wie sah der Alltag aus? Wer waren die Angestellten? Wie wurden die Räumlichkeiten genutzt und woher kamen die Mittel, die das sicher sündhaft teure Projekt dieses idealistischen Sexualbiologen finanzierten? Ohne solche Kenntnisse würde ich nicht wissen, wovon ich sprach. Oder wie „meine“ auf passende Art von den historischen Fakten abweichen und – rekonfiguriert – die Wahrheit neu erfinden konnten.

In Goodbye to Berlin stieß ich auf ein paar Seiten, in denen Christopher Isherwood das Leben auf den vornehmen Seitenstraßen in Tiergarten schildert. Eine Zeit lang wohnte er im Institut und ging dort gegen eine reduzierte Miete ein wenig zur Hand. Doch auch wenn ich sein wachsames Auge und seine klare Prosa schätzte, konnte ich mich nicht von dem Schatten befreien, den eine rundliche Amerikanerin italienischer Herkunft mit permanent funkelnden Augen und einer enervierenden Keckheit in den Bewegungen warf. Bob Fosses Cabaret hatte Isherwoods Roman in meinen Augen für alle Zeiten seinen Stempel aufgedrückt. Diese Behandlung der Vergangenheit zu wiederholen, war ungefähr das letzte, was mich interessierte. Ich begriff nicht, welchen Sinn es haben sollte, das hektische Zeitalter und die voluptuöse Panik der späten zwanziger Jahre zu schildern, als handelte es sich im Grunde um die Discokultur New Yorks vor dreißig Jahren. Mich faszinierte weder die Promiskuität noch der Kontakt der braunen Ideologie zu gewissen Sexualpraktikern, auch nicht die vermeintliche Blütezeit des Sexuallebens in der Weimarer Republik, sondern wie ein neues Menschenbild während einer Epoche entstand, in der das Böse noch nicht vom Guten getrennt worden war. Sowie natürlich, auf welche Weise es Wissenschaft und Unterhaltung, gutem Willen und fehlgerichteten Experimenten gelang, gemeinsam unter dem Dach des Instituts zu existieren. Dort gab es greifbare Verbindungen zur Welt von heute. Wie aber sollte ich mir einen solchen Einblick in die Vergangenheit verschaffen? Das waren doch eindeutig Insiderinformationen.

Bei meinen Nachforschungen tauchte in Fußnoten und Quellenverzeichnissen gelegentlich ein Name auf. Allem Anschein nach war der Mann deutscher Herkunft und an einer Stelle sah ich, dass er am Kinsey-Institut in Bloomington, Indiana tätig gewesen war. Langsam begriff ich, dass er in den sechziger und siebziger Jahren, als ehemalige Mitglieder der Partei noch diktierten, was als kollektives Wissen institutionalisiert werden sollte, viel dafür getan hatte, um die Voraussetzungen für eine sachliche Geschichte der Sexualwissenschaft zu sichern. Doch nun entdeckte ich zudem, dass er seit ein paar Jahren in Berlin lehrte, wo er ein dem Robert-Koch-Institut der Charité zugeordnetes Archiv gegründet hatte. So kam es, dass ich eines Tages die Bücher beiseite legte und ihn anrief. Es ging niemand an den Apparat, aber ich hinterließ eine Nachricht. Einen Tag später fand ich eine Gruß auf meinem Anrufbeantworter. „Hier spricht Professor Soundso“, sagte eine derart heisere Stimme, dass sie nicht mehr wirklich zu sein schien. „Ich muss gleich in die Reha. But who the hell cares in Pakistan? Wenn Sie in drei Wochen vorbeikommen, können wir uns über Tante Magnesia unterhalten.“ Er nannte ein Datum, eine Uhrzeit und die Adresse. „Don’t make me sad, Mr. Bad“, grüßte er und legte auf.

In einigen der Bücher, die ich gelesen hatte, stand, dass „Tante Magnesia“ eine der Bezeichnungen, Kose- und Spitzname zugleich, für Hirschfeld gewesen war. Insgeheim hoffte ich, sein später Nachfolger würde, wenig originell, den Verdacht bestätigen, für den diese Benennung verantwortlich zeichnete: Man stelle sich vor, die Person, die als Erste den Transvestismus wissenschaftlich behandelt hatte, bekleidete sich selber gerne mit Rock und hochhackigen Schuhen? Kaum hatte ich ein paar Wochen später geklingelt und einem hageren, kleinen Mann mit eingefallenen Wangen, schnellen Bewegungen und leicht schielenden Augen, die mich unsicher machten, auf welches Auge ich mich konzentrieren sollte (nach einer Weile erkannte ich, dass es nur das linke sein konnte), die Hand geschüttelt, als er auch schon, die Finger gegen den Hemdkragen gepresst, hauchte: „Hirschfeld? Transvestit? Nonsens! Das ist ein amerikanisches Missverständnis. Man begreift nicht, dass sich Schwule in den zwanziger Jahren Tante nannten. Denken Sie doch nur an den großen Schnurrbart!“ Der Mann sank in einen Bambusstuhl mit geblümten Kissen. Er rückte die Auktionskataloge auf dem Glastisch zwischen uns zurecht, nippte an der Flasche mit stillem Wasser, die er bei unserer Begrüßung gehalten hatte, und erklärte, er werde seit geraumer Zeit wegen Zungenkrebs behandelt. Ich wiederum versuchte es mir auf der Couch bequem zu machen, fühlte mich jedoch viel zu groß und plump für den aufgeräumten Erker, in dem wir saßen. Wie viele andere unnötige Dinge war das Gebäude in den achtziger Jahren entstanden, und zwar mit Hilfe großzügiger Mengen von Glas, Stahl und „Flächen“, weshalb einen das Gefühl beschlich, wir – ein Goldfisch und eine Seekuh – befänden uns in Wahrheit in einem Aquarium.

Während der folgenden anderthalb Stunden, ehe der lautlose Partner des Sexologen seine Hand auf dessen Schulter legte und erklärte, nun sei es genug, er müsse daran denken, was die Ärzte gesagt hätten, erfuhr ich das meiste über die beklagenswerte Nachkriegsgeschichte der deutschen Sexualforschung. Meine Aufzeichnungen von der Begegnung enthalten telegrammartige Notizen über braune Sexualforscher, die ihre Ämter in Adenauers Deutschland weiter ausübten, ohne ein gesteigertes Interesse daran zu haben, einen jüdischen Kollegen und Vorgänger zu rehabilitieren. Nach dem Umzug in die USA – „CIA-infizierte Institute, nicht vorhandene Finanzierung, prüde Bürokraten, sexualromantische Hippies“ – tat sich mein Gastwirt mit einem Freund zusammen, der für einen deutschen katholischen Verlag in New York arbeitete. Gemeinsam machten sie ein kleineres Vermögen mit schmalen Schriften über Astrologie. „Jeden Tag aßen wir three Martini lunches, qualmten wie die Paschas, wir hatten Geld wie Heu!“ Aus irgendeinem Grund zog er anschließend nach Hawaii. In Honolulu führte ein Zettel in einer Telefonzelle zu einem Kurs in Sexualaufklärung, der mit der Zeit im „ersten ordentlichen Lehrbuch, das die neue Welt gesehen hat“ resultierte. Das Timingwar perfekt. Die Schrift wurde in einem zunehmend freizügigeren Amerika zu einem Bestseller und brachte dem Autor eine Professur in San Francisco ein. Nach einem Gastvortrag in Indiana irgendwann in den siebziger Jahren, erhielt er Gelegenheit, Kinseys Nachlass zu sichten – und dort entdeckte er schließlich Hirschfelds Namen. Er, der in Köln und Freiburg studiert hatte, ahnte nichts vom Berliner Ursprung der Sexologie. Freud, Krafft-Ebing, Schrenk-Notzing … „Sicher. Die reinsten Promis. Aber Tante Magnesia? No way, Jose!“ Nachforschungen führten zu neuen Erkenntnissen, neue Erkenntnisse zu neuen Fragen. Mit der Zeit wuchs das Material – und die Probleme. Oder, wie ich nach dem Besuch in mein Notizbuch schrieb: „Achtziger Jahre = Streit mit Kollegen; Reisen ins alte Europa; statt mehr Material nach Bloomington zu schicken, beginnt er selber zu sammeln.“ Kurz nach dem Fall der Mauer kehrte Hirschfelds später Waffenbruder nach Deutschland zurück. Für immer.

Mein Gastgeber spuckte in ein Taschentuch. „Ich dachte, es würde besser werden, aber alles wurde nur noch schlimmer!“ Anfangs bekam er Räume am Robert-Koch-Institut, das für den Infektionsschutz zuständig ist, und freie Hand zu tun, was immer ihm beliebte. Doch die Probleme waren struktureller Art und es dauerte nicht lange, bis sich die Symptome zeigten: Schwierigkeiten bei der Zusammenarbeit, schrittweise Ausgrenzung. „Ich befand mich an einem medizinischen Institut. Well, that’s nice, Brice. Aber dort beschäftigte man sich mit kranken Menschen. What the hell hat die Sexologie mit denen zu schaffen? Neun von zehn Personen führen ein gesundes Geschlechtsleben! Und das sagte ich meinen Kollegen. Die Sexologie darf nicht der Medizin untergeordnet werden!“ Nach ein paar Jahren und dem Selbstmord eines Mitarbeiters wurde die Situation unhaltbar. Mein Gastgeber verlegte seine dezimierte Belegeschaft an die Humboldt-Universität. Dort durfte er ein paar heruntergekommene Räume in Pankow nutzen, schaffte mit Hilfe zweier Mitarbeiter, die von Arbeitslosengeld lebten, das Archiv dorthin – und erfuhr nur wenige Tage, nachdem man die Umzugskisten abgestellt hatte, dass er Krebs hatte. Seither ruhte die Arbeit. Selbst wenn er gewollt hätte, er konnte mir sein einmaliges Material nicht zeigen. Keine Fotos. Keine der Schriften, die nicht bei der berüchtigten Bücherverbrennung im Mai 1933 vernichtet wurden. Keine Korrespondenz. Und mit der querulantischen und aktivistischen Hirschfeld-Gesellschaft wollte er nichts zu schaffen haben. Hirschfeld-Gesellschaft? „Sorry, mister, aber das sind Separatisten. Nur mir ist es gelungen, die Sexologie an einer Universität zu verankern. Sobald das Material im Internet zugänglich ist, bin ich den anderen meilenweit voraus. Ich verlange keine Bezahlung für meine Mühen. Angesichts der Pension, die ich bekomme, bin ich auf keine Almosen angewiesen. Aber das Material muss allen zur Verfügung stehen. Und zwar dalli. Hirschfeld darf nicht in Seminarräume eingeschlossen werden. I say: who the hell cares in Pakistan?“ Erneut hustete er. Aus dem Schlafzimmer, in dem der Fernseher lief, mahnte sein Partner: “Dear, it’s 5.30 already …“ Mein Gastgeber zuckte mit den Schultern, sagte jedoch nichts mehr.

Als ich in der Novemberdunkelheit nach Hause ging, fragte ich mich, ob ich noch etwas anderes gelernt hatte, außer dass ich mich offenbar auf vermintem Terrain bewegte – und dass Hirschfeld einen streitbaren Fürsprecher gefunden hatte, dem es leider an den richtigen Mitteln gebrach, um sich Gehör zu veschaffen. Doch, ein Detail. Trotz seines Walrossschnurrbarts hatte der Leiter des Instituts in Tiergarten nicht die Gewohnheit gehabt, sich als Zofe oder Lady zu kleiden.

Eine komplizierte Bruderschaft

Als ich zwei Wochen später zur Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft flanierte – es stellte sich heraus, dass sie nur fünf Minuten von meiner Wohnung entfernt lag, im Erdgeschoss eines Hofhauses im Stadtteil Friedrichshain –, hatte ich das Gefühl, den krebskranken Sexologen zu verraten. Aber es ließ sich nun einmal nicht leugnen, dass er vor allem über die USA von heute gesprochen hatte, während ich mich für das Deutschland der damaligen Zeit interessierte. Außerdem lächelten meine neuen Gastgeber nachsichtig, als ich mich erkundigte, ob ich mich in Gesellschaft von Separatisten befände, was auf willkommene Art meine letzten Zweifel zerstreute. Die beiden Forscher, die mich in Empfang nahmen, berichteten bereitwillig von ihren Bemühungen, Hirschfelds Pionierarbeit zu rehabilitieren und von der Geschichte des Instituts und seiner Arbeit zwischen der Gründung 1919 und der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten vierzehn Jahre später. Wir unterhielten uns über die Karriere des Sexualbiologen in Hindenburgs Deutschland und seine beiden Partner Karl Giese und Li Shiu Tong (ersterer beging Selbstmord, letzterer überlebte in der Schweiz), über seine Aktivitäten als graue Eminenz in den Kulissen der Weimarer Republik, über die Versuche, den Gesetzesparagraphen abzuschaffen, der sodomitische Handlungen kriminalisierte, und die Schändlichkeiten, die dazu führten, dass das Institut im Januar 1933 gestürmt wurde, über die Patientenblätter, die seither verschwunden waren, genau wie größere Teile der Bibliothek, die einige Monate später verbrannt wurden. Ich durfte ein Exemplar des berüchtigten „psychobiologischen“ Fragebogens sehen, der den späteren Auswertungen in der Geschlechtskunde zu Grunde lag (rührende Fragen über alles von Eros’ Erwachen bis dahin, ob der Befragte pfeifen konnte oder ein Messer in der Tasche trug). Man zeigte mir Fotos des Museums mit seiner berüchtigten „Abteilung für Deformationen des sexuellen Instinkts“ (eine frühe und klügere Variante der Erotikmesse in der Karl-Marx-Allee), und als ich erzählte, dass ich mich insbesondere für das sexuell motivierte Verkleiden interessierte, stand einer meiner Gastgeber auf. Aus einem Regal hob er eine Drucksache herab, die er behutsam, fast pietätvoll in meinen Händen platzierte. Sie erwies sich als ein Supplement zu dem Buch über Transvestiten – eines der seltenen Exemplare, vielleicht dreißig Stück, die nicht den Flammen zum Opfer fielen, und nach denen ich in den Antiquariaten vergeblich gesucht hatte.

Einige der porträtierten Personen ließen sich unmöglich eindeutig als Mann oder Frau identifizieren und viele von ihnen waren ungewöhnlich geschickt darin, die sekundären Eigenschaften des anderen Geschlechts zu übernehmen. Manchmal reichte bereits eine Haltung oder Miene, um das Korsett oder den Rock trotz einer muskulösen Schulterpartie oder riesiger Fußsohlen motiviert erscheinen zu lassen. Dies waren Tarnvögel, die zu Paradiesvögeln mutiert waren. Aber dann gab es auch Bilder von Personen, bei denen ich mir vorstellte, dass sie gewisse Mühe gehabt hätten, keine Aufmerksamkeit zu erregen, wenn sie sich auf die Straße gewagt hätten. Ein ungewöhnlich kleiner und korpulenter Mann hatte ein mit Schleifchen verziertes, niedliches Kleidchen angezogen. Er trug eine Perücke mit langen blonden Haaren, hielt einen Fächer in der Hand und seine krummen Beine steckten in dicken, weißen Strümpfen. Seine Füße waren mit zierlichen Ballettschuhen bekleidet; der plumpen Körperhaltung nach zu urteilen, beabsichtigte er gerade, vor dem Betrachter zu knicksen. Etwas erfolgreicher war der Herr, den ich auf einem anderen Foto entdeckte, und der ebenfalls ein weißes Kleidchen trug. Das Kleid hatte üppige Volants, war aber ärmellos, was dazu führte, dass sich sein kräftiger Bizeps mit weniger geglückter Deutlichkeit abzeichnete. Auf dem Kopf trug er jedoch eine blonde Perücke mit kurzen Korkenzieherlocken, die einen an Groucho Marx’ Zwillingsschwester denken ließ, die Füße zierten weiße, hochhackige Schuhe mit Spangen. Der Mann saß im Profil und hatte sittsam die Beine übereinander geschlagen. Im Grunde sprach fast alles dafür, dass er eine Ballerina war – außer vielleicht seinem gewachsten Schnäuzer. (So viel dazu, dass Transvestiten niemals Bartschmuck trugen.)

Die Männer schienen sich in der Rolle der bezaubernden Dame erstaunlich wohl zu fühlen, auch wenn bessere Kameras vermutlich die Schweißperlen unterhalb der Perücke eingefangen oder die Brusthaare enthüllt hätten, die nicht einmal großzügige Mengen von Talkum übertünchen konnten. Wie gern sie sich auch wie das Mädchen kleideten, das sie insgeheim zu sein glaubten – ein im Wolfspelz geborenes Schaf –, konnte ich mir nicht vorstellen, dass es ihnen leicht gefallen war, sich fotografieren zu lassen. Einen Mann, der eine gewisse Position in der wilhelminischen Gesellschaft erreicht hatte, und die damit verbundenen Privilegien genoss, muss es beträchtliche Mühe gekostet haben, seine Hemmungen zu überwinden. Ganz zu schweigen von dem freiwilligen Vergessen, zu dem er sich zwingen musste, um für einige schwerelose Augenblicke des Glücks das Risiko zu ignorieren, dass die Aufnahme in falsche Hände geraten könnte. Offenbar war jedoch die Lust größer als die Scham, was ja auch schon etwas war. Hatten diese Männer vielleicht ihr Einverständnis dazu gegeben, sich in voller Montur dokumentieren zu lassen, weil sie sich selber als Rätsel erlebten und hofften, eine wissenschaftliche Untersuchung würde erklären, welche widersprüchlichen Energien ihre Begierde steuerten? Je länger ich diese Wesen betrachtete, desto schwerer fiel es mir jedenfalls, keine Zärtlichkeit zu empfinden. Welch rührende Verletzlichkeit. Welch komische Zerbrechlichkeit. Diese Damen gehörten zur komplizierten Bruderschaft der Röcke.

Trotz ihres Sinns für Diskretion konnten meine Gastgeber nicht der Versuchung widerstehen, sich zu erkundigen, warum ich mich für „krrossdressink“ interessierte. Ich erklärte, dass ich an einem Roman arbeitete, mir Hintergrundwissen für die Geschichte beschaffen musste und im Übrigen das Verkleiden als Phänomen oder Strategie aus ästhetischer Perspektive nicht uninteressant fand. Kleider hatten mich immer schon interessiert, nicht zuletzt als sozialer Code. Ob ein Mensch es nun wollte oder nicht, er war eine lebendige Markierung in einem kulturell bedingten Zeichensystem. Wie konnten einem Schriftsteller die Ausdrucksmöglichkeiten gleichgültig sein, oder warum nicht die Gefahren, die der Schlag eines Jacketts, der Absatz eines Schuhs bedeuten mochten? Transvestiten schienen sich dieser Signale besonders bewusst zu sein. Sie nutzten sie aus, untersuchten ihre Spannungen und stellten sie in Frage – nicht zuletzt, um die Mechanismen von etwas zu verstehen, was mich seit langem interessierte: Die Distinktion zwischen Primärem und Sekundärem, die diktierte, was als wesentlich betrachtet wurde und was letztlich nebensächlich war. Ich hatte mich in früheren Büchern mit Varianten dieser Distinktion beschäftigt, aber in seiner harten ideologischen Form entsprach sie am ehesten dem Unterschied zwischen männlich und weiblich. Nun wollte ich ein Buch schreiben, das gerade die Frage der Geschlechtseigenschaften untersuchte – so unverblümt, aber kleidsam wie möglich. Tatsächlich bildete der Phallos mein Leitmotiv. Irgendwo musste man ja anfangen, nicht wahr? Die Hoden lieferten das traditionelle Symbol für Potenz, ergänzte ich, möglicherweise verlegener als nötig, hier gab es die vermeintliche Virilität in ihrer höchsten Konzentration, und da sie dazu neigten, paarweise aufzutreten, betrachtete ich die Bruderschaft als das heimliche Thema meines Buchs.

Meine Gastgeber überdachten, was ich gesagt hatte, dann murmelte der eine von ihnen etwas über die zahlreichen „vested interests“ des Geschlechtslebens. Als Erwiderung machte ich eine Bemerkung über „Homosozialität“, dann zitierte ich Singer, der in einer seiner Erzählungen anmerkt: „Welch seltsame Macht doch in Kleidern liegt!“ Es war diese eigentümliche Autorität, der es nicht an politischer Bedeutung mangelte, der ich auf die Spur zu kommen wünschte. In meinen Augen waren Transvestiten eine Art Dekonstrukteure, die sich dem Spiel der Nachahmung und der Maskierung mit dem eigenen Leben als Einsatz widmeten. Was bedeutete ein Ausdruck wie „die nackte Wahrheit“ für jemanden, der sein wahres Ich nur in eine Form gießen konnte, indem er sich verkleidete? Spielten die Hoden tatsächlich die entscheidende Rolle für das Bild von Männlichkeit? Machten die Kleider vielleicht trotz allem die Frau? Gerade Transvestiten sollten wissen, wie man verborgenes symbolisches Kapital umsetzte. Mich faszinierten die List und die Lust, die für diese Transaktionen erforderlich waren. Es war eine Frage des Stils, wobei sich das Thema nicht von seinem Ausdruck trennen ließ.

Als ich abschließend erwähnte, dass meine Hauptperson sein Geld als Filmmaschinist in einem Kino verdiente, lächelten meine Gastgeber wissend. Dann hatte ich sicher den Film von Richard Oswald gesehen, in dem Hirschfeld mitgewirkt hatte? Ich nickte. Anders als die Anderen, der 1919 in die Kinos gekommen war, und im Jahr darauf verboten wurde, hatte mit Stars wie Conrad Veidt und Anita Berber als Unterhaltung maskiert Aufklärungsarbeit betrieben. Hatte ich dann vielleicht auch schon von den klinischen Filmen gehört, die man im Institut für Sexualforschung gedreht hatte? Nein, das konnte ich nicht behaupten. Ah. Dann interessierte es mich möglicherweise zu erfahren, dass sich Hirschfeld eine ganze Reihe von Jahren tatsächlich der Hodenforschung in der Nachfolge Eugen Steinachs gewidmet hatte? Und ob.

Die Frage, wie kraftlose, bisweilen effeminierte Männer ihre frühere Manneskraft wiedererlangen sollten, war in den Jahren nach der vorherigen Jahrhundertwende offenbar heftig diskutiert worden. Als junger Mann hatte Steinach, ein guter Freund Freuds in Wien, Mäuse und Ratten in der Hoffnung seziert, das Geheimnis der Sexualität zu ergründen, das er in den Drüsen und in gewissen Flüssigkeiten vermutete. Wenn nur die richtigen Methoden entwickelt wurden, rechnete er damit, das Greisenalter um bis zu zehn Jahre nach hinten zu verschieben und damit Männer zu „reaktivieren“, die der Gesellschaft noch viel zu geben hatten. In den zwanziger Jahren ließen sich tausende willige Herren durch Eingriffe am Unterleib „steinachifieren“. Dem Chirurgen zufolge waren die Ergebnisse überwiegend ermutigend. Die meisten Patienten verwandelten sich von senil sabbernden Greisen in tatkräftige Herren, die Krücken und Brillen fortwarfen, sich zwei Mal am Tag rasierten und wieder mit den Muskeln spielten. In manchen Fällen ließen sie sich sogar zu solch jugendlichen Torheiten hinreißen, wie Land in Florida zu erwerben.

Ich schüttelte den Kopf darüber, was meine Gastgeber erzählten, war aber hochzufrieden. In meinen Ohren klang der Versuch, durch invasive Techniken den Anteil der Männlichkeit zu erhöhen, wie eine Art Viagra avant la lettre – die reinste Fundgrube für jemanden, der die guten und vielleicht weniger gute Fantasmen über Männlichkeit untersuchen wollte. Wo konnte ich mir diese Filme ansehen? Im Bundesfilmarchiv hier in Berlin. Etwa zwanzig Filme waren gedreht worden, ehe Hirschfeld und seine Kollegen an den Vorteilen von Steinachs Methoden zu zweifeln begannen. Einer von ihnen war in den Ufa-Kinos der Stadt gezeigt und im Laufe eines Sommers von 300 000 Besuchern gesehen worden. Die einzige zugängliche Kopie befand sich heute am Fehrbellinerplatz.

Am nächsten Tag ließ ich mich in einer der Kabinen im Archiv nieder und wartete darauf, dass der nicht sonderlich joviale Archivar mit den Filmrollen kam, die ich bestellt hatte. Als er den Zelluloidstreifen eingefädelt und das Licht gelöscht hatte, durfte ich Zeuge davon werden, dass die Evolution trotz allem sicher und gesetzmäßig fortschritt – von einzelligen Organismen, über zwei- und vielzellige Mollusken, zu Mäusen, Meerschweinchen, Katzen, Affen und schließlich Menschen. Der Verlauf wurde mit Hilfe von Zeichnungen und chirurgischen Eingriffen geschildert. Kurz bevor die zweite Filmrolle endete und der Filmstreifen mit einem feuchten, insektenhaften Laut prasselte, wurde der Anfang einer Operation an einem Menschen gezeigt. Behutsam wurde ein Paar Hoden auf etwas platziert, das wie ein Stück Samt aussah. Die Stelle, an welcher der Eingriff vorgenommen werden sollte, wurde markiert, aber unmittelbar darauf verdunkelte sich das Bild – ich nahm an, aus Rücksicht auf sensible Seelen im Publikum. Nun bekam man stattdessen pädagogische Bilder von vor und nach dem Eingriff zu Gesicht. Vorher: Einem Gastwirt mittleren Alters mit beginnender Glatze fehlt die Kraft, ein Bierfass anzuheben. Nachher: Ein lachender Wirt mit langen, virilen Haaren stemmt ein Fass über den Kopf und marschiert glücklich in sein Wirtshaus. Vorher: Ein älterer Professor sitzt, lustlos und kurzsichtig, über verstaubte Bücher gebeugt. Nachher: Der gelehrte Herr federt mit Lederhose und Tirolerhut bekleidet braungebrannt und athletisch über die Alpen – schnurstracks in den Sonnenaufgang der ewigen Männlichkeit.

Ich verließ das Archiv in der Gewissheit, dass die Teile, die ich gesucht hatte, zu guter Letzt an der richtigen Stelle waren. Endlich hatte ich die Konstellation aus Interessen und Konflikten gefunden, in deren Licht ich Saschas Abenteuer spielen lassen konnte. Ich hatte meine Stellen und meine Details. Da waren die Gegensätze dazwischen, die Geschlechtsidentität durch primäre und durch sekundäre Eigenschaften zu stärken, da war die ideologisch motivierte Forschung und da waren der Operationssaal, das Museum und das Kino als Schauplätze. Und da war vor allem anderen die Verstellung als Lebensform. Berührte letzteres vielleicht doch die eventuelle biologische Bedeutung der Literatur? Mich interessierte der Versuch, inklusive eines möglichen Scheiterns, den Erzähler die Rolle des schönen Geschlechts annehmen zu lassen. Ein Blick in die Notizen jener Zeit enthüllt, in welche Richtung meine Gedanken gingen. „Es kommt einem vor wie eine herausgeschnittene Szene aus einem Film“, heißt es in einem improvisierten inneren Monolog. „Nicht wie ein Teil des wirklichen Dramas.“ An anderer Stelle heißt es, Sascha sei „von der Fantasie verleitet“. Offensichtlich suchte ich nach einer Darstellungsweise, gleichzeitig zweideutig und auffordernd, bei der „jedes Wort eine Blamage“ sein konnte. Die Tendenz ist deutlich, denn nur wenige Seiten später fragte ich: „Sur-naturalismus? Super-naturalismus? Egal, Hauptsache es wird eine unheilige Allianz aus Fantastik und Körperlichkeit, Einfällen und Aufmerksamkeit, Märchen und Medizin – und darin: die wahrheitsschaffende Lüge.“

Letztgenannter Empfehlung sollte ich folgen, auch wenn ich mich im Laufe der Arbeit oft gezwungen sah, mir Mut zuzusprechen. „Das Buch muss viel gefährlicher werden“, ist nur eine von zahlreichen Aufforderungen. Vermutlich fürchtete ich, dass die Verkleidungskünste in eine Verwechslungskomödie ausarten könnten – und so wenig wie ich Bob Fosses Taten wiederholen wollte, wünschte ich, mich an einer Berliner Variante von Some Like It Hot zu versuchen, mit einem Tony Curtis mit Bubikopf und in Ballerinakleidern von anno dazumal und einem Jack Lemmon in Lodenrock und mörderischem Korsett. Im Übrigen hatte ich kein Talent für die Art von treffsicheren Dialogen und Slapstick, wie sie Billy Wilder beherrschte. Unterhaltung in allen Ehren, aber ich suchte den Punkt, an dem sich Spiel nicht von Ernst unterscheiden ließ. 

Ein Stock anderer Art

Steinachs Film führte mich zur dunklen Kammer der Seele zurück. Ich war wieder, wo ich angefangen hatte, in der Fantasie und der Vorstellungskraft, zwischen Trieben und heimlichen Wunschvorstellungen. Aber im Gegensatz zu früher hatte ich endlich ein wenig Insiderwissen. Allmählich ahnte ich, wie das Dilemma konstruiert werden konnte, aus dem der Roman erwachsen würde. Wenn Sascha im Auftakt zum Buch buchstäblich aus dem Kleiderschrank trat, seinem verborgenen Glücksreich, um über eine Leiche auf dem Schlafzimmerfußboden zu stolpern, würde er augenblicklich in der Klemme stecken. Einerseits wusste er (und mit ihm der Leser), dass er keinen Mord begangen hatte, andererseits würde er seiner Umwelt kaum gestehen wollen, was er in seinem unfreiwilligen Paradies getrieben hatte. Entweder musste er seine dunklen Triebe gestehen, um sich vom Verdacht reinzuwaschen – oder aber er hielt sie geheim und riskierte, eines Verbechens beschuldigt zu werden, das er nicht begangen hatte.

Die Zwickmühle sagte mir zu, da sie so intim mit der Frage von Aufrichtigkeit und Verstellung verknüpft war. Die Handlung ließ sich nicht von der Frage des Stils, der Stoff nicht von der Darstellungsweise trennen. Soweit ich sehen konnte, setzte der konventionelle Kriminalroman – damals so populär wie heute – ein Bündel aus Anhaltspunkten, falschen wie echten, sowie mehr oder weniger zuverlässige Andeutungen voraus, die früher oder später zu dem Augenblick führten, an dem die nackte Wahrheit enthüllt wurde. Mit einer hübschen Leihgabe aus dem Französischen wurde dies denouement genannt, die „Auflösung“ oder der „Ausgang“, an dem der Verlauf der Handlung in Klarheit mündete. Doch für mich war der Test dafür, ob ein Buch zum dringlichen Teil der Literatur gezählt werden konnte, nicht die Enthüllung, oder die Sozialkritik, auf die Autoren von heute so gerne Anspruch erhoben, sondern ob man ein Buch zurückspulen und nochmals lesen konnte. Gelang dies nicht, zum Beispiel, weil der Schriftsteller alle Kraft für das Moment der Spannung verwandt und die Detailarbeit oder die Verwicklung und Vertiefung der Gefühle vernachlässigt hatte, blieb das Buch so instrumentell wie die Pornographie. Mit einem Transvestiten als Erzähler galt es im Gegenteil, die Verstellung zu feiern und die klassische Enthüllung folglich komplizierter zu gestalten. Indirekt würde der Lesakt damit zu einem Teil des Geschehens werden – ja, der Leser wäre implicated, wie es in englischen Krimis heißt: unausgesprochen anwesend und hineingezogen, und in jedem Fall bei weitem nicht so unschuldig, wie er es womöglich gerne gewesen wäre. Würde ich auf die Art vielleicht die Motive beschreiben können, die einen Menschen dazu brachten, auf engagierende Art gewisse Handlungen zu riskieren? Was für eine Welt das war, in der er sie ausführen konnte oder musste? Und welche Rolle die Vorstellungskraft in diesem Zusammenhang spielte? Das musste doch auch heute noch die Nerven kitzeln und entsprechend auf eine Aktualität hinweisen, die nichts von ihrer Bedeutung verloren hatte? Mit einem jener seltenen und deshalb glücklichen „Aaah“, die ein Schriftsteller nie mit Erfolg verwechseln sollte, krempelte ich die Ärmel hoch. Es war an der Zeit, mich an einer eigenen Version der schmutzigen Literatur zu versuchen.

Ich war lange beschäftigt, und beendete sogar das Buch, ehe ich erkannte, dass ich in Wahrheit keine Antwort auf die Frage gefunden hatte, die mich ursprünglich umgetrieben hatte. Möglicherweise ging es bei der Arbeit am Schreibtisch in der Hauptsache darum, Glaubwürdigkeit zu schaffen, was mir nur gelingen würde, wenn ich Wert auf vermeintliche Nebensächlichkeiten und die Art von Anschaulichkeit legte, die nicht vor Komplikationen zurückscheute, die auch für Transvestiten wichtig waren. Aber konnte ich deshalb sagen, ob Literatur eine biologische Bedeutung hatte?

Erst Jahre später ahnte ich eine Antwort, die im Grunde so selbstverständlich war, dass ich sie von Anfang an hätte erkennen müssen. Als ich den Roman ins Englische übersetzte, wurde die Frage der Verstellung auf einmal beschämend aktuell. Nur, dass es nun nicht mehr darum ging, einen Menschen in die Kleider des anderen Geschlechts zu stecken, sondern einen Text mit einer neuen Ausstattung zu versehen. Plötzlich erkannte ich, was ich schon nach meinen Erfahrungen mit dem vorherigen Versuch auf Englisch hätte wissen müssen: Was ein Übersetzer betreibt, ist Transvestismus. Bewies nicht ein Ausdruck wie „Sprachgewand“, worum es ging? Wenn ich früher damit kokettiert hatte, dass alle Schriftsteller Transvestiten waren, immerhin kleideten wir uns in fiktive Gestalten, erlebte ich nun hautnah die Komplikationen der Kostümierung. Beim Übersetzen ging es nicht nur darum, das richtige Wort oder den passenden Ausdruck zu finden. Als literarischer Transvestismus verstanden, bestand die Kunst im Gegenteil ebenso sehr darin, die Bewegungsmuster anzunehmen, die einem die Zielsprache zur Verfügung stellte. Ein schwedischer Text konnte sich in ein noch so korrektes englisches Kleid hüllen, aber wenn er sich damit zufrieden gäbe, würde seine Erscheinung ungefähr so überzeugend daherkommen wie eine preussische Ballerina mit Schnäuzer. Sobald eine Bewegung der englischen Motorik widersprach, fiel der Text aus der Rolle. Die Übersetzung musste danach streben „durchzugehen“. Hier half einzig idiomatische Natürlichkeit. Doch diese Natürlichkeit bestand nicht allein im korrekten Gebrauch einer Phrase, sondern konnte ebensogut der strategischen Abweichung von einer Redewendung gelten, die zwei Bedeutungsebenen aktivierte, einer gewissen Verdichtung der Wortfolge, oder dem Auslassen eines Satzglieds, das der Muttersprachler spontan soufflierte.

Während der Arbeit erkannte ich rasch meine Grenzen. Mir fehlte der entscheidende Prozentpunkt, der einem native speaker erlaubte, eine bestimmte Formulierung einer anderen vorzuziehen oder einen bestimmten Ausdruck als abgedroschen oder umständlich zu verwerfen. Die Erkenntnis bereitete mir ein trauriges Aha-Erlebnis. Am Ende begriff ich ziemlich gut, was Sascha erlebt haben musste, als er sich mit hohen Absätzen auf dem Kopfsteinpflaster Berlins fortzubewegen versuchte. Doch trotz der Schwierigkeiten erschienen die Hemmungen vertraut, und langsam klärte sich der Anlass. Der Schuh klemmte immer noch – aber diesmal aus natürlichen Gründen. Die unbequeme Vertrautheit beruhte nicht so sehr darauf, dass ich sowohl Urheber als auch Ausstatter war, und folglich die Diskrepanz zwischen den beiden Versionen des Buchs sehen konnte, sondern darauf, dass ich erkannte, was mein ursprünglichstes Erlebnis von Sprache war. Als Kind von Einwanderern aus zwei verschiedenen Kulturen und aufgewachsen in einer dritten, war es mir nie gelungen, Sprache als etwas Selbstverständliches zu betrachten. Vielmehr wusste ich mit der Art betrübten Instinkts, wie sie Personen der zweiten Generation häufig aufweisen, dass kein Wort, kein Ausdruck unschuldig war. Verschiedene Sprachen gaben einem verschiedene Arten an die Hand, Gedanken in Worte zu kleiden. Zu dieser Komplikation gehörte, dass man die Sprache des adoptierten Landes so einwandfrei wie irgend möglich sprechen wollte. Für jemanden, der weder an seinem Namen noch seinem Aussehen etwas ändern konnte, galt es, wenigstens durch seine Sprache keine Aufmerksamkeit zu erregen. Dies war allerdings nur ein Impuls. Ein anderer, ebenso stark, war der Wille, das Idiom der Einheimischen genauso gut oder sogar besser zu beherrschen als sie selbst. Dies brachte ein Paradox mit sich. In gewisser Weise versuchte man sich als Pfau zu tarnen. So lange ich zurückdenken konnte, hatte dieses Dilemma meine Auffassung von Sprache geprägt. Doch zum ersten Mal wurde mir nun bewusst, dass es sich in der Tat um Transvestismus handelte. War ein crossdresser nicht ein Wesen, das sich gerade als Pfau zu verkleiden, gleichzeitig durchzugehen und ins Auge zu fallen suchte?

Als mir diese Affinität schlagartig bewusst wurde, erfuhr ich den Schauer, von dem manche sprechen, und begriff, dass für mich bedeutend mehr auf dem Spiel stand als das Schicksal eines irregeleiteten Jünglings im weniger renommierten Berlin Ende der zwanziger Jahre. Hatte die Literatur eine biologische Bedeutung? Für mich ließ sich diese Frage nicht theoretisch beantworten, sondern nur in der Praxis. Das Zittern deutete an, dass ich nicht nur mit Hirn, Herz oder Leisten las. Es zeigte, dass es einen Körperteil gab, mit dem ich nicht gerechnet hatte, der jedoch niemals fehlte, wenn jemand mit der eigenen Person als Einsatz las. Das Rückgrat mochte kein Stock von der Art sein, wie er bei Pu, dem Bär vorkam. Aber war es nicht Zeichen genug für etwas, das nichts damit zu tun hatte, ob man nun Mann, Frau oder etwas Drittes war? Ob die Literatur die Wahrheit sagte oder log, spielte keine Rolle, so lange sie einen bis auf die nackte Haut anging. Auch die Gänsehaut konnte auf ihre Art eine Bekleidung sein.