37 Thesen über einen griechischen Vater

Prosa · Übersetzung: Paul Berf · Frankfurter Allgemeine Zeitung · 21. Februar 2012


I. Ein griechischer Vater ist immer größer als groß. Vor allem, wenn er im Ausland lebt.

II. Lachen Sie ruhig über einen griechischen Vater. Aber nur in seiner Gesellschaft und wenn keine einheimische Person anwesend ist.

III. Glauben Sie einem griechischen Vater immer, wenn er erklärt, die Namen von Blumen, Vögeln oder Bäumen in der neuen Sprache nicht zu kennen.

IV. Gleiches gilt für Beeren, Pilze und alles, was Automotoren betrifft.

V. Bedenken Sie, dass ein griechischer Vater auch ein Sohn ist. Auch wenn er das nicht mehr ist, so ist er es gewesen. Es gibt nicht viele griechische Väter, die dem Unterschied im Tempus Bedeutung zumessen würden. Vielleicht keinen.

VI. Denken Sie sich den Haarwuchs an Armen und Beinen weg, denken Sie sich die Satzmelodie und falsch platzierte Pronomen weg. Denken Sie sich die Schwäche für Knoblauch, Tomatensauce und extrem süßes Backwerk weg. Ein griechischer Vater ist immernoch ein griechischer Vater. Vor allem im Ausland.

VII. Ein griechischer Vater ist mit Frau, Kindern und Geldprobleme bestens vertraut. Er nennt dies „die volle Katastrophe“. Dabei lächelt er immer. Ein griechischer Vater denkt, dass nur er Herr des Desasters sein kann.

VIII. Ein griechischer Vater besteht aus vielem, was andere Väter auch tun. Darüber hinaus gibt es jedoch Stellen am Körper eines griechischen Vaters, die seine fremde Herkunft enthüllen:

Die Augenbrauen. Bei einheimischen Vätern existieren sie in doppelter Ausführung – wie Ohren oder Brustwarzen. Bei einem griechischen Vater hängen sie dagegen zusammen. Tatsache ist, dass ein Sohn im Singular von ihnen sprechen muss. Über den Augen zeichnet sich ein Horizont aus Haaren ab, samten wie gelecktes Katzenfell, ehe er deutlich sichtbar in die Schläfen übergeht. Der Linie fehlt Anfang und Ende. Die Senke in der Mitte verleiht ihm allerdings etwas Vertrautes, ja Intimes. Hier befindet sich sein zerbrechliches Zentrum, die Verankerung für die Kurven, die sich wie Schwingen mit schleifenden Flossen wölben. Während der letzten Jahre im Leben eines griechischen Vaters ergraut der Horizont jedoch. Von Zeit zu Zeit stutzt seine Frau die strohigen Haare, was die Linie immer einheimischer macht. Die Stelle, an der die Augenbrauen zusammenlaufen, lichtet sich, am Ende hat auch ein griechischer Vater zwei Stück. Auf dem Handtuch über seiner Brust schimmern weiterhin die Haare, ein verstreuter Schatz aus Silber.

Die Ohrläppchen. Es lässt sich nicht leugnen: Die Ohren eines griechischen Vaters sind groß. Die Ohrmuschel hat die gleiche Größe wie die f-förmigen Löcher einer Kindergeige, der Gehörgang ist tief wie ein Krater. Seit eins der Kinder eines griechischen Vaters versuchte, die Tiefe mit einem Bleistift zu vermessen, wird jedoch niemandem mehr erlaubt, seine Geheimnisse zu erforschen. Am größten sind allerdings die Ohrläppchen. Daumenbreit scheinen sie immer weiter zu wachsen. Wenn die Kunsthandwerker im antiken Anatolien auf einem Reiskorn Raum für eine Hymne an die Schöpfung fanden, würde der Geduldige die Ohrläppchen eines griechischen Vaters mit zehn Geboten füllen können. Keiner vermag zu sagen, welche Religion er zu gründen beabsichtigt, aber alle wissen, dass er mit Hilfe dieser Mosesstafeln aus Haut das Gleichgewicht hält.

Das Kreuz. Der Rücken eines griechischen Vaters ist ungewöhnlich lang, wodurch die Hüften heruntergerutscht erscheinen. Außerdem ist er gerade und straff. Am ehesten ähnelt er einer Säule. Ein griechischer Vater geht immer aufrecht, mit mehr auf der Vorderseite des Körpers als auf der Rückseite. Seine Haltung vermittelt ein Gefühl von Zuverlässigkeit, wie bei einem Kirchenstuhl. Auf Schultern und Schulterblättern sieht man Narben, die entstanden, als ein griechischer Vater als Junge einem älteren Bruder zu entkommen suchte, jedoch stolperte und in glühende Kohlen fiel. Ansonsten ist der Rücken glatt und erstaunlich weich. Erst am Ende der Wirbelsäule passiert etwas. Aus dem Hosensaum klettert krauses Haar hoch, das sich im Kreuz verdichtet. Die lichte Oase erinnert an südlichere Gefilde und fremde Vegetation.

Das Geschlecht. Der Beutel zwischen den gewölbten Oberschenkeln ist gerundet und prall gefüllt, in gewisser Weise weder zu eng, noch zu groß, einfach perfekt. Er wird jedes Mal sichtbar, wenn sich ein griechischer Vater vor dem Badezimmerspiegel die Zähne putzt, ein Satyr in Eminences Siebzigerjahre-Unterhosen.

Die Fersen. Die Füße eines griechischen Vaters werden weder von eleganten Flügeln geziert noch weisen sie Abdrücke von den Handgriffen einer Mutter auf. Sie haben im Gegenteil mehr mit Bauern als Hermes oder Achill zu schaffen. Die Fersen schieben sich eine Spur nach hinten, als wünschte er, den Schwerpunkt auf einer größeren Fläche als erforderlich zu verteilen. Im Grunde sind sie wandelnde Brückenpfeiler. Dadurch braucht ein griechischer Vater sich niemals breitbeinig ins Leben zu stellen. Ein griechischer Vater steht auch in der Bewegung stabil.

IX. Ein griechischer Vater beherrscht die lokale Nationalhymne nicht. Ein griechischer Vater zögert, wenn er die Nationalhymne seines eigenen Heimatlandes vortragen soll. Es kommt vor, dass ein griechischer Vater einige der Zeilen erfindet. Es kommt auch vor, dass er wütend wird, wenn man bezweifelt, dass es sich um den Originaltext handelt. Dann hält ein griechischer Vater den Telefonhörer hoch und fragt, ob er wirklich seinen Bruder, den früheren Royalisten, anrufen soll.

X. Für einen griechischen Vater ist die Anpassungsfähigkeit der Kinder ein Grund zum Jubeln und zum Fluchen. Jedes Beispiel für sie zeigt, dass er erfolgreich gewesen ist. Jedes Beispiel für sie zeigt, dass er gescheitert ist.

XI. Einem griechischen Vater fällt es schwer zu verstehen, dass die Meinungen seiner Kinder, das Heimatland betreffend, von seinen eigenen abweichen können. Ein griechischer Vater in der Diaspora hegt den Verdacht, dass das neue Land eine Bedrohung für das alte bedeutet. Ein griechischer Vater fordert deshalb Beweise für Loyalität. Ein griechischer Vater erkennt nicht immer, dass solche Forderungen die gegenteilige Wirkung haben können. Wenn er es jedoch tut, weiß er nicht, was er tun soll. Dann empfindet er Trauer. Ein griechischer Vater ist sich nie bewusst, dass diese Trauer zur schwerwiegendsten Forderung werden kann.

XII. Ein griechischer Vater verteilt gerne Geschenke. Im Laufe der Jahre schenkt er seiner Frau Apfelsinenschnitze, Halsketten, Ölgemälde, Feigen, achtzehn Esstischstühle, eine Skulptur, Gedichte, Schals, zwei Hunde, Trauben, Treibholz, Rosen, ein Auto, Sonnenhüte, Steine, Hibiskuse, Pfirsiche, einen Pelzmantel, weitere Gedichte, Abendkleider, Schnecken, Granatäpfel, einen Olivenhain... Kurzum: die ganze Welt. Wenn ein griechischer Vater sich nicht besinnt, denkt er, dass er seiner Frau auch vier Kinder schenkt. Aber ein griechischer Vater besinnt sich. Der Welt muß ein Makel erhalten bleiben.

XIII. Im Gegensatz zum gepflegten, praktisch fehlerfreien neuen Sprache seiner Frau ist das eines Vaters ausufernd und unsicher, aber auch erfinderischer. Er mag Synonyme, amüsiert sich damit, bildliche Ausdrücke wörtlich zu nehmen, und glänzt generell in einem Idiom, das den Einheimischen ins Auge stechen muss. Geht es nicht eine Nummer kleiner? Oft benutzt ein griechischer Vater Kraftausdrücke, die direkt aus der Muttersprache importiert werden. Ein solcher lautet „Du schwellst mir den Hoden!“ Der Ausdruck sagt das meiste über die Einstellung eines griechischen Vaters zur neuen Sprache. Sie zu sprechen heißt, seinen Willen zur Steigerung und Expansion zu formulieren. Vielleicht sollte ein Sohn sagen: zur Erhebung. Er zieht es jedoch vor, daran als Unbeugsamkeit zu denken. Ein griechischer Vater begreift nicht, dass Ausgewogenheit auch Vorteile haben kann.

XIV. Es kommt vor, dass sich ein griechischer Vater kategorisch äußert. Aber nie über sich selbst.

XV. Ein griechischer Vater ist, streng genommen, ein wilder Begriff.

XVI. Ein griechischer Vater, der im Ausland lebt, spricht an öffentlichen Orten oft zu laut. Dies wird besonders deutlich, wenn er einen jugendlichen Sohn um Hilfe bitten will.

XVII. Wenn ein griechischer Vater dem Blick seines Sohnes in dem Geschäft begegnet, in dem sie neue Fußballschuhe kaufen wollen, kann er sich nicht erinnern, jemals so schonungslos ausgesehen zu haben. Er zieht das Portemonnaie heraus. Plötzlich hat ein griechischer Vater beschlossen, nicht zu feilschen.

XVIII. Wenn ein griechischer Vater möchte, dass eine Vorlesung in der neuen Sprache berichtigt wird, erwartet er, dass ein Sohn tut, was er selbst getan hätte, wenn er die Zeit dazu gefunden hätte. Wenn er den Text zurückbekommt, ruft er deshalb, die Augen auf die Blätter gerichtet, an den Rücken gewandt, der soeben die Bibliothek verlässt: „Ich sagte berichtigen, nicht umschreiben. Ich möchte mich erkennen.“

XIX. Ein griechischer Vater spricht niemals schlecht über andere Menschen. Höchstens macht er sich über sie lustig.

XX. Wenn ein griechischer Vater sich Trost einreden möchte, sagt er: „Ach, die Krediten. Ich habe meine Familie.“ Dabei denkt er an seine Bürgschaft für die Zukunft. Wenn ein griechischer Vater mit hilfsbedürftigen Anverwandten in der Heimat telefoniert hat, erklärt er anschließend: „Ach, die Familie.“ Und fügt leise hinzu: „Die Bank wird mir noch einen Kredit gewähren.“ Beide Male lächelt ein griechischer Vater.

XXI. Ein griechischer Vater gesteht willig, dass er einen Fehler begangen hat. Er wird jedoch das Gefühl nicht los, dass dies, wenn es denn so ist, Teil eines unbekannten Plans ist. Deshalb lächelt ein griechischer Vater, wenn er hilflos die Hände ausbreitet und gleichzeitig mit dem Kopf nickt. „Was soll ich sagen?“

XXII. Wenn ein griechischer Vater einen Filmhelden Proben seines Edelmuts zeigen sieht, vermutet er, dass der Schauspieler griechischer Abstammung sein könnte. („Manolito? Sicherlich doch eigentlich Manolis?“)

XXIII. Ein griechischer Vater, der einen Sohn an die Tür des Zimmers hämmern hört, in dem sich der kleine Bruder verschanzt hat, sagt: „Trete zurück. Jeder Mensch hat das Recht auf eine Zuflucht.“

XXIV. Ein griechischer Vater lügt nie. Aber er berichtigt andere auch nicht, wenn sie sich Dinge einbilden, nur weil er nicht dazu gekommen ist, alles zu sagen.

XXV. Einen griechischen Vater gibt es nur im Plural, dennoch ist er unvergleichlich.

XXVI. Ahmen Sie einen griechischen Vater niemals in seiner Sprache nach. Ahmen Sie auch nicht die Eigenheiten eines griechischen Vaters nach. Zum Beispiel seine Art, in gewissen Situationen seine Zunge zu benutzen. Sonst kann es vorkommen, dass die Hände eines griechischen Vaters fliegen – erst zum Himmel, dann zur Wange.

XXVII. Einem griechischen Vater gelingt das Kunststück, gleichzeitig umständlich und direkt zu sein.

XXVIII. Wenn ein griechischer Vater einem jugendlichen Sohn etwas klarmachen will, worüber er keine Diskussion zuzulassen gedenkt, sagt er: „Lass uns hinausgehen, damit uns der Himmel sehen kann.“

XXIX. Ein griechischer Vater, der Geschichten über sich erzählt, bei denen sich genauer betrachtet zeigt, dass sie widersprüchlich sind oder ihnen eine Dimension fehlt, erkennt, dass in der Vergangenheit Leerstellen entstehen. Ein griechischer Vater weiß, daran kann er nichts ändern. Aber er wünscht sich, dass ein Sohn eines Tages selbst auf die Idee kommen wird, die Türen zu gewissen Räumen geschlossen zu lassen. Aus diesem Grund beschließt ein griechischer Vater, seine Kinder nicht mit Worten, sondern Taten zu erziehen.

XXX. Ein griechischer Vater muss geschützt werden. Wenn seine Kinder ans Telefon gehen, sagen sie deshalb stets: „Ich schaue mal nach. Von wem kann ich bitte grüssen?“

XXXI. Ein griechischer Vater denkt oft über etwas nach, was er bei Homer gelesen hat. Die Götter, wird behauptet, verstehen alles, was die Menschen sagen, aber darüber hinaus besitzen die Worte weitere Bedeutungen, die sie für Sterbliche nicht haben. Ein griechischer Vater fragt sich, ob dies die Götter weniger griechisch macht – oder mehr?

XXXII. Fragen Sie nie, wozu ein griechischer Vater gut ist. Fragen Sie stattdessen, wozu er nicht gut ist. Wenn Sie keine Antwort erhalten, haben Sie verstanden, was ein griechischer Vater ist.

XXXIII. Wenn ein griechischer Vater zeigen will, was seine Mutter tat, als sie sich von ihm einst verabschiedete, legt er den Handteller an die Wange seines Kindes. So zeigt ein griechischer Vater, dass ein Handteller weiter ist als der Himmel.

XXXIV. Ein griechischer Vater, der erlebt, wie das Militär die Macht in seinem Heimatland ergreift, versucht über Telefonleitungen durchzukommen, die erst nicht funktionieren, dann gesperrt zu sein scheinen. Er schickt Artikel an Zeitungen. Er unterschreibt Protestlisten, engagiert sich im Freundschaftsverein, hält Reden bei Versammlungen. Er übersetzt Flugblätter in die Sprache des neuen Landes, trifft sich mit Gleichgesinnten an Universitäten, verfolgt die Fernsehnachrichten. Er reist sogar in die Hauptstadt, um dort um eine Audienz beim König zu ersuchen. Ein griechischer Vater, der Zeuge wird, wie das Militär sein Heimatland übernimmt, tut im Grunde alles, was in seiner Macht steht. Aber diese Macht ist eine Ohnmacht. Das wichtigste, was ein griechischer Vater deshalb tun kann, besteht darin, die Hilflosigkeit als Freund zu betrachten. Sonst lernt er nie, mit sich selbst als griechischer Vater zu leben.

XXXV. Ein griechischer Vater, der mit sechzehn Jahren ein Gewehr in den Händen halten musste, führt in seinem weiteren Leben alles voller Sorgfalt durch. Das macht seine Handlungen zeremoniell. Wie er sich die Nägel in sanften, methodischen Kurven schneidet. Wie er die Apfelsine schält, indem er mit dem Messer Schnitte von Pole zur Pole ansetzt und danach, die Spitze zwischen Daumen und Klinge geklemmt, die Blätter abzieht. Wie er die zusammengefalteten Strümpfe anzieht, indem er seine Finger in die Stofftasche schiebt, den Strumpf an der Fußsohle entlangführt, in den Zehen festhakt und danach gleichzeitig den Fuß vorschiebt und die Hand herauszieht. Aus all diesen Handlungen spricht Ehrfurcht. Ein griechischer Vater feiert das Dasein, indem er die Dinge ernst nimmt.

XXXVI. Ein griechischer Vater hat etwas, das ein jugendlicher Sohn nicht verleugnen kann, so rebellisch er bisweilen auch sein mag. Auch wenn das Herz ein schwarzes Dickicht geworden ist, findet ein griechischer Vater den Weg hinein. Er spricht über andere Dinge, lacht und ist vertraulich, ehe er das Gespräch langsam auf das Wichtige zurückbringt. Oder er senkt die Stimme und wird herzlich – sie beide gegen den Rest der Welt. Ein griechischer Vater achtet aufmerksam auf alles, was ein Sohn wollen kann, ohne dafür etwas als Gegenleistung zu verlangen. Am Ende bleibt dem Rebellen nur, diese Bereitwilligkeit anstößig zu finden und mit Nebensätzen so scharf wie Rasierklingen unwiderrufliche Verletzungen zuzufügen. Daraufhin hebt ein Vater die Hände über den Kopf. Und sagt: „Ich werde verschwinden. Was willst du mehr?“

XXXVII. Die Hände eines griechischen Vaters lehren einen Sohn, wie man mit einem Menschen haushält.