Über »Die Seelensucherin«

Gespräch · SWR-Bestenliste · 19. November 2001


Hubert Winkels: Guten Tag, Herr Fioretos. Sie sind auf der deutschen Bestenliste. Sie sind Schwede und Sie sprechen deutsch … Woher sprechen Sie denn so gut deutsch?

Aris Fioretos: Meine Mutter ist Österreicherin. Mein Vater ist Grieche. Ich bin allerdings in Schweden geboren und aufgewachsen. Deutsch war wohl eigentlich meine erste Sprache, ist also noch immer meine Muttersprache. Aber als kleines Kind wollte ich mich so schnell wie möglich als kleiner Schwede fühlen. Ich bestand mit ca. 4 Jahren darauf, zuhause nur noch schwedisch zu sprechen.

Winkels: Sie sind – wie man aus Ihrem neuen Roman Die Seelensucherin weiß – interessiert an biologischen und medizinischen Themen, an Schädelforschung besonders. Und es fällt einem dazu auch ein deutscher Autor ein, der sozusagen als literarischer Kraniologe hervorgetreten ist, der auch schon hier zu Gast war, Durs Grünbein. Und dann hab’ ich gesehen, daß Sie mehrfach schon mit dem Dichter Durs Grünbein zusammen Sachen gemacht haben. Ist das eine Wahlverwandtschaft aufgrund gleichen Interesses? Wie haben Sie sich kennengelernt und befreundet?

Fioretos: Wir haben uns vor fünf, sechs Jahren kennengelernt und haben uns sofort gut verstanden. Seitdem führen wir regelmäßige Gespräche miteinander. Gespräche, die dann hoffentlich auch in gedruckter Form erscheinen. Gespräche, die immer über andere neue Themen handeln. Es sozusagen Werkaufnahmen, Temperaturaufnahmen der jeweiligen Arbeiten. Wir versuchen uns auch gegenseitig zu verständigen über Sachen, die uns beiden sehr am Herzen liegen, wie z.B. auch Schweden.

Winkels: In Schweden – in Stockholm nämlich – spielt auch zum größten Teil ihr neuer Roman Die Seelensucherin. Ein Titel, der auf deutsch ein bißchen romantisch, auch ein bißchen ,weichgespült‘ klingt. So könnte auch ein Unterhaltungsroman in einem Unterhaltungsverlag lauten. Ich hab’ nachgeschaut im Original: der Roman hat auch keinen schwedischen Titel, sondern er heißt Stockholm noir. – Sie können ja gut deutsch. War das Ihre Überlegung, Die Seelensucherin zu wählen? Es ist ja vom Charakter des Titels her eine völlig andere Anmutung als Stockholm noir, wo man an „film noir“, an Kriminalität usw. denkt.

Fioretos: Ich hab’ das Buch nur auf schwedisch getauft. Es wurde dann umgetauft auf deutsch – mit meiner Genehmigung natürlich – und ich denke, es gab da ein Gefühl, daß „Stockholm“ nicht exotisch genug sei. Und auch, daß das Fremdwörtchen „noir“ vielleicht nicht so sehr deutbar war auf deutsch. Deswegen dann Die Seelensucherin. Ich denke, es ist ein Titel, der für die deutsche Sprache, diese sehr metaphysische Sprache, eigentlich ganz gut paßt.

Winkels: Nähern wir uns doch über diesen Titel an: Nur die Handlung gelesen, denkt man, der Seelensucher kommt vor.

Ich erzähle jetzt einen von zwei Handlungssträngen: Es gibt tatsächlich einen Professor H.H. Schaumberg in Stockholm. Ehemals ein berühmter Wissenschaftler, ein Hirnforscher, ein Schädelforscher, der aber im Laufe der Jahre fast ein Wahnsystem errichtet hat: Er sucht tatsächlich die Seele des Menschen als Substanz, materialisiert im Hirn, zu finden. „Punktsubstanz“ nennt er das, was er sucht. Er versteht sich als Seelenbiologe. Dessen Geschichte wird auf der einen Seite erzählt, auf der anderen Seite die Geschichte einer jungen Deutschen, die 1925 wenige Tage vor Weihnachten von Berlin aufbricht nach Stockholm, um ihren Vater zu finden, den sie seit knapp 20 Jahren nicht mehr gesehen hat. Der Vater war einmal zu Besuch in Berlin – aus Stockholm. Und dann hat sie ihn nicht mehr gesehen. Sie geht nach Stockholm, quartiert sich in ein Hotel ein, sucht den Vater, findet ihn nicht.

Also, sie findet ihn real nicht, also als Körper. Ob sie ihn findet ist eine andere Frage. Ob’ s auch mit dem Finden der Seele zu tun hat, ist auch noch eine Frage.

Aber meine Ausgangsfrage wäre die: Sie bricht ja – obwohl es ja ein essentielles Moment ihres Lebens ist – fast zufällig auf. Sie geht durch Berlin, sieht ein Reisebüro und hat die Idee, Ihren Vater jetzt zu suchen. Ein – sozusagen – „Weltereignis“ für ein Individuum. Warum so beiläufig?

Fioretos: Sie wurde einige Zeit vorher von ihrem Freund verlassen. Und ich glaube, das hängt damit zusammen. Sie spürt diese Verlassenheit in sich und versucht natürlich, ihn durch verschiedenen Manöver zurückzugewinnen. Sie merkt: das läßt sich nicht mehr machen. Auf einmal hat sie Zeit für sich selbst. Und da gibt es die Geschichte ihres Vaters, der auch seine damalige Freundin, also Veras Mutter, verlassen hatte. Diese Parallelität weckt bei ihr den Wunsch, ja vielleicht sogar die Begierde, den Vater aufzusuchen.

Winkels: Sie bewegt sich jetzt im stürmischen, winterlichen, vereisten, verschneiten Stockholm und es fällt einem auf, daß diese Beschreibungen der Innenräume aber auch des Schneetreibens von Vera Grund auf den Straßen einen sehr breiten Raum einnimmt. Es wird dann immer mehr klar, daß die Stadt Stockholm fast ein Subjekt der Handlung wird, nicht nur ein Schauplatz.

Der Roman macht es ja sehr deutlich: Er zeigt ja sogar ein Bild, eine Grafik, die den Punkten entlang gezeichnet ist, die sie in der Stadt gegangen ist. Was für eine Bedeutung hat diese Stadtgrafik für das Seelenleben der Vera Grund?

Fioretos: Zunächst einmal zur ersten Strecke des Buches: Ich denke, es ist wie beim guten Sex. Man kann nicht gleich an die Sache ran gehen, sondern man muß erst mal die verschiedenen Zonen einigermaßen abtasten. Und dieser Verlauf des guten Sex ähnelt, glaube ich, auch dem Verlauf der guten Lektüre. Insofern, daß alles nicht gleich gesagt werden kann und dieser Weg durch die Stadt – eine Stadt, die für Vera ganz fremd ist, mit anderen Worten: noch nicht zu entziffern ist, noch nicht kodierbar geworden ist, hängt damit zusammen. Sie setzt sich am dritten Tag in Stockholm in ein Café und zeichnet ihren Weg auf dem Stadtplan Stockholms nach. Sie kommt da zu keinem richtigen Ergebnis. Aber der Weg scheint einiges mit der Suche zu tun zu haben, und auch optisch gesehen, vielleicht mit ihrer eigenen Existenz.

Winkels: Es gibt ja ein schönes Gegenstück dazu: Nämlich H. H. Schaumberg der Professor, die Parallelfigur, hat in seinem Labor, in seinen Zimmern, wo er experimentiert, einen Stadtplan von Stockholm hängen. Und er begreift nach und nach, glaubt zu begreifen, daß Stockholm sozusagen die Aufgipfelung der menschlichen Rasse verkörpert. Er ist Rassenbiologe, könnte man sagen. Und auf einmal entdeckt er Kohärenzen zwischen dem Stadtplan von Stockholm und dem menschlichen Hirn schlechthin.

Fioretos: Er nennt ja auch Stockholm die „Haupt-stadt“ der Welt.»«

Winkels: Wir müssen jetzt die Pointe, die ja die Lektüre nicht trübt, auch verraten: Der „große“ medizinische Fall des H. H. Schaumberg ist tatsächlich der Vater von Vera Grund. Ein Fall: der Mann hatte keinen Körper mehr, er glaubte, über seinen Körper nicht mehr zu verfügen. H. H. Schaumberg hat ihn nicht behandeln können. Die Geschichte wird erzählt – wir können sie jetzt nicht ganz nacherzählen.

Aber warum – zum Schluß die Frage – hat Vera Grund – die ganz nah dran war an ihrem geheilten Vater Leo Tager – ihn nicht besucht, sondern fährt, als sie im grunde genommen alles wußte, wieder zurück nach Berlin?

Fioretos: Das liegt an ihrer Diskretion, denke ich. Sie sieht auf einmal ein, daß die Geschichte des Vaters eine andere Geschichte ist; es ist nicht ihre Geschichte. Sie hat ihn nur einmal in ihrem Leben kennengelernt. Das reicht, denkt sie. Sie hat die Grazie, davon abzusehen, ihn aufzusuchen.

Winkels: Und „Grazie“ ist wirklich ein Schlüsselbegriff. Es ist eine graziöse Literatur, die mir sehr gut gefallen hat. Vielen Dank, Aris Fioretos.