Immer wieder Testikellieder. Ein Portrait des Schriftstellers Aris Fioretos

Interview · Von Axel Schock · Tageszeitung · 4. August 2003


Von ihm wünscht man sich tatsächlich ein selbst eingesprochenes Hörbuch, und das kann man wahrlich nicht von jedem Schriftsteller sagen. Denn Aris Fioretos verfügt über diese ideale Vorleserstimme. Ein weicher, wohltuender Klang, und dann dieses leichte, wohlige Timbre. Im Gespräch zudem genießt man förmlich diesen sanften, ruhigen Duktus und ist zunächst insgeheim damit beschäftigt wenigstens einen feinen Akzent herauszuhören. Sein Deutsch ist perfekt. Wohl gewählt, durchsetzt mit Wendungen und Bildern, die weit weg von salopper Alltagssprache eher akademisch-literarischen Ursprungs sind. Ganz entfernt vermeint man eine leichte österreichische Färbung herauszuhören. Vielleicht ist dies aber nur eine Einbildung, weil Fioretos Sohn einer Österreicherin ist. Der griechische Vater war Anfang der 50-er Jahre aus seiner Heimat nach Schweden geflohen. Dort ist Aris Fioretos geboren und aufgewachsen.

Die mageren Zeiten, als er in schäbigen Berliner Hinterhauswohnungen leben musste, sind für Fioretos mittlerweile vorbei. Seine Bücher liegen mehreren Ländern vor. Eben ist mit Die Wahrheit über Sascha Knisch sein zweites Buch ins Deutsche übersetzt worden, der in das mondän-verruchte und politisch unruhige Berlin der 20er Jahre führt. Seinem Roman hat er nicht von ungefähr ein Zitat des Berliner Sexualwissenschaftlers Magnus Hirschfeld vorangestellt: „In Geschlechtsfragen bleibt niemand bei der Wahrheit“. Auch wenn er in seinem Buch von einem Medizinalrat Froehlich schreibt, ist doch unverkennbar der große Aufklärer in Sexualfragen gemeint. In dessen „Institut für Sexualwissenschaft“ verknüpfen sich die Bahnen der verschiedenen Romanfiguren, in erster Linie eines jungen Filmvorführers, der durch eine sexuelle Zeremoniemeisterin die Erfüllung seiner erotischen Leidenschaft genießen kann: in Frauenkleider zu schlüpfen.

Das Moment des Verkleidens und Verhüllens zieht sich wie ein Leitmotiv durch den Roman und war bei de Stoffentwicklung für Fioretos ein ausschlaggebendes Moment. „Als Kind in Schweden war mir recht bald bewusst, dass ich als Schwarzhaariger unter lauter blonden, mit einem greischen Namen unter lauter Svenssons, niemals zur großen schwedischen Familie dazugehören wurde. Mir blieb nur die Möglichkeit mich zu verkleiden, im übertragenen Sinne; wissend, dass es mir niemals ganz gelingen würde.“

Wenn Fioretos über sein Schreiben und seine Bücher erzählt, fällt er unbemerkt in seine alte Identität als Wissenschaftler zurück. Ordnet, kategorisiert die Stoffe, abstrahiert die Themen und verweist auf die Verbindungslinien und diversen Diskurse, die sich hinter der eigentlichen erzählten Geschichte verbergen. Dies alles aber geschieht mit bemerkenswerter intellektueller Leichtigkeit. Philosophiert mal eben schnell über die Wesensunterschiede des Englischen, Schwedischen und Deutschern („die deutsche Sprache hat diesen metaphysischer Ballast. Sag zwei Worte und automatisch schwingt Hegel mit“) oder über den Biologismus im frühen 20. Jahrhundert. Fioretos ist analytisch und belesen, ohne die Faktenberge selbstverliebt zur Schau zu stellen. Geschickt nutzt er beispielsweise in Die Wahrheit über Sascha Knisch die Strukturen von Krimi und historischem Roman, um letztlich aber über die Verhüllung von Erotik, die Macht der Testikel und der Konstruktion von Geschlecht und Subjekt nachzugehen.

An Hirschfeld habe ihn besonders fasziniert (und was die ihm nachfolgenden Wissenschaftlergenerationen zum Vorwurf machte), dass er die Grenzen der Forschung durchlässig waren. Sein Institut war ein kurioses Sexmuseum. Beratungsstelle, Labor und gleichzeitig Treffpunk von Homosexuellen, Hermaphroditen, Abtreibungswilligen und Künstlern. „Ich brauche diese Durchlässigkeit auch für meine Arbeit“, sagt Fioretos. „Denn in der Literatur geht es nicht ums Wissen, sondern um Erkenntnis.“ Nur zu Verständlich, dass er sich Mitte der 90er Jahre dazu entschlossen hat, der Wissenschaft mit ihren zu genauen Regeln den Rücken zu kehren, um in der Literatur die Freiheit zu genießen, Fakten und Fiktion ohne Einschränkung durchmischen zu können.

Nach Jahren als Hochschullehrer in den USA hat er seit nunmehr drei Jahren in Berlin eine Wahlheimat gefunden. „Ich habe mir nie die Mühe gemacht, zu ergründen, was meine Heimat ist. Ich bin einfach eine genetische Korruption, sprich: Europäer“, sagt der 43-Jährige. Nach Berlin hatte ihn einst ein Stipendium verschlagen. Der akademischen Welt und wissenschaftlichem Arbeiten kehrte er den Rücken, um sich ganz dem eigenen literarischen Schaffe widmen zu können. „In Stockholm hätten wir uns nie ein Wohnung leisten können, genauso wenig wie in München oder Hamburg“, bemerkt Fioretos. „In Berlin ist es für die Boheme einfacher zu überleben als anderswo.“ Sagt’s, lacht verschmitzt dabei und nippt an seinem Espresso. Und draußen vor dem Fenster unseres Cafés geht die Kollwitz-Platz-Boheme ihrem sommerlichen Müßiggang nach.

© Axel Schock und Tageszeitung 2003