Europa ist eine Glückskatastrophe
Interview · Von Mia Eidhuber · Der Standard · 15. September 2012
Der griechisch-schwedische Autor mit österreichischen Wurzeln eröffnet kommende Woche die Europäischen Literaturtage in der Wachau. Ein Gespräch über unseren zwischen Traum und Trauma schwankenden Kontinent.
Standard: Herr Fioretos, Ihrem zuletzt im Hanser-Verlag erschienenen Roman Der letzte Grieche haben Sie ein Goethe-Zitat vorangestellt, das da lautet „Jeder sei auf seine Art ein Grieche ...“ Welche Interpretation können Sie uns dazu liefern?
Aris Fioretos: Wahrscheinlich wollte der große Geist in Weimar nicht behaupten, dass Elfriede Jelinek, Falco oder Toni Polster Griechen seien. Aber er war wohl der Meinung, dass die kulturellen Grundlagen für unsere westliche Kultur in Griechenland gelegt wurden. Wie auch immer wir uns orientieren wollen, tun wir dies in den Fußstapfen von Sappho, Perikles, Aristoteles ... Wir können nicht anders, als alle auf unsere eigene Art Griechen zu sein.
Standard: Zumindest die eurozentristische Sichtweise sieht, wie Sie schon sagten, im antiken Griechenland die Wiege Europas. Ist es, bedingt durch die derzeitige Schuldenkrise, möglicherweise auch ihr Ende?
Fioretos: Ich habe leider keine apokalyptische Begabung, möchte also ungern über das Ende der Griechen in der Eurozone - den sogenannten Grexit – spekulieren. Gewiss gibt es historische und politische, soziale und kulturelle Gründe für die jetzige Katastrophe. Sie haben aber weniger mit der Wiege Europas zu tun und mehr damit, was über die Jahrhunderte in sie gelegt worden ist. Sollte man die Wiege näher studieren, so wie man die Schmutzränder einer Badewanne betrachtet, findet man historische Schichten, die sich von schlimmster Unterdrückung bis zum schaumigen Übermut eines jungen Nationalstaates spannen.
Gemeinsam ist fast allen Phasen das Misstrauen gegenüber Obrigkeit. Wie könnte es auch anders sein, wenn der Staat so selten das Gemeinwohl der Bevölkerung im Sinn hatte? Ob Venezianer, Türken oder Obristen: Die meisten Griechen hatten wenig Grund zu glauben, dass die Herrscher es mit ihnen gut meinten. Das hat dazu geführt, dass der Sinn für die Gesellschaft, das heißt, der Glaube an so etwas wie ein Gemeinwohl, so wie wir ihn in den meisten Teilen von Westeuropa kennen, nie sonderlich ausgeprägt war.
Rückhalt gaben immer nur Familie und Freunde. Der Staat war da, um widerstanden oder ausgebeutet zu werden. So eine Einstellung ist verheerend für eine junge Demokratie. Sie führt zur Clan- und Klientelpolitik. Die einfachste Art, seinen Glauben an das Gemeinwohl zu zeigen, sollte immer noch sein: Steuern zu zahlen. Dieses Vertrauen herzustellen geht nicht über Nacht - vor allem nicht, wenn diejenigen, die nun das größte Leid zu tragen haben, auch diejenigen sind, die den Glauben am ehesten hatten.
Standard: In der Wachau halten Sie demnächst den Eröffnungsvortrag zum Thema „Festung, Trauma und Traum Europa“. Europa wird derzeit als Kontinent ganz unterschiedlich betrachtet, für die einen (v. a. wohlhabende Intellektuelle) ist er am Verschwinden, für die vielen anderen, die in die Festung Europa nicht hineindürfen, ist er noch immer die Hoffnung auf ein besseres Leben. Was stimmt jetzt eher?
Fioretos: Die traurige Wahrheit: beides. Europa ist nie nur ein Paradies gewesen, nie bloß die Hölle auf Erde. Als Symbol ist der Kontinent immer ein wenig von beidem gewesen. Oder um ein Wort von Imre Kertész auszuleihen: Europa ist eine Glückskatastrophe.
Standard: Der Held Ihres poetischen und gleichsam politischen Romans lernt durch eine verlorene Pokerpartie, dass Straßen in zwei Richtungen führen. Wohin könnte oder besser sollte Europas Straße führen?
Fioretos: Sie vergessen, dass der Kontinent schon eine Reihe von „Europastraßen“ hat. Manche führen zum Meer, andere in die Berge, einige sogar in die Türkei. Möge uns dieses Verkehrsnetz, in seiner Vielfalt an Orientierungsmöglichkeiten, erhalten bleiben.
Standard: Sie sind selbst als Sohn österreichisch-griechischer Eltern in Göteborg geboren. Was bedeutete es für Sie, in Europa einen migrantischen Hintergrund zu haben?
Fioretos: Ich bin in einer Zeit groß geworden, als Europa noch bipolar geordnet war. Da gab es die bekannten Westnationen auf der einen, den unbekannten Ostblock auf der eisernen anderen Seite. Als meine Familie nach dem Fall der Junta 1974 in die Heimat meines Vaters reisen konnte, erwies sich der Kontinent als eine vertikale Angelegenheit.
Der kühle Kopf hieß Schweden. Hier war die vernünftigste Gesellschaftsordnung zu Hause. Im mittleren Bereich, aber schon ein wenig gen Osten, fand sich Österreich. Das war das Zwerchfell, wo allerlei nervöse Reaktionen, allerlei kulturelle Verdauungsschwierigkeiten auftraten. Und im Süden lag Griechenland: Das war das Triebleben, das Reich der Instinkte und der undurchdachten Spontanlösungen. Als der Eiserne Vorhang 15 Jahre später endlich weggezogen wurde, wuchs Europa nicht vertikal, sondern horizontal. Plötzlich entdeckte ich, dass der Kontinent eine unbekannte Spannbreite hatte. Endlich wurde er ein rundes Ding. Ich mag Europa in dieser Wiese, in seiner prächtigen Fülle.
Standard: Sie haben einen schwedischen Pass, eine österreichische Mutter und einen griechischen Namen. Sind Sie aus Ihrer Sicht Grieche, Schwede oder lieber gleich Europäer?
Fioretos: Ich bin wie viele andere Menschen auch: einfach kompliziert. In meiner Jugend dachte ich, diese Unfähigkeit, eine saubere Antwort auf die Frage zu geben, wäre mein Problem. Aber mit einem gehörigen Abstand zur Pubertät verstand ich: wenn schon ein Problem, dann wenigstens nicht meines.
Noch heute, wenn mir gesagt wird, ich sei doch Schwede oder ich sei doch sicherlich Grieche im tiefsten Inneren, nehme ich instinktiv eine andere Position ein. Ich weiß, das ist eine kindische Reaktion. Ein Kind tut ja etwas Ähnliches, wenn es zu hören bekommt, oh, er ähnelt aber nun wirklich seiner Mutter oder seinem Vater. Sofort denkt er: Und was ist mit dem anderen Elternteil? Auch bei mir ist es eine Frage der Loyalität: bitte keine Nationalität auf Kosten der anderen. Gut möglich, dass ich mich am ehesten im Unterschied zwischen Kulturen heimisch fühle. Oder um es philosophisch auszudrücken: Ich finde eine Identität in der Differenzerfahrung. Heute glaube ich, dass mein Rückgrat griechisch, meine Nerven sicherlich österreichisch - oder um bei der Wahrheit zu bleiben: wienerisch - sind, und die Zunge, nun, sie kann wohl nur schwedisch sein.
Standard: In welchen Sprachen leben, träumen und schreiben Sie als Schriftsteller?
Fioretos: Ich lebe in meinem Körper und träume ohne Absichten, da spielt die Sprache keine besondere Rolle. Nur als Schriftsteller bin ich mittlerweile monogam. Ich bin mit dem Schwedischen verheiratet.
Standard: Welche Wurzeln verbinden Sie heute noch mit Österreich?
Fioretos: Es sind noch immer die alten. Da gibt es die Oma in der Burggasse und die Tante in der Tuchlauben, beide schon lange tot, aber nicht minder wichtig als damals, als sie noch Kleider nähten oder Steuererklärungen regelten. Da gibt es den Bruder und die Schwester meiner Mutter, da gibt es ihre Kinder und deren Kinder. Und jede Menge von trüben Erlebnissen und heilloser Freude zwischen Hietzing und Praterstern.
Standard: Ihr Roman ist eine Migrationsgeschichte von einem Griechen, der in den 1960er-Jahren als Gastarbeiter nach Schweden kommt, sicherlich in Teilen durch Ihre eigene Familiengeschichte motiviert. In Ihrem Roman ist mehrfach vom „Nullpunkt“ als Ursprung und Mittelpunkt Ihres Protagonisten die Rede, der in einem kleinen, griechischen Bergdorf liegt. Wo liegt Ihr Nullpunkt?
Fioretos: Mein Nullpunkt? Das müsste mein Nabel sein. Im Übrigen gebe ich gerne zu, dass der Leser höchstens 3,5 Prozent Wahrheit im Roman finden wird. Aber er darf sich diese Prozente nicht als Erdäpfel und Fleischbällchen auf dem Teller vorstellen. Sie sind nicht an ein paar Umstände gebunden, sondern eher die Gewürze - ein wenig überall verstreut.
Standard: Ist Migration ein Kraftfeld für positives Fortkommen? Oft haben Migranten (auch noch in der zweiten Generation) eine Triebfeder, die anderen mittlerweile vielleicht abgeht.
Fioretos: Häufig wird von Verlusterfahrung gesprochen. Aber ein Migrant ist nicht nur Aus-, sondern auch Einwanderer. Einerseits wird er durch politische, soziale oder wirtschaftliche Umstände gezwungen, seine Heimat zu verlassen - eine Heimat, in der er in einem Gefüge von Bindungen lebt, wo er sprachlich und kulturell „lesbar“ ist. Andererseits zieht er um oder muss fliehen, wodurch er nicht nur in eine andere Kultur, sondern oft genug auch in eine andere Sprache umgesetzt wird.
Hier bedeuten die alten Bindungen nichts, seine Geschichte ist unbekannt. Auf einmal ist er nicht mehr erkennbar. Das kann eine sehr schmerzvolle Erfahrung sein, die leicht zu Orientierungslosigkeit und Depressionen führt - umso mehr, wenn der Aufbruch auch einer ist, der mit Traumata verbunden ist, für die es kein oder wenig Verständnis im neuen Land gibt. Aber Migration ist nicht nur eine Verlusterfahrung. Andererseits muss der Einwanderer sich wieder „lesbar“ machen. Das heißt, er muss sich in gewisser Weise neu er finden. Nichts anderes tut die Literatur. Wenigstens in diesem Sinne sind alle Migranten Bürger der Freien Republik der Buchstaben.
Standard: Ihre Migrationsgeschichte hat Sie nach Deutschland geführt. Ist Berlin, wo Sie bereits seit vielen Jahren leben, die geheime Hauptstadt Europas geworden?
Fioretos: Das würde der arme Bürgermeister sicher gern hören. Aber wenn sich das herumsprechen sollte, wäre es kein Geheimnis mehr. Reden wir lieber über Malmö oder Bratislava, damit Klaus Wowereit nicht Wind bekommt. Mit dem neuen Flughafen hat er gerade genug um die Ohren.
Standard: Wie lebt es sich derzeit als halber Grieche in Deutschland oder auch Schweden? Haben Sie angesichts der Krise mit Vorurteilen zu kämpfen?
Fioretos: Eher mit Verlegenheit. Manchmal trauen sich Freunde oder Bekannte nicht zu sagen, was sie vom kümmerlichen Krisen management der Griechen wirklich halten - aus Furcht, sie könnten mich verletzen. Es scheint mir die sanfte Kehrseite der harten Worte mancher deutscher Politiker zu sein. Und eigentlich genauso kontraproduktiv. Hier wie dort ist sachliche Deutlichkeit angebracht. Aber bitte aus einem Gefühl von - Vorsicht, alte Vokabel - Solidarität her aus.
Standard: In Wien saßen Sie bereits 2006 auf dem Podium und diskutierten über „Quo vadis Hellas? Positionen eines EU-Landes zwischen Balkan und Türkei“. Wie lange war Ihnen das Ausmaß der griechischen Katastrophe schon bewusst?
Fioretos: Wie sagte einst Anthony Quinn alias Alexis Sorbas? Leicht gewandelt: „Bin ich nicht ein Grieche? Ich habe Frau, ich habe Kinder und Nachbarn - die volle Katastrophe.“
Was einst als ein Triumph des chaotischen Lebens verstanden werden wollte, ist nun bedrohlich nah, sich in eine Tragödie zu verwandeln. Die heillos zerfetzten griechischen Politiker haben lange genug versucht, dem Pyrrhussieg eine neue Dimension zu verleihen. Hoffen wir, dass ihnen dies nicht gelingt.
Standard: Kommen Sie regelmäßig nach Griechenland? Können Sie beschreiben, wie das Leben der Menschen sich verändert hat? Wie steht es derzeit um den Stolz der Griechen, wenn wir uns dieses Klischee erlauben?
Fioretos: Ich bin oft und gern in Griechenland - sowohl privat als auch beruflich. Der vielzitierte „Stolz“ der Griechen ist allerdings eine vertrackte Sache. Häufig scheint er mir als Alibi für allerlei Machenschaften zu dienen. Gern ist es der Paterfamilias, der von Stolz spricht, nein eher vor Stolz platzt - diese doch staubige Figur, die nichts auf sich sitzen lassen will. Die alles selber regeln möchte. Die so tut, als gehöre ihr noch immer die Welt. Vielleicht erleben wir gerade die späte, dekadente Phase dieser Figur.
Schauen Sie sich die neuen Filme aus Griechenland an - etwa Dogtooth oder Alps von Giorgos Lanthimos, oder meinen persönlichen Favoriten: Attenberg von Athina Tsangari. Es sind genaue Studien vom Zusammenbruch alter Autoritäten, mal klinisch oder sarkastisch, mal melancholisch-heiter. Man muss hoffen, dass die junge Generation, die in Griechenland leben wollen sollte, genauso hinschaut und im Land bleibt, um es klug aufzurichten. Nein, das Problem ist nicht der Stolz. Davon gibt es so viele, auch vernünftige, ja sogar manche schöne Sorten. Das Problem sind die Personen, die über Stolz schwadronieren, dabei aber allzu oft konstruktive Formen des Gemeinschaftslebens verhindern. Stolz ist nichts, was man für sich selber reklamiert; Stolz ist etwas, das man über die Taten anderer fühlen sollte.
Standard: Was kann, Ihrer Meinung nach, Literatur gegen die gegenwärtige Krise ausrichten?
Fioretos: So leid es mir tut: Die Literatur ist keine Problemlöserin. Dafür gibt es Ajax oder die EZB. Vielmehr gestaltet sie Konflikte. Ohne Komplikationen keine Literatur, wenigstens keine gute. Sie feiert die vielen Wenn und Aber der Welt.
Standard: Sie schreiben in Ihrem Roman Der letzte Grieche: „Das Wunderbare am Leben war, dass es weiterging.“ Ist das nicht tröstlich angesichts der anhaltenden Krisenstimmung?
Fioretos: Du lieber Himmel. Wenn ich die Verantwortung für all das, was meine Romanfiguren denken, übernehmen müsste, hätte ich ein Brüssel im Kopf. Glauben Sie mir, eins genügt.
© Mia Eidhuber und Der Standard 2012
Links
Der Standard, 14. September 2012
Interview: »Die Demoralisierung geht weiter«, Die Presse, 19. November 2012