Die seltsamen Freuden des Jetlag

Gespräch · Literaturen · 2002, Nr 3, S. 33–37 · Photos von David Balzer/Zenit


Januar, Spätnachmittag in einem türkischen Restaurant in Kreuzberg. Draußen trostloses Schneetreiben, verzagte Straßenlampen, überfrorene Autodächer. Drinnen, an einem Tisch neben der Vitrine mit Gebäck, von weißem Neon grell beleuchtet: zwei Schriftsteller mehr oder weniger griechischer Abstammung. Verschwörerisches Geflüster.

Aris Fioretos: Da sitzen wir nun beim Frühstück, um fünf Uhr nachmittags. Wir sind beide gerade aus dem Urlaub gekommen – du aus Cozumel am Golf von Mexiko, ich aus dem entschieden weniger paradiesischen New York.

Jeffrey Eugenides: Nach achtzehn Stunden Scandinavian Airlines kommt jedes Paradies zu spät.

Fioretos: Mir bereitet Jetlag seltsame Freuden. Rund eine Woche ist man aus dem Tritt: steht auf, wenn andere ins Bett gehen, geht ins Bett, wenn andere aufstehen. Plötzlich tickt der Körper nach einer anderen biologischen Uhr. Wenn ich keine Termine habe und meine Frau weg ist, blühe ich auf. Ich rasiere mich nicht mehr, lebe von Kaffee und Joghurt und verbringe vierundzwanzig Stunden im Pyjama, die meisten arbeitend. Endlich muss man nicht auf das Kleingedruckte des Gesellschaftsvertrags achten. Die alten Gewohnheiten kehren ohnehin schnell wieder. Ist der Rhythmus wieder normal, merkt man, daß Warmwasser und Seife nicht schaden könnten, auch gute Gesellschaft nicht...

Eugenides: Als Schriftsteller kannst du entweder wie ein Bohemien im ständigen Jetlag leben, nachts sozusagen, sogar am Tag, oder du hast Familie und Kinder, die dann eine Verbindung zur Welt herstellen. Ich lebe gern allein, aber einen Großteil der Zeit ist es doch so, daß der einsame Schriftsteller so mit sich selbst beschäftigt ist, daß er nur noch über sich selbst schreiben kann. Eine Familie kann aber auch verhindern, daß du eine tiefere Konzentrationsebene erreichst. Ist eben ein Kompromiß. Mir persönlich ist letzteres lieber. Stabilität erscheint mir auf lange Sicht das Bessere.

Fioretos: Berlin war mal die metaphysische Hauptstadt des Jetlags. Wenigstens die Westhälfte. Hier war das Leben irgendwie langsamer, isolierter, selbstbewußter, aber trotzdem noch so vielfältig, daß die verschiedensten Minderheiten zu ihrem Recht kamen. Es war ein Soziotop, verbunden, im Geiste, mit Außenseitern aller Lebenssphären. Und es war billig. Ideal für Schriftsteller.

Eugenides: Ich mag es noch immer. Ich bin jetzt im dritten Jahr hier. Es ist eine tolle Stadt zum Arbeiten. Vielleicht sähe ich das anders, wenn ich Berliner wäre. Damit meine ich, dass ich hier so gut arbeiten kann, liegt zum Teil daran, dass ich nicht von hier bin und Ablenkungen deshalb auf ein Minimum beschränkt sind. In New York war das anders. Ich kam nach Berlin, um dem Veröffentlichungswahn dort zu entfliehen und mein Buch fertig zu schreiben. Endlich.

Fioretos: Wie lange hat es gedauert?

Eugenides: Acht Jahre. Zwei weniger als der Trojanische Krieg …

Fioretos: Legendär genug, um Berliner Standards zu entsprechen.

Eugenides: Das Buch heißt Middlesex und ist ein komisches Epos. Der Erzähler ist Hermaphrodit – kein mythischer, sondern ein echter, 1960 in Detroit geboren. Wenn sich dein Name auf Eumenides reimt, kommst du um klassische Themen nicht herum. Ich habe mit dem Buch angefangen, lange bevor ich nach Berlin kam, aber ohne diese Stadt hätte ich es vielleicht nie fertig gekriegt. Ich hätte nicht gedacht, dass Berlin auch noch darin auftaucht, dann ist es doch passiert. Es hat sich in die letzte Fassung eingeschlichen. Aber ich sage lieber nicht zu viel darüber, bevor es erschienen ist …

Fioretos: Eine andere griechische Eigenschaft: Aberglaube.

Eugenides: Ja, sprich nicht über dein Buch, bis es nicht erschienen ist! Aber vielleicht können wir uns allgemein darüber unterhalten? Ich finde, erzählende Literatur ist nicht was aus alten Zeiten, sondern in der westlichen Literatur bei den eher fabulierenden Autoren lebendig geblieben. Ich meine die großen Lügnern, Swift und Rabelais natürlich, aber auch Leute wie Kafka und seine Nachfahren, Grass und Marquez. Was ist der magische Realismus anderes als die Fortführung bestimmter epischer Energien? Die Flussfahrt am Ende vonDie Liebe in den Zeiten der Cholera zum Beispiel lässt die Figuren in die Ewigkeit reisen, die Ewigkeit ihrer Liebe und des Alters. Das ist näher an Homer als an Hemingway. Wobei Hemingway auf die spartanische, heroische Weise episch ist.

Fioretos: Sparta gegen Ithaka: vielleicht sind das die beiden Extreme des Epos? Einerseits der stoische und schlanke Versuch, sich durch das dornige Leben zu schlagen. Ob nun als Agent hinter den feindlichen Linien der Existenz, wie bei Beckett oder Lispector, oder als einsame Seele, die sich der Unermesslichkeit des Meers oder des Dschungels gegenüber sieht, wie bei Hemingway oder Conrad. Andererseits der üppige, kinematoskopische Versuch, alle Facetten des Lebens in ihrer verrückten Pracht zu kosten. Sei es als Agent der Erinnerung, wie bei Proust und Woolf, oder als Bauchredner einer Zeit oder Stadt, wie bei Celine oder Döblin. Ich gestehe, ich habe eine Schwäche für Erzählformen, die als gut gemachte Lügen funktionieren, eine griechische Tradition so gut wie jede. Du weißt, diejenige, die listig von der Schönheit oder Hinfälligkeit der Welt singt dich dabei aber hinterrücks auf den Arm nimmt – auf geschmeidige, ja, liebevolle Weise. Vielleicht ist das eine Prosa, die weder aus Sparta noch von Ithaka stammt, sondern aus Troja? Eine, die der Konterbande verzaubernde Kunst gelernt hat und im Bauch des Romans hereinschmuggelt, was sich als das Verderben des Lesers herausstellen wird?

Die Tugenden und Laster der Familie

Eugenides: Da sagst du was … Troja, das ist meine genetische Heimatstadt. Meine Großeltern waren Seidenzüchter in Kleinasien. Was trojanische Pferde angeht, stimme ich dir zu, dass Täuschung ein notwendiges Element des literarischen Schreibens ist. Aber ich glaube, ihre Anwendung verändert sich mit der Zeit. Ich hatte immer den Eindruck, daß der Postmodernismus im wesentlichen eine Fortsetzung des Modernismus war. Die Modernisten, wie die abstrakten Expressionisten, versuchten immer die Farbe in ihren Gemälden zeigen. Sie wollten, dass das Eigentliche im literarischen Text selbst stattfindet. Bei Joyce findet auf der Seite genauso etwas statt wie „draußen in der wirklichen Welt“. Die Postmodernisten setzten diesen Trend fort, indem sie das Augenmerk auf Erzählkonventionen und literarische Kunstgriffe lenkten. Trotz des ironischen, manchmal auch überheblichen Tons in manchen ihrer Werke war ihr Hauptanliegen Ehrlichkeit. Die alten Methoden der Transparenz überzeugten den Leser nicht mehr. Das Paradox war Folgendes: Um den Leser dazu zu bewegen, deine Geschichte zu glauben, musstest du sie an einem bestimmten Punkt untergraben. Das geht natürlich seit Tristram Shandy so, aber diese Strategie wurde in den Siebzigerjahren wieder nützlich, hauptsächlich als Gegengift gegen die Glätte der Medien. Wo man auch hinsah, man wurde getäuscht – von der Werbung, von der Politik –, also wehrte man sich dagegen, indem man auf den Kunstcharakter der Literatur verwies und beim Leser dadurch wieder Vertrauen herstellte. Und jetzt, am Ende des Weges, kommen wir ins Spiel. Die amerikanischen Schriftsteller meiner Generation wuchsen mit Postmodernismus und Ironie auf. Das haben wir im Blut, aber sind in unserem Ansatz weniger doktrinär. Der Postmodernismus ist wie der Kommunismus: in der Theorie besser als in der Praxis. Es mag ja ganz aufregend klingen, dass das Erzählen am Ende ist, dass man keine Geschichten mehr schreiben kann, aber wenn man diesem Edikt folgt, wird das, was man schreibt, letztlich trocken, programmatisch und literarisch selbstbezogen. Da sind die Regale im Geschäft ziemlich schnell leer. Autoren wie David Foster Wallace, Donald Antrim und Jonathan Franzen sind mehr oder weniger postmodern, aber alle wollen sie Geschichten erzählen. Wir sind mit dem Modernismus groß geworden, viele Autoren meiner Generation versuchen sich dennoch, glaube ich, an einer Verbindung aus Modernismus, Postmodernismus und dem guten alten Realismus. Tolstoj durch Pynchon. Wir wollen Pounds Diktum folgen, „es neu zu machen“, uns ist aber klar, eine bestimmte Form des Experimentalismus ist heute überhaupt nicht neu . Neu könnte eher etwas an der Stimme oder am Inhalt sein als an formaler Innovation …

Fioretos: Als Leser mag ich den realistischen Roman, wie du ihn beschreibst, hege aber gewisse Bedenken. Meines Erachtens verlässt er sich ziemlich stark auf das Prinzip der Erkennbarkeit. Der Generationenkonflikt ist der Motor, der diese Form des Epos antreibt. Einerseits gibt es den vorhersehbaren Versuch der Jüngeren, die Gewohnheiten der Älteren zu korrigieren, andererseits die Bestürzung der Älteren, wenn sie sehen, wie erkannte Tugenden als erklärte Laster behandelt werden. Franzen zeigt in The Corrections, wie robust, aber auch wie programmatisch diese Konfrontation sein kann. Als realistischer Roman dreht er sich eher um die Familie als um Generationen, voller kluger Reflexionen, charmanter Psychologie und ein bisschen Slapstick steckend. Von einem Buch verlange ich aber mehr als die bloße Bestätigung von Dingen, mit denen ich bereits vertraut bin. Mir ist ein geiwsser Schuss Wahnsinn oder Magie lieb, etwas Überraschendes, Erstaunliches, vielleicht sogar die eine oder andere Anomalität … All dies, wohl bemerkt, in der soliden Form einer Erzählung. Vielleicht bin ich bloß nicht amerikanisch genug.

Eugenides: Ich glaube, Erkennbarkeit ist ein wichtiger Teil dessen, was die Leute an der amerikanischen Literatur mögen: dass sie sich in der Literatur gespiegelt sehen; dass da einer die Sachen beschreibt, die sie eigentlich von alleine sehen müssten, es aber nicht tun. Die Amerikaner kommen dem sehr stark entgegen. In der Hinsicht ist Franzens Buch fast makellos. Es gibt einem ein realistisches Bild der Welt; mittels eines großen künstlerischen Aufwands reproduziert es die Welt, und gegen seine Darstellung vom Amerika der Neunzigerjahre ist nichts einzuwenden. Mein Buch basiert da eher auf Intuition. Es handelt von etwas, was nur sehr wenige persönlich kennen, den Hermaphroditismus, über den so noch nie geschrieben wurde.

Fioretos: Mit einem Hermaphroditen als Erzähler hast du einen gewählt, der steril ist – das heißt, eine Person, bei der die Linie einer Familie endet. In gewisser Weise muss Middlesex vom Ende des Familienepos handeln. Das gefällt mir. Ein amerikanisches Unternehmen. Natürlich kann sich ein solches Ende nur in Detroit ereignen, der Heimat der mobilen Einsamkeit: des Autos. 

Eugenides: Trotz unserer Besessenheit von Identität lieben die Amerikaner auch Geschichten über Fremdheit, über Neuerfindung. Highsmiths Tom Ripley ist da ein gutes Beispiel. Ich glaube, wir sind gerade an einem Punkt angelangt, wo die ganze multikulturelle Bewegung ihr Interesse auf voramerikanische Dinge lenkt. Erst wollten alle rein – da gab es dann Romane wie Bellows Augie March, ein Buch von einem Juden, der sich wenig um sein Jüdischsein scherte und gleich in der ersten Zeile erklärte: „Ich bin Amerikaner.“ Jetzt versucht man in den Staaten, ethnische Wurzeln wiederzubeleben. Man spürt, dass die Geschichte schon vor 1776 angefangen hat.

Fioretos: Im Gegensatz dazu wird in Deutschland oft behauptet, die Familiensaga sei unmöglich. Die These scheint zu sein, dass die Zeit vor 1933 und nach 1945 von einem Generationenepos nicht überbrückt werden kann. Ein zweites Buddenbrooks, im Lichte der Rassenpolitik und der eugenischen Programme geschrieben, sei undenkbar. Nimmt man sich dennoch Thomas Mann zum Vorbild, heißt es, dass man Revisionismus betreibt. Ich habe nie verstanden, was an Mann so groß sein soll. Aber nur weil sein Werk seine Rolle möglicherweise als literarisches Ideal ausgespielt hat, bedeutet das nicht, dass Epos und Familie aufgehört haben, als Institutionen zu existieren. In dieser Form ist das Argument eben typisch deutsch. Das hängt mit dem Bezug der deutschen Literatur zur Frage der historischen Kontinuität zusammen. Vielleicht wird eine dritte Nachkriegsgeneration von Autoren diese Thematik mit mehr Kaltblütigkeit behandeln können. Jedenfalls geht mir das ständige Gerede von „Vergangenheitsbewältigung“ auf die Nerven. Ist es denn wirklich möglich, die besondere Vergangenheit, von der man spricht, mit mehr oder weniger vielem Gewalt zu “ bezwingen? Ist es nicht eher etwas, mit dem man leben muss? Und daher ein Erbe?

Eugenides: Geschichte ist gewiß keine Negation der Familie. Ich fände es sehr schön, ein deutscher Schriftsteller zu sein und mich mit diesen Problemen auseinanderzusetzen, ein neues Buddenbrooks zu schreiben, das in den Zwanzigerjahren anfangen und heute enden würde. Oder noch besser: ein großes türkisch-deutsches Familienepos. Das wäre bestimmt ein ungeheurer Roman, der dann auch nationale Grenzen überschreiten und für andere Länder interessant sein könnte.

Fioretos: Wenn Anna Karenina und Buddenbrooks die Twin Towers der realistischen Familienchronik sind, dann ist ein Buch wie Ada hinsichtlich seiner literarischen DNA weniger pur. Auch in Nabokovs Roman werden Generationsprozesse beschrieben. Aber es geschieht mit einem wacheren Bewusstsein vom Einfluss der Sprache auf unser Selbstverständnis und der Vergeblichkeit, die Menschen ausschließlich in Bezug auf ihre Genealogie zu verstehen. Vielleicht ist die Liebe, die er beschreibt, daher auch inzestuös? Für mich ist diese Abweichung im historisch-genetischen Paradigma ein klarer Gewinn für die Literatur. Ich könnte mir denken, dir ist in deinem Buch an einer ähnlichen Verstörung gelegen. Wenigstens müsste der Hermaphroditismus deines Erzählers das beeinflusst haben, was du „Stimme“ nennst.

Eugenides: Es hat mich fast fertiggemacht. Ich habe über zwei Jahre damit verbracht, die ersten fünfzig Seiten des Buchs umzuschreiben und die richtige Stimme zu finden. Das war eine harte Nuss. Das Geschlecht hat mich einiges gekostet. Einerseits musste die Stimme elastisch genug sein, um Erfahrungen vom männlichen ebenso wie vom weiblichen Standpunkt zu transportieren. Zusätzlich musste sie manchmal auch in der Lage sein, epische Geschehnisse in der dritten Person zu erzählen, und dann wiederum, die psychosexuelle Angst in der ersten Person zu dramatisieren. Erst dachte ich, das müsse bedeuten, dass die Stimme irgendwie „heramaphroditisch“ sein muss. Mein Erzähler hat das sogenannte „5-alpha reductase deficiency“-Syndrom. Bei diesem Leiden sieht die Person bei der Geburt wie ein Mädchen aus, nimmt aber in der Pubertät männliche Züge an. Zu der Zeit, als der Erzähler die Geschichte erzählt, ist er äußerlich ein Mann. Damit war ich weitgehend aus dem Schneider. Aber die ganze Geschichte konnte ich erst erzählen, als ich erkannte, dass mein Erzähler genauso individualistisch wie jeder andere auch würde und dass er zu der Zeit, als er das Buch schrieb, eine hinreichend männliche Identität hatte, so dass ich die ganze Geschichte erzählen konnte. Schließlich beschloss ich, das zu tun, was die Natur eben auch tut – eine ausgeprägte Persönlichkeit zu schaffen – mit Tugenden und Lastern und so weiter.

Das mit dem Sex

Fioretos: Wie Bücher sind auch Menschen nicht durch das unwiderstehlich, was sie mit andern gemeinsam haben, sondern durch das, was sie einzigartig macht. Seltsamerweise teilen sie – wie überhaupt jeder gute Text – gerade diese Einzigartigkeit am wahrsten mit anderen. Die echte Heimat der Literatur ist nicht die Nation, sondern die Bibliothek. Schriftsteller, die das nicht erkennen, produzieren Illustrationen, statt Beispiele zu geben. In gewisser Weise hat es mit Ehrlichkeit zu tun. Solange man die Idiosynkrasien der Figuren, die man erfunden hat, respektiert, ist der Text überzeugend, egal, wie holprig die beschriebenen Lebenswege sein mögen. Besonders bei komischen Epen ist Offenheit entscheidend. Ich habe Zweifel, dass sie überzeugend sind, wenn ihr Ton nicht im Einklang mit ihrem Thema steht. Vielleicht entsteht so Ehrlichkeit? Die Nahtstellen eines Texts aufzuzeigen, das gehört dazu – so als würde man zum Leser sagen: „Wir wissen beide, dass das erfunden ist. Hier sind die Stricke, da der Leim und die Nägel, die die Szenen zusammenhalten. Aber du wirst sehen, diese Dinge machen die Geschichte glaubhaft …“

Eugenides: Du erhöhst den Einsatz …

Fioretos: Wie ein Zauberer, der dir seinen Hut und das Kaninchen zeigt, dich aber trotzdem noch überraschen kann. Das funktioniert nur, wenn du das Vertrauen des Lesers nicht beleidigst. Deshalb misstraue ich dem Avantgarderoman in seiner klassischen, von den Postmodernisten „aufdatierten“ Form: er mag seinen historischen Zweck erfüllen, drängt sich aber dem Leser sehr auf. Keine Anmut, keineList. Und viel zu viele Metakonstruktionen. Vermutlich kann der Roman mehr erreichen, heimtückischer, erkenntnisreicher sein, wenn er nicht versucht zu schockieren, sondern Nerven zu kitzeln. Lust und Zittern sind nicht die schlechtesten Prinzipien für einen Schriftsteller . Warum die Welt bekämpfen, wenn es möglich ist, sie neu zu erfinden? Außerdem bezweifle ich, dass ein Artefakt auf Dauer ohne ein wenig Schönheit auskommt.

Eugenides: Du magst es zwiedeutig …

Fioretos: Als ich meinen letzten Roman schrieb, wollte ich, dass er wie guter Sex sein sollte – metaphorisch gesprochen. Nun, guter Sex ist die prekäre Balance zwischen Aufrichtigkeit und Verführung. Also brauchte ich jede Menge Vorspiel. Die Geschichte konnte nicht gleich zur Sache kommen, sondern musste den Leser allmählich aktivieren – Sinn für Sinn –, was bedeutete, dass das Buch erst nach fünf, sechs Kapiteln richtig auf Touren kam. Der Roman, an dem ich jetzt arbeite, ist anders. An trüben Tagen denke ich, er ist nicht mehr als ein One-Night-Stand: kurz und kaum besonders schön, mit einer gereizten Explosion am Ende … Während der Arbeit ist mir bewusst geworden, dass das Werk glaubhaft bleibt, egal, was für unwahrscheinliche Stunts man zu versuchen bringt, wenn nur der Ton mit dem Inhalt gemeinsame Sache macht. Diese Balance zu finden, ist schrecklich wichtig. Ich glaube nicht an Romane, die schockieren wollen. Sie legen das ganze Gewicht entweder auf den Ton oder das Thema; sie hinken. Dagegen interessiert mich der Roman, der den Leser zu kompromettieren versucht. Versteh‘ mich nicht falsch: Ich möchte nicht, dass der Text gemein oder überheblich sein soll. Aber was wäre die Literatur, wenn sie nicht auch glatt und verschlagen wäre – ja, verführerisch auf alle Arten, die ihr zur Verfügung stehen? Vielleicht ist das der Roman als trojanisches Pferd? Natürlich würde kein Autor, der noch bei Trost ist, den Leser erschlagen wollen. Aber wenn du es schaffst, ihn auf eine Weise zu kompromettieren, dass dabei klar wird, dass der Text auf seiner Seite steht – sozusagen schon mitten in ihm, wie Odysseus‘ Holztier –, dann kann eine Einsicht reifen, die sehr intim, sehr real ist. Hat man Glück, läuft dem Leser sogar ein Schauder über den Rücken, das sicherste Zeichen dafür, dass der Schwindel geglückt und der Text die Mühe wert gewesen ist.

Eugenides: Deine Sexmetapher erinnert mich an etwas anderes, das damit zu tun hat, wohin es mit dem Roman geht: diese Idee des Hypertexts, in die Robert Coover und Mark Amerika so vernarrt sind. Roland Barthes behauptete, der Autor sei tot. An die frühere privilegierte Stelle des Autors setzte Barthes den Leser. Heute will jeder seine eigenen Geschichten schreiben, vermutlich, um eine Vielzahl von Handlungen zu erhalten, eine davon auszuwählen und das Ende dann selbst zu bestimmen. Daran habe ich nie geglaubt. Das Vergnügen beim Lesen kommt daher, dass man von einem außergewöhnlichen Talent an Orte geführt wird, an die man allein niemals gelangt wäre. Und da kommt deine Metapher ins Spiel. Denn was ist besser: dass jemand etwas mit einem macht oder es selber zu machen?