Die Seelensucherin
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Roman · Originaltitel: Stockholm noir (Revidierte Ausgabe 2019: Irma, 25) · Übersetzung: Paul Berf · Köln: DuMont, 2000, 357 Seiten · Umschlag: Groothuis & Consorten, Hamburg · ISBN: 3-7701-5352-9
Klappentext
An einem Dezembertag im Jahr 1925 beschließt Vera Grund, den Zug von Berlin in Richtung Norden zu nehmen. Ihr Reisegepäck: ein Koffer mit etwas Kleidung, ein Stadtplan von Stockholm und ein paar Adressen. Vera ist auf Entdeckungsreise in ihre Vergangenheit. Eine Tochter will ihren Vater aufsuchen, den unbekannten Mann, über den ihre verstorbene Mutter nie ein böses Wort verloren hat. Drei Tage wird sie in der schwedischen Hauptstadt bleiben. In einem alten Privatpalais blättert zur gleichen Zeit Professor Schaumberg in seinen Akten. Er ist ein in Verruf geratener „Seelenbiologe“, ein fanatischer Wissenschaftler, der eine endgültige Antwort auf die Frage finden will, wo die menschliche Seele ihren Ort hat. Früher war Schaumberg ein gefeiertes Mitglied der Akademien seines Landes und Gründer des mythenumwobenen „Clubs der Gehirne“. Die Schicksale von Vera Grund und Professor Schaumberg sind enger miteinander verwoben, als beide wissen können.
Aris Fioretos’ erster Roman „Die Seelensucherin“ beruht auf historischen Ereignissen und erzählt von einem Wissenschaftsdenken, das nur wenig später in der nationalsozialistischen Rassenbiologie zu grausamer Wirklichkeit wurde.
Auszug
Sie entdeckte, sie war zu einer winterlich gekleideten Oase mitten in der Stadt gelangt. Umgeben von vornehmen Fassaden, erhob sich vor ihr eine schöne Backsteinkirche. Der Platz um das Gebäude schien nicht sehr groß zu sein, aber machte einen friedvollen und geräumigen Eindruck – so als würde man einen schläfrigen Zweig beiseite schieben und eine wache Lichtung vorfinden. Aus der gleichmäßigen Schneefläche erhoben sich weißgesäumte Scheiben. Grabsteine. Ein Stückchen weiter weg spielten zwei Jungen. Beide hatten rote Gesichter, und der eine hatte Mütze und Handschuhe auf einem Geländer aus Ketten abgelegt, das unbeholfen, aber doch voller Pietät versuchte, den Frieden eines Familiengrabs zu bewahren. Sein Haar war ein feuchtes, blondes Wirrwarr, und mit wegrutschenden Stiefeln schob er nun seinen Kameraden an, der sich im Schneidersitz hockend an den Rändern von einer Art Teller festhielt. Der Junge ächzte und rutschte ein paar Sekunden, aber dann begann das Fahrzeug mit der perfektesten Einfachheit – keine Tricks, keine Dramatik – zu beschleunigen, und seine schreiende Fracht wurde schnell und hoppelnd einen Hang hinabbefördert. Zwanzig Meter und halbso viele Sekunden später blieb das Frachtstück stehen. Der Teller, wenn es sich denn wirklich um einen solchen handelte, war aus Stahl und vom Vater eines der Jungen, der von Beruf Schmied war, gefertigt worden. Er gab ein letztes, schleppendes Lispeln von sich. Dann entwirrte sich der gekenterte Inhalt, steckte die Hand in den Ledergriff an der Seite des Fahrzeugs und lief mit schräggestellten Schritten wieder den Hang hinauf. Jetzt war er noch einmal an der Reihe.
„Noch einmal?“
„Ja, du hast schon –" Eine Droschke verschluckte den Rest der Antwort.
Vera wartete, bis das Auto vorbeigefahren war, ehe sie die Straße überquerte und den Friedhof betrat. Ein halb verschneiter, notdürftiger Trampelpfad zeigte an, daß die Stockholmer diesen Weg manchmal zu jener abschüssigen Straße nahmen, die auf der anderen Seite verlief. Sie blieb in ein paar besonders großen Fußabdrücken stehen, in denen sich mindestens vier Individuen seit dem Vormittag gedrängelt hatten. Die Sonne war nur eine diesige Scheibe über den Dachgiebeln im Westen. Ohne daß sie es bemerkt hatte, begann der Tag bereits sich zu neigen. Die Baumstämme um sie herum waren breite, schwarze Pinselstriche, mit dünneren, verästelten Strichen, auf denen hier und da zentimeterhohe Häuflein wagemutigen Schnees balancierten. Schon war die Dunkelheit dabei, sich in ihren flehenden Kronen zu sammeln. Jemand öffnete ein Fenster – und genau in diesem Augenblick geschah es: Die großen Flocken, die während der letzten Stunde die Luft mit solch feuchter, ruhiger Würde verdichtet hatten, hörten auf zu fallen. Von einem Augenzwinkern zum nächsten konnte Vera plötzlich sehen, wie der Schneefall endete, so als wäre die Zeit stehengeblieben und als bräuchten die letzten Sandkörner, die sich soeben durch die korsettgeschnürte Mitte des Stundenglases bewegt hatten, nur noch zur Ruhe zu rinnen, ehe alles still wurde.
Alles wurde still. Alles wurde schwindelerregend still. Stumm und verwundert folgte Vera der gemächlichen Reise der letzten Flocken zur Erde, wo sie unverzüglich mit eigentümlicher Zerstreutheit verloren gingen. Die Luft war rein und unbefleckt, oder vielmehr leer, und sie konnte ihre eigenen Atemzüge hören.
Erst jetzt geschah allerdings das wirklich Eigenartige – doch eigentlich geschah es nicht, sondern offenbarte sich vielmehr wie in einem Traum oder, da wir uns in einer Oase befinden, wie in einer Luftspiegelung. Auf einmal erinnerte sich Vera der feuchten Flocken, und wieder sah sie, wie sie auf die Erde fielen, träge und schaukelnd, wie kleine Gondeln aus gefrorenem Wasser. Dieses Bild in ihrem Inneren währte nicht sonderlich lange, schwer zu sagen, wie lange, aber die Zeit reichte aus, um einen visuellen „Reim“ entstehen zu lassen. In den wenigen Sekunden, die es gedauert haben mag, schien es, als hätte Vera das seltsamste aller metaphysischen Abenteuer erlebt: das Aufhören der Zeit.
Diese Flocken hatte es gegeben; sie hatten wirklich aufgehört zu fallen; und gleichwohl hatte sie auch eine Erinnerung an sie – weiße, glänzende Schatten, zurückgeblieben auf Veras Netzhäuten, keinesfalls weniger naß oder schweigsam. Wie eigenartig! Sie hatte gesehen, wie die Zeit endete, und es war, als habe sie ein vergangenes Jetzt besucht. Anders konnte sie nicht in Worte fassen, was sie erlebt hatte. Sie war dort gewesen, in ihrem Inneren in der Welt, nein: sie war dort gewesen, in der Welt in ihrem Inneren, und in dem sanften Intervall, in dem visuellen Rhythmus, der entstanden war, war die Zeit tatsächlich stehengeblieben. Hätte man sie später gebeten, ihr Gefühl wiederzugeben, wäre es ihr möglich gewesen, alles zu rekonstruieren, absolut alles, die Bäume, das Licht, den großen, schallenden Raum gleich oberhalb der letzten Schicht aus Flocken, die wie Federn herabschaukelten, alles, alles, außer diesem einzigen, schwindelnden Etwas, auf das es angekommen war: „der Reim“ zwischen Ereignis und Erinnerung.
Vera lächelte. Die hauptsächliche Vera, tatsächlich die einzige Vera, auf die es ankam, lächelte. Sie hätte nicht sagen können, warum, aber das Gefühl, die Vergänglichkeit aufgehoben zu haben und dabei begriffen zu haben, daß sie bedeutungslos war, erfüllte sie mit sanftem, fast schon beängstigendem Glück.
Alles äußerst unverständlich. Mehr darüber in Kürze.
Seiten 118–121.
Rezensionen
„Fioretos spart nicht an Zeitkolorit und einprägsamen Requisiten; Kleidung, Habitus und Umgangsformen sind bis ins Detail nachempfunden. Simultaneität ist das grundsätzliche ästhetische Prinzip dieses Romans, immer wieder wird man direkt in das Geschehen eingebunden, mit Eleganz zieht Fioretos seine erzähltechnischen Register, zwingt den Leser durch unmittelbare Tempussprünge und Perspektivwechsel zu eben jener gespannten Wachheit, die auch seinen Figuren eigen ist. . . . Die Seelensucherin ist ein ungemein ambitioniertes Buch, doch Fioretos beherrscht die Kunst der Leichtigkeit, des unangestrengten Nachdenkens.“ – Maike Albath, Der Tagesspiegel
„Ein bezauberndes Buch!“ – Brigitte
„Aris Fioretos, der 1960 geboren ist, kann auf verdächtig suggestive Weise Alltagsszenen jener Zeit einfangen . . . Die Szenerie in einem kleinen Stockholmer Privathotel . . . ist minutiös abgefilmt, einschlägige Personen . . . sind zeittypisch charakterisiert und akzentuiert . . . Man sieht die Bilder unwillkürlich im etwas schummrigen Schwarzweiß aus der Stummfilmzeit. Das Zeitkolorit ist nicht einfach nur aufgetragen, es durchdringt die Sätze, lässt sie erst entstehen. . . . Fioretos’ Romanmodell geht weit über bloße satirische Züge hinaus, es ist ein faszinierendes Spiel mit Fragen und Möglichkeiten der Erkenntnis.“ – Helmut Böttiger, Frankfurter Rundschau
„Aris Fioretos Roman Die Seelensucherin kündigt eine neue Epoche der literarischen Wissensskepsis an.“ – Ingeborg Harms, Literaturen
„ . . . dicht und faszinierend . . .“ – Harald Hartung, Frankfurter Allgemeine Zeitung
„Eigenständig, souverän, klug … unbedingt empfehlenswert! – Michael Krüger, Lehmkuhl Unsere Auswahl 2000
„In seinem ersten Roman kombiniert Aris Fioretos die Vatersuche einer jungen Frau zwischen Berlin und Stockholm in den Jahren des Präfaschismus mit einem Stück abseitiger und versunkener Wissenschaftsgeschichte und stellt die Frage nach dem Sitz der Seele. Der Roman ist eine Gratwanderung entlang den finstersten ideologischen und pseudowissenschaftlichen Obsessionen des vergangenen Jahrhunderts, ohne je seine helle Vernünftigkeit einzubüßen.“ – Sigrid Löffler, SWR Bestenliste
„Was er beschreibt, ist plastisch, wie er schreibt, das ist so eloquent wie dicht.“ – Simon Obert, Südkurir
„Virtuos vernetzt Fioretos nicht nur die verschiedenen Erzählebenen, sondern auch reale Wissenschaftsgeschichte mit erdachten Schicksalen und erweckt doppelte Spannung. . . . eloquent, belesen, stilsicher . . . Eine perfekte Mischung aus Facts und Fiktion, an die historisch-literarischen Verknüpfungen der Antonia Byatt erinnernd. So amüsant war das Denken schon lange nicht.“ – Ditta Rudle, Buchkultur
„Fioretos’ Romandebüt ist ein merkwürdiges Pastische aus Kriminalroman, Liebesgeschichte und rabenschwarzer Groteske, das zusammengehalten wird durch die dichte Verwebung seiner Themen und Motive: unheimliche Parallelen zwischen der Struktur des Gehirns und dem Aufbau der schwedischen Hauptstadt werden hergestellt, und der Schnee, der durch das ganze Buch rieselt und Stadt und Welt unter sich begräbt, stiftet immer neue Bezüge: vergessen und Migräne, Aphasie und Neuronen, Erzählen und Tod.“ – Alex Rühle, Süddeutsche Zeitung
„Großartig, wie der Autor die zu Beginn gestellte Aufgabe bewältigt, jedes kleine Detail mit kunstvoller Selbstverständlichkeit einer späteren Verwendung zuzuführen. Fesselnd, kitschfrei, anspruchsvoll. Ein literarischer Glücksfall, hinter dem sich weder die intellektuelle Disziplin des Autors noch seine sinnliche Genauigkeit halbherzig verstecken. Einfach zum Lachen ernst.“ – Kathrin Schmidt, Freitag
„Ein phantastisches Stück Literatur . . . [Fioretos] tut, was Romane tun sollen, was fast ihre höchste Aufgabe ist: hier wird mit poetischen Mitteln Erkenntnis gezeugt.“ – Hubert Winkels, Kulturzeit