Atlas

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Information

Fallgeschichten zur Vermessung von Körper und Seele · Gekürzte Fassung von Atlas (2019) · Aus dem Schwedischen von Paul Berf · Salzburg: Residenz Verlag, 2020, 181 Seiten · Reihe »UNRUHE BEWAHREN« · ISBN 978-3-7017-3518-1

Klappentext

In vierzehn Prosaerzählungen – „Fallstudien“ genannt – schildert Aris Fioretos das Bild vom neuen Menschen, geprägt von medizinischen Errungenschaften, das in den Jahrzehnten um 1900 entsteht.

Atlas ist nicht nur der Name des Titanen, der den alten Griechen zufolge den Himmel trug, sondern auch die Bezeichnung, die der niederländische Kosmograph Gerardus Mercator, der ersten Zusammenstellung von Karten über die bekannte Welt gab. Während Seefahrer und Astronomen die Umgebung des Menschen kartierten, brachen die Mediziner zu Entdeckungsreisen in sein Inneres auf. Auch für die Ärzte wurde Atlas zum Vorbild für jeden, der „Wahrheiten in noch unbekannten Dingen“ suchte. Sachlich, aber zärtlich, klardenkend und leidenschaftlich musste dem Menschen, der den Blick nach innen wandte, um sein ebenso endliches wie veränderliches Wesen zu verstehen, eine scheinbare Zumutung gelingen: die Unruhe zu bewahren.

Mit Hilfe der Fiktion gestaltet Aris Fioretos Fragen, die von der Medizin offengelassen werden. Sitzt die Seele an einer bestimmten Stelle im Körper? Ist die Haut wirklich die Grenze eines Menschen? Kann er sich zu Weisheit schlafen?

„14 Milliarden Hirnzellen im Kopf eines Menschen, ebensoviele Himmelssonnen im Weltgebäude der Milchstraße, zwischen beiden, weder diese noch jene begreifend – der Mensch, der sie entdeckt hat.“ – Fritz Kahn

Aris Fioretos, geboren 1960 in Göteborg, ist schwedischer Schriftsteller griechisch-österreichischer Herkunft. Viele seiner Bücher sind ins Deutsche übersetzt worden, zuletzt Wasser, Gänsehaut (Essay über den Roman, 2017) und Nelly B.s Herz (Roman, 2020), beide im Carl Hanser Verlag erschienen. 2010 hat Fioretos die erste kommentierte Werkausgabe von Nelly Sachs sowie eine Bildbiographie über die Autorin veröffentlicht. Für sein Werk wie für seine Übersetzungen – er übertrug u.a. Friedrich Hölderlin, Vladimir Nabokov und Jan Wagner ins Schwedische – hat er zahlreiche Preise erhalten. Zu den Auszeichnungen im deutschsprachigen Raum gehören der Literaturpreis der SWR Bestenliste 2011, der Jeanette-Schocken-Preis der Stadt Bremerhaven 2017 und das Bundesverdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland 2019. Seit 2011 ist Aris Fioretos Vizepräsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt. Er lebt und arbeitet in Stockholm.

Vorwort

Atlas, agitiert

auf dem Bild sitzt Atlas in der linken unteren Ecke auf einem Felsen. Seine Haltung ist schlaff, der Körper grau und malträtiert, der Bart struppig. Der Titan, der seit Menschengedenken Himmel und Erde auseinandergehalten hat, wünscht sich nur eins: Ruhe.

Vor ihm steht auf einem grasbewachsenen Hügel Herakles. Der Blick des Halbgotts ist fest, seine Haltung trotz des Himmelsgewölbes auf den Schultern sicher. Seine Gestalt wird von einem lebhaften, grünen Busch umrahmt, hinter dem sich graublaues Wasser ausbreitet. Den Säulen nach zu urteilen, die zu beiden Seiten des Bilds die Felsen krönen, handelt es sich um die Straße von Gibraltar, jene sechzig Kilometer lange Wasserstraße, die zwei Meere verbindet und zwei Kontinente trennt. Dem Mythos zufolge lebte der Titan in dieser Gegend, die in der Antike als westlichster Rand der bekannten Welt gesehen wurde. Der Blickwinkel platziert den Betrachter somit zwischen dem Atlasgebirge in Afrika und dem europäischen Festland. Am Horizont zeichnet sich eine ferne, blaue Gebirgskette ab – wahrscheinlich Atlantis, das laut Platon »jenseits der Säulen des Herakles« lag.

Das fast quadratische Gemälde (109,7 x 98,8 cm) in Öl auf Holz entstand nach 1537 in der Werkstatt von Lucas Cranach dem Älteren. Es ist Teil einer Reihe, die die zwölf »Arbeiten« des Herakles schildert. In der linken oberen Ecke steht eine Bildlegende: syderevm fesso gestat atlante polvm, »Er trägt den Sternenhimmel, wenn Atlas müde ist.« Das Bild spielt auf die vorletzte Tat des Helden an. Herakles soll die goldenen Äpfel pflücken, die den drei Töchtern des Atlas, den Hesperiden, anvertraut wurden, aber von einem hundertköpfigen Drachen bewacht werden. Als Herakles ankommt, bittet er um Hilfe. Wenn der Titan die Früchte hole, verspricht er, im Gegenzug für eine Weile das Firmament zu tragen – ut quiescat Atlas, mit jener Devise, die Philip II. von Spanien später popularisieren sollte: »so dass Atlas ruhen darf«.

Das Gemälde zeigt eine Pause im Mythos. Noch ist der Titan nicht überlistet worden, von Neuem seine Last zu schultern; es ist fraglich, ob er die Äpfel überhaupt schon geholt hat. Das Bild zeigt eher Gegensätze, als einen Verlauf zu schildern. Beide Männer beugen den Oberkörper, aber in verschiedene Richtungen. Herakles steht, während Atlas sitzt. Der Jüngling stemmt die Hand kraftvoll in die Hüfte, der Alte legt seinen Unterarm träge auf den Oberschenkel. Trägt der Halbgott seine Last auf stabilen Schultern, so ist die einzige Bürde des Titanen sein schwerer Kopf. Dieser Unterschied ist entscheidend, er schafft eine Parallele zwischen zwei Sphären, die beide gestützt werden müssen: Schädel und Firmament. Die Gehirnzellen im Inneren des Kraniums erweisen sich als die funkelnden Sterne am Himmelsgewölbe. 

Sechzig Jahre später kehrt der Titan mit frischer Kraft zurück, und zwar in jener Publikation, durch die er mehr werden sollte als ein Name in der Mythologie. Auf dem Titelbild zu Gerardus Mercators Atlas von 1595 sitzt er auf einem felsengleichen Thron, vorgebeugt, aber in resoluter Pose, ein Mann in den besten Jahren. Zwischen seinen Füßen liegt regungslos die Erde, in den Händen hält er eine graue Kugel. Seinem konzentrierten Blick nach zu schließen, sinnt Atlas soeben über die Konstellationen des Äthers nach.

Der Globus ist die Welt, in der sich der Mensch mit Hilfe von Längen- und Breitengraden orientiert. Sie besteht aus Erde und Wasser, Höhen und Tiefen; sie lässt sich mit Hilfe von Instrumenten vermessen und kartieren. Die Sphäre in den Händen des Riesen enthält dagegen eine Welt, die gleichermaßen im Inneren wie im Äußeren existiert. Der graue Raum ist leicht wie Luft, ja, schwerelos. Wenn Atlas seine Geheimnisse zu ergründen wünscht, muss er seine Vorstellungskraft nutzen.

Schon bald wird sich dieser so leidenschaftliche wie sachliche Blick auf eine Welt richten, die sich trotz der Leistungen von di Luzzi und Vesalius einige Jahrzehnte zuvor als nur unzulänglich erforscht erweist. Dann wird der Name des Titanen nicht nur die Bezeichnung für eine Sammlung von Karten sein, versehen mit weißen Randzonen, in denen sich Untiere und Fabelwesen tummeln, sondern auch für die Beschreibung der menschlichen Anatomie in stets verfeinerten Bildtafeln. Die Neugier gilt dem endlichen Wesen, das Gryphius ein knappes Jahrhundert später »der leichte Mensch« nennen sollte. Von den Formen der Glieder und den Umrissen der Knochen dringt der Blick durch die Oberhaut zur Lederhaut sowie Unterhaut, weiter hinab zu den Sehnen und Muskeln, den Lymphdrüsen und dem Bindegewebe – um über die inneren Organe und die Eigentümlichkeiten des Nervensystems schließlich das Feuerwerk der Synapsen und das mysterium tremendum (das Bewusstsein) et fascinans (Selbstbewusstsein) des biologischen Organismus zu erreichen.

Fritz Kahn formulierte die Verblüffung des Menschen angesichts seiner Eigenart mit gewohnter Schlagfertigkeit, als er in einer Beschreibung von Der Mensch, gesund und krank festhielt:

14 Milliarden Hirnzellen im Kopf eines Menschen, ebensoviele Himmelssonnen im Weltgebäude der Milchstraße, zwischen beiden, weder diese noch jene begreifend – der Mensch, der sie entdeckt hat.

Während die Außenwelt gewaltiger ist, als der Einzelne zu erfassen vermag, findet die innere – unglaublich, aber wahr – in einer Nussschale Platz. Seit Plinius der Ältere von einer Handschrift berichtete, in der die Ilias»in einer Nussschale« (in nuce inclusam) enthalten war, steht dieser Ausdruck für etwas, das zu seinem Wesen zusammengeballt wird – ein Stoff in verdichteter Form, dessen Quintessenz. Die zerfurchte Hülle zeigt, dass im Kleinen für unendlich vieles Platz ist; es kommt nur darauf an, es ordentlich zusammenzufalten. Und umgekehrt: Das Dasein bietet genügend »Nüsse«, von der Art, die Hamlet für sich reklamierte. Einerseits behaupten die Astronomen, das Universum sei unfassbar viel größer, als der Mensch es sich vorstellen könne. Andererseits seufzt der bleiche Prinz im Schloss von Helsingör: »Oh Gott, ich könnte in eine Nussschale eingesperrt sein und mich für einen König von unermesslichem Gebiet halten.«

Welches dieser Reiche sagt mehr über das Dasein? Die »kosmographischen Meditationen«, denen sich Atlas bei Mercator widmet, berühren genau dieses Problem. Seiner Pose nach zu urteilen, wählt er nicht die eine Welt auf Kosten der anderen. Die Haltung ist unerschütterlich, der Blick konzentriert. Der Titan bleibt ein ebenso handelndes wie reflektierendes Wesen. Sowohl das Bedürfnis zu sitzen als auch die körperliche Anspannung zeugen von gebändigter Unruhe. Möglicherweise schwindelt es ihm beim Nachdenken über den grauen Äther; vielleicht plagen ihn Zweifel daran, wie viel Unendlichkeit in einer tragbaren Sphäre Platz findet. »[O]hne darum eben ein Philosoph zu seyn«, bietet seine fragende Beherrschung gleichwohl, wie Kant in einer späten Schrift anmerkte, 

ein Mittel der Abwehrung mancher unangenehmer Gefühle und doch zugleich Agitation des Gemüths, welches in seine Beschäftigung ein Interesse bringt, das von äußern Zufälligkeiten unabhängig und eben darum obgleich nur als Spiel, dennoch kräftig und innerlich ist und die Lebenskraft nicht stocken läßt.

In Cranachs Gemälde erscheint Atlas wie ein Greis ohne Kraft und Neugier, erpicht auf Ruhe von belastenden Verpflichtungen. Bei Mercator leiht er sich Attribute des tatkräftigen Herakles und verkörpert eine Unruhe ohne Aufregung, eine Anspannung ohne Wanken. Auf der Schwelle zu einer neuen Epoche, in der Geographen, Astronomen und andere Entdeckungsreisende die äußere Umgebung des Menschen kartieren werden, während die Mediziner sein Inneres erforschen, weiß der Titan, dass dem, der »Wahrheiten in noch unbekannten Dingen« sucht, scheinbar Unvereinbares gelingen muss: Unruhe zu bewahren.

die folgenden Erzählungen, »Fallgeschichten« genannt, sind der schwedischen Ausgabe von Atlasentnommen (Norstedts förlag, 2019, 464 Seiten, 600 Bilder). In etwa sechzig Prosatexten wird dort das Bild des Menschen geschildert, das, geprägt von medizinischen Errungenschaften, in den Jahren nach 1900 entsteht und zu dem unter anderem Fritz Kahn beitrug. Um den elliptischen Eindruck zu vermeiden, den eine Auswahl vermittelt, ist das Material bearbeitet worden. Mal wurde eine Anspielung gestrichen, die in den folgenden Texten hier nicht aufgegriffen wird; mal wurde etwas eingefügt, wo eine Aussage sonst in der Luft hängen bliebe.

Mein Dank gilt Astrid Kury, Thomas Macho, Claudia Romeder und Peter Strasser für ihr Vertrauen. Mein besonderer Dank gilt Paul Berf, der die schwerste Last geschultert hat.

text  Platon, Timaios, 24 e • Gryphius, »Es ist alles eitel« (1637) • Fritz Kahn, Der Mensch, gesund und krank, Zürich und Leipzig: Albert Müller Verlag, 1939, Band i, S. 180 • Plinius der Ältere, Naturalis historiavii 21,85 • William Shakespeare, Hamlet (1603), ii:ii • Immanuel Kant, Von der Macht des Gemüths durch den bloßen Vorsatz seiner krankhaften Gefühle Meister zu seyn, Königsberg und Jena, 1798, S. 15 • Gerardus Mercator, »Præfatio«, Atlas sive Cosmographicæ Meditationes de Fabrica Mundi et Fabricati Figura, Duisburg, 1595, S. 17  |  bild  1 Lucas Cranach der Ältere, »Herkules und Atlas« (nach 1537) (Herzog Anton Ulrich-Museum, Braunschweig) • 2 Gerardus Mercator, Atlas sive Cosmographicæ Meditationes de Fabrica Mundi et Fabricati Figura, Duisburg, 1595, Frontispiz (S. 5) • 3 Illustration in Fritz Kahn, Der Mensch, gesund und krank, Zürich und Leipzig, 1939, Band i, Figur 130 • 4 »Die Walnuss als Hirnmodell«: Illustration in Kahn, Der Mensch, gesund und krank, Band i, Figur 125 • 5 Sarah Bernhardt als Hamlet, Ansichtskarte um 1880 (in Privatbesitz)

Seiten 5–12.

Rezensionen

»›Erzählungen‹ nennt Aris Fioretos, schwedischer Schriftsteller mit griechischen Wurzeln, seine vierzehn Untersuchungen, und er begibt sich da- mit bewusst in den Zwischenbereich von Fiktion und Non-Fiktion. Manches verströmt sich als eigene Episode, anderes fügt sich im Laufe des Buches immer mehr zusammen – wobei die deutsche Fassung eine etwas verkürzte des schwedischen Originals ist, das also wesentlich mehr Fälle und Geschichten umfasst. Und überhaupt: manchen der Personen dieser Fall-Sammlungen sind wir schon in anderen Fioretos-Büchern begegnet! . . . Davon, vom Hängenbleiben, vom Seufzen, vom Trainieren und vom Ansprechen im jeweils umfassenden Sinne, erzählt dieses charmant-rätselhaftes Buch, das ganz nebenbei wunderbar geschrieben ist; stilistisch exzellent gestaltet und dramaturgisch ausgeklügelt inszeniert. Eine Lesegenuss also für alle, die sich gerne geschichtlich- literarisch treiben lassen, die sich für Ausflüge in gar nicht so ferne Zeiten begeistern oder wenigstens erwärmen können.« – Frank Keil, Männerwege

»In diesen und anderen Geschichten verknüpfen sich körperliche Befindlichkeiten, Wahrnehmungen und andere seelische Fähigkeiten des Menschen mit der Welt, die ihn umgibt und prägt. Skizziert werden aber auch Prozesse wissenschaftlicher Forschung. Ganz besonders spannend hier die Entdeckungen Vadim von Kolibars: Bei seinen Zwillingstöchtern, die an der Hüfte aneinandergewachsen geboren worden waren, keine Organe oder Gliedmaßen teilten und deshalb operativ separiert werden konnten, stellt er fest, dass sie nicht nur beim Anziehen, sondern auch in Lernvorgängen die Schwester als Spiegelbild benutzen. Erst kurz vor dem Tod der Mädchen diagnostizierte er zudem eine spiegelbildliche Anordnung der Organe in ihren Körpern. Ein solches Buch zu schreiben, das sich in jeder Hinsicht gegen den Strich lesen lässt und doch von einem durchgängigen Gedankengeflecht der Beziehung zwischen Innen- und Außenleben getragen wird, ist schlicht genial zu nennen. Die Kapiteltexte eröffnen so viele neue alte Blicke auf die geheimnisvolle Verknüpfung von Seele und Körper und Welt, dass das Innehalten ebenso unabdingbar ist wie das Weiterlesen. Die Textsammlung wird dem Motto der Reihe nur allzu gerecht: Unruhe bewahren.« – Susanne Rikl, Kommbuch