Akzente:
Nachmittags um halb fünf

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Herausgeber · Akzente, 2021, Heft 1 (April), 76 Seiten · Mit Beiträgen von Anne Carson, Jan Wagner, Christian Kracht, Ulrich Peltzer, Monika Rinck, Thomas Hettche, Aleš Šteger, Annika Elisabeth von Hausswolff, Mircea Cărtărescu, Lutz Seiler, Judith Hermann, Cécile Wajsbrot, Herta Müller, Thomas Lehr, Ilma Rakusa, Via Lewandowsky, Adam Thirlwell, Marie Darrieussecq, Mara Lee und Thomas Florschuetz · ISSN 978-3-446-26982-8

Vorwort

Als es Mitte der siebziger Jahre wieder möglich war, in den von Obristen befreiten Südosten Europas zu reisen, entdeckte er die Zeitdehnung. Die seltsamste Stunde des Tages war nach dem Mittagessen, aber vor dem Abend. Nachmittags um halb fünf, während der μεσημεριανή ξεκούραση, des „nachmittäglichen Schlafs“, stand die Welt still. Dennoch bebte sie, angeregt von der Sonne, die jenseits der Fensterläden waltete.

Die restliche Menschheit mochte schlafen, er jedoch nicht, er war wach, so wach wie nie zuvor, allein und trotzdem nicht einsam, unterhalten von tausenden Grillen. Obwohl der Teenager diese eigentümliche Stunde auf einem Zifferblatt gefunden hätte, wusste er, sie lag außerhalb der gängigen Zeit. In dem von der Sonnenatmosphäre und dem Zirpen der Insekten erweiterten Raum, gab es nur Stille, Atem, Körperwahrnehmung.

Fast ein halbes Jahrhundert später erhielt er das Angebot, ein Heft der Akzente herauszugeben, das Thema sei ihm freigestellt. Dem Teenager, inzwischen bald Rentner, kam der Gedanke, Freunde zu bitten, die Stunde, die ihm kostbar geblieben war, zu erforschen. Was machten, dachten, fühlten sie nachmittags um halb fünf? Als Kunstschaffende waren sie alle daran gewöhnt, ihre Zeit allein zu verbringen. Abgeschiedenheit gehörte zu den Grundbedingungen ihres Berufs. Aber was bedeutete sie? Was konnte sie jenseits der ständigen Suche nach dem mutmaßlich passenden Wort oder dem treffenden Motiv sein?

Alle Blickwinkel sollten erlaubt sein, ebenso jede Unschärfe. Ein Selfie, schnell gemacht und lässig im Ton. Die Nahaufnahme einer rätselhaften Handlung oder der Versuch, sich aus der Perspektive eines der Gegenstände zu betrachten, die einen umgeben – ein Radiergummi vielleicht, oder der Selbstauslöser einer Kamera. Willkommen wäre sogar der Versuch, den Vivisector auf dem Sectionstisch abzubilden, wie einst der Titel einer Streitschrift über Tierversuche aus dem 19. Jahrhundert lautete.

Wer war der Mensch schon, wenn er allein war? Ohne Spiegel konnten seine Augen sich nicht selber sehen. Nahm er sich also immer nur teilweise wahr, in Bruchstücken – hier ein Fuß, da eine Armbeuge? War er seiner selbst sogar überdrüssig und widmete sich anderen Dingen? Oder ging der Blick nach innen, wo eine andere Art von Vision nötig wurde? Vielleicht fand er sich selbst nur in und mit Hilfe von anderen wieder – diese eigentümliche Fähigkeit der Kunst seit Rimbaud verkündete: „Ich ist ein Anderer“?

Kurz nachdem das Angebot eingetroffen war, brach die Seuche aus, die Abstand verlangte und die Menschen in die Isolation trieb. Der Erfahrung zeitlicher Erweiterung stand nun das Erlebnis von Einschränkung gegenüber. Vielleicht vermochten die Beiträge die Vorstellung zu widerlegen, physische Distanzierung müsse unausweichlich auch eine soziale sein?

Bekanntlich bezeichnet Korona nicht nur die äußere Schicht der Sonnenatmosphäre, die einst einen Vierzehnjährigen seltsam selig machte, sondern existiert auch in der Musik. Die Fermate – Italienisch: corona – setzt ein Ruhezeichen, das anzeigt, dass eine Note länger anhält, als der Rhythmus vorgibt. Kurzum: ???? ist eine Einladung, sich als teilnehmender Zuhörer, als Zuhörerin in der Erweiterung der Zeit zurechtzufinden. Oder um den Satz Rimbauds aus gegebenem Anlass abzuwandeln: „Wir bin Andere.“

Willkommen in diesem Heft.

Seiten 1–2.