Noten zur Nacht

6.ii.24

In jüngeren Jahren arbeitete er gerne bis in die Nacht hinein. Es gab etwas Unentdecktes, im Dunkeln, das zu Worten führte. Heute zieht er es vor, aus der Nacht kommend zu schreiben. Hat er sich also vom Unbekannten als mäeutische Hilfskraft verabschiedet? Schwer zu sagen. Dennoch: eher nicht. Vielmehr scheint ihm das Unbekannte mutiert zu haben, als sei es inzwischen nirgendwo fest zu verorten. Nunmehr arbeitet er mit der Dunkelheit im Rücken, frühmorgens, wenn Schlaf- und Wach-Ich, diese zweieiigen Zwillinge, noch denselben Blutkreislauf teilen. Seltsam zu erleben, wie die zunehmende Gehirnhelligkeit mit dem Tagesanbruch gemeinsame Sache macht. Als könnte das Unbekannte sogar Tageslicht verkraften.

Jahrzehntelang saß er stur am Schreibtisch, er war die Insel seiner unruhigen Glückseligkeit. Während der Pandemie entdeckte er jedoch das Bett als Arbeitsplatz. Bis dahin hatte eine gusseisenstandhafte Ordnung geherrscht: Überlegungen zur Schöpfung fanden gewöhnlich im Gehen statt, geschrieben wurde stets im Sitzen, gelesen im Liegen. Seitdem arbeitet er ebenso oft ausgestreckt auf der Tagesdecke – wie einst Colette, die Varietékünstlerin, die Romancier wurde und es vorzog, im Bett zu werkeln, umgeben von Pudeln und Pralinen. Anders gesagt: Solange er solo sein darf, spielt der Arbeitsplatz keine Rolle mehr. Und das Licht? Der Tag als Energiequelle ist unschlagbar geworden. Am liebsten ist ihm, wenn die Sonne durch vorgezogene Vorhänge schimmert. Nichts gegen die Außenwelt, aber »Diskretionsabstand« zu halten, wie die Ermahnung früher lautete, die am Boden der Postfilialen klebte, tut der Wachsamkeit immer noch gut.

Wenn Wachsamkeit die gelungene Geburt von Gedanken in Wortgewand verspricht, ist die Schlaflosigkeit ihre böse Stiefmutter. Bei ihr verkommt jeder Versuch, inneren Frieden zu finden, zum heillosen Leergang. Es gibt rastlose Seelen, die vor allem Schwierigkeiten beim Einschlafen haben. Die Gedanken wollen sich nicht beruhigen, die Sorgen des Alltags wetteifern um Aufmerksamkeit, im Hinterkopf scheint noch dazu russisches Roulette gespielt zu werden. Es gibt aber auch Seelen, deren Qualen eher damit anfangen, dass sie vor der Dämmerung aufwachen – in der »Stunde des Wolfs«, wie es auf Schwedisch heißt. Laut der Medizin ist der Mensch zu dieser Zeit biochemisch am schutzlosesten. Blutdruck, Puls, Atem – um vier Uhr morgens sind unsere grundlegenden Körperfunktionen schwach, doch das Kortisol schießt hoch. Und bald setzt sie ein, diese unselige Angst, nicht wieder einschlafen zu können, was die Aussichten, ins Reich der Träume zurückzukehren, entsprechend verschlechtert. Wenn einen diese Furcht wachhält, wachsen Lappalien wie die Unsicherheit, ob es noch genügend Milch für den Kaffee im Kühlschrank gibt, zu Massiven des Elends. Das Unbekannte, das im Traum wartete, verkommt zur Utopie.

Der Trick des Einschlafens gelingt ihm praktisch immer. Augen zu und schwups, er gleitet in tieferes Wasser hinab, in Richtung all dessen, was er nicht vorherzusehen vermag. Das Auftauchen fünf Stunden später ist dagegen keine Sternstunde. Selten fühlt er sich so verlassen; über ihm waltet der pechschwarze Himmel der Decke, kein Funken von Hoffnung weit und breit. Der Pyjama wechselt noch dazu seine Form. Nun ist er nicht länger die Froschmannbekleidung des Schlafenden, sondern mutiert zur gestreiften Wäsche eines Häftlings im Gefängnis seines Bewusstseins. Früher ist er aufgestanden, hat sich an den Schreibtisch gesetzt und versucht, auf besonnenere Gedanken zu kommen. Gelegentlich tut er es immer noch. Aber wenn jemand weiß, wo ein sanfter Hammer besorgt werden könnte, mit dem man sich ohne Kollateralschäden bewusstlos schlagen ließe, bitte melden.

In jüngeren Jahren war es ihm ein asoziales Vergnügen, bis fünf oder sechs Uhr, manchmal sogar in den Tag hinein zu arbeiten. Die Welt atmete ruhiger. Er fühlte eine Verschworenheit mit der Nacht, es blieb noch so viel Unbekanntes zu entdecken. Nach wie vor mag er diese dunkle Konspiration, auch wenn sie auf Grund veränderter Lebensumstände seltener geworden ist. Wenn seine Frau verreist, verschiebt sich der Tagesrhythmus wie von selbst. Die erste Nacht wird das Licht noch um Mitternacht ausgemacht, in der nächsten erst um eins, halb zwei, ein paar Tage später brennt es schon bis drei Uhr … Mit jeder einsamen Nacht kehrt er weiter ins gemeinunnützige Junggesellenleben vor einem halben Jahrhundert zurück. Kann noch von Sehnsucht nach dem Unbekannten gesprochen werden? Wohl kaum. Es ist tröstlich, wenn wieder eheliche Ordnung herrscht. Sie resozialisiert ihn.

Wie er sich bei unfreiwilliger Schlaflosigkeit fühle? Wie eine menschgewordene Mülltonne. Diese seltsame Mischung aus Gedankenleere und Gehirngrütze, grauenhaft. Und bei der freiwilligen? Er wird zum Paradox: ist gleichzeitig geborgen und befreit. Unbekanntes erwartet ihn.

Er hat nie Vergleiche angestellt, dennoch hegt er den Verdacht, dass Worte, die während der Nacht entstehen, diskreter, friedlicher, geradezu milde im Ton sind. Vielleicht ähneln sie dem Tuscheln der Geliebten. Oder dem gedimmten Flüstern des Betenden. Wenigstens besitzen sie – auch wenn der Text ein wüstes Durcheinander beschreibt – eine angenehme Sanftheit; sie werden von einer Duldsamkeit mit den Makeln des Lebens getragen, die tagsüber schwerer zu erreichen ist. Sogar für das Unbekannte scheint in ihnen Platz zu sein. Oft genug hat er allerdings die Gegenerfahrung gemacht, dass Worte, die während der Nacht aufs Papier gewispert wurden, bei Tageslicht verblassen. Sie wirken weiterhin vertraulich, aber auch energielos, als wären sie mit Asche statt Luft geäußert worden.

In einem seiner Romane ließ er den Held am liebsten nachts arbeiten. Geboren 1949 entdeckt dieser als Jugendlicher erst die Poesie, dann die Rockmusik. In downtown Manhattan der 1970er Jahre, bevor er ein scheuer Star der Szene wird, ein weißer Schwan unter lauter schwarzen, schreibt er Lieder nicht nur während der Nacht, sondern auch an sie. Der Durchbruch gelingt mit einem Song namens »Delivery«, was eigentlich ein Neonschild im Fenster eines Gemischtwarenladens ist, für den Protagonisten jedoch die Fähigkeit der Musik signalisiert, Menschen hinreißen zu können. Das neonflatternde Wort – das ja »Lieferung« bedeutet, aber auch an »Erlösung« denken lässt – enthält das flimmernde Versprechen der Nacht: Es gibt noch Unbekanntes.

Die in Schweden lebende deutsch-jüdische Dichterin Nelly Sachs sprach einst, in einem Brief an ihren französischen Übersetzer, von »dieser nächtlichen Dimension«. In den ersten Jahren nach der Flucht aus Berlin im Mai 1940 musste sie ihre betagte Mutter in deren Einzimmerwohnung rund um die Uhr pflegen. Schreiben konnte sie nur in der Nacht, bei schlechtem, oft keinem Licht. Die dunklen Stunden wurden für sie eine Zeit des Alleinseins mit Stift und Papier, aber auch der Befreiung. Nachts verlor die Welt ihre Wände. Es gab keine sichtbaren Einschränkungen mehr, das Leben erweiterte sich ins Imaginäre. Die etwa 10 mal 365 Nächte, bevor Margarethe Sachs aus dem Leben schied, »erlösten« (im Sinne eines gewissen Rockstars) Sachs als Dichterin. Anders gesagt: Das Vertrauen im Unbekannten machte sie bekannt.

Aber das Bekanntwerden hatte eine ungewollte Kehrseite. Als Sachs in den 1960er Jahren in der damaligen Bundesrepublik zunehmend gefeiert wurde, erlebte sie, wie frühere Aussagen zu ihrem Privatleben nicht im kleinen Kreis blieben. Zum Beispiel wiedergab der einst geflohene Germanist Walter Berendsohn, den sie bei ihrer Ankunft in Schweden kennengelernt hatte, Auskünfte vor großem Publikum. Zum Beispiel in Stuttgart, wo Käthe Hamburg in der ersten Reihe gessessen war. »Ich bat ihn unlängst mein Privatleben und früheres Dasein nicht soviel zu berühren«, schrieb Sachs in ihrer Antwort an Hamburger, die sich an die Dichterin gewendet hatte. »Es geht doch um meine Arbeit und nicht um mich. Ich fühle mich ratlos ausgeliefert sonst. Er meint es ja gut und ich habe immer Angst ihn aufzuregen so alt wie er ist, aber mir ist am liebsten wenn ich im Dunkel verbleibe.«

Als Schreibende blieb Sachs eine Verschworene der Nacht. Während der dunklen Stunden des Tages fühlte sie sich allein, aber auch geborgen. Die Bildlosigkeit, die sie der Nacht zuschrieb, schenkte Ruhe von äußeren Eindrücken, rührte tiefere Schichten auf und ließ den Bodensatz an die Oberfläche steigen. Eines der Gedichte in Und niemand weiß weitervon 1957 kann als eine Allegorie auf diesen Wunsch gelesen werden, daß die Funde, die aus den Tiefen gehoben wurden, von fremden Augen in Frieden gelassen würden:

Salzige Zungen aus Meer

lecken an den Perlen unserer Krankheit –

Die Rose am Horizont,

nicht aus Staub,

aber aus Nacht,

sinkt in deine Geburt –

Hier im Sand

ihre schwarz

mit Zeit umwickelte Chiffre

wächst wie Haar

noch im Tod –

Während der Durst nach Verständnis die Reichtümer sauberleckt, sinkt die blühende Nacht gleichzeitig zum Ursprung. Das Gedicht gestaltet eine Inversion: Die Schätze liegen schimmernd, aber unantastbar, während die dominierende Metapher des Texts – diese gewölbte Form, die möglicherweise für die schwarze Sonne der Schwermut steht – durch die unteren Dunkelheiten gleitet. Am Ende ist es nicht die Entdeckung einer abenteuerlichen Wahrheit, sondern das Geheimnis an sich, diese »mit Zeit umwickelte Chiffre«, was einem entgegentritt. Die Chiffre wächst mit jeder neuen Berührung, ähnlich einer seltenen, obgleich abgewandten Perle. Die unausgesprochene Bedeutung bleibt unzugänlich. Anders gesagt: Das verschlüsselte Geschenk der Poesie erweiterte für Sachs den Horizont dafür, was es hieß, zu verstehen. Das Unbekannte war ein Teil seiner Bedeutung.

Angeblich dient Schlaf der Regeneration. Schwer zu sagen, wo die Seele sich während dieser Wiedererfrischung mittels Abschaltung befindet. Im Unbekannten?

Beim abendlichen Spaziergang bleibt er unter einer Brücke am Stadtrand stehen. Es ist Pandemiewinter, die Sonne ist vor Stunden untergegangen. Der Kanal, dem er gerade verfolgt, schimmert schwarz oder gelbgrün, je nachdem, wie weit er von den Straßenlaternen entfernt ist. Ein Höckerschwan gleitet im schiefen Schein der nächstgelegenen Lichtquelle umher, unbeeindruckt von der Kälte. Er folgt seinen gemächlichen Bewegungen. Verzaubert davon, wie gleichgültig er in der Welt des Schwans sein muss, fragr er sich, ob der Schwan den Spaziergänger auf dem Kiesweg überhaupt bemerkt hat. Gelegentlich taucht er seinen rotgelben Schnabel ins Wasser. Halbherzig. Als suchte er nicht nach Nahrung in der Tiefe, sondern ernährte sich vom Licht, das auf der Oberfläche glitzert.

Wie heißt es in einem der Gedichte Heines, die Schubert vertonte?

Die Sonne hebt sich noch einmal 

Leuchtend vom Boden empor, 

Und zeigt mir jene Stelle,

Wo ich das Liebste verlor.

Es ist zu kalt, eine schwedische Übersetzung mit Notreimen zu improvisieren. Im künstlichen Schein der nächstgelegenen Laterne – an »jene[r] Stelle«, wie das Gedicht sagt – stellt er sich stattdessen vor, dass der Höckerschwan, der dem Mythos zufolge (fälschlicherweise) stumm bleibt, bis der Sterbende in Gesang ausbricht, tut, was er kann. Sollte er an diesem Abend vom Tod der Sonne singen, die Stärke der Worte dürfte sich nicht in Dezibel, sondern in Watt messen lassen.

Ende der 1740er Jahren gab ein englischer Bischof eine Reihe von »Nachtgedanken« auf Blankvers heraus, die Dank der Illustrationen von William Blake ein halbes Jahrhundert später zum Kultbuch der Romantiker wurde. Für manche waren Edward Youngs Gedichte sogar »die größte und prächtigste Poesie, die das Genie der Menschheit je geschaffen hat«, wie Boswell in seinem Tagebuch festhielt. Für die Romantiker bildete die Schlaflosigkeit eine erhöhte Bewusstseinsform; sie versprach nicht nur eine Empfindsamkeit für die Schattenseiten des Lebens, sondern auch – vielleicht vor allem – eine gesteigerte Empfänglichkeit für das Unbekannte. Novalis‘ »Hymnen an die Nacht« enthalten die deutsche Sicht auf die nächtliche Dimension, in der das einsame Ich seine innere Unendlichkeit wahrnimmt. »Trägt nicht alles, was uns belebt, die Farbe der Nacht?« – so, oder so ähnlich, fragten sie sich. (Rhetorisch, versteht sich.) Es blieb einem Kauz aus Kalifornien überlassen, hundert gespenstische Jahre später die Schlussfolgerung zu ziehen: »Allein in schlechter Gesellschaft« (Ambrose Bierce).

Einer der Urväter der Moderne meinte einst, »wir Menschen schlafen tagtäglich mit einer Kühnheit ein, die unerklärlich wäre, wenn wir nicht wüssten, dass sie auf der Ungewissheit um die Gefahr beruht«. Um einzuschlafen, muss ein Mensch in der Lage sein, den Kopf unter dem Arm zu tragen, wie es im Schwedischen heißt. Kurzum: Für ein Bewusstsein wie Baudelaires, das sich nicht dumm zu stellen vermochte, blieb der Schlaf ein Wunschtraum.Émile Cioran, der nach dem zweiten Weltkrieg Paris Bukarest vorzog und bald das schlagfertigste Französisch nach Baudelaire schrieb, litt bekanntlich sein Leben lang an Schlaflosigkeit. Er war ein Weltmeister der Melancholie, der nachts immer wieder über »die Ungelegenheit, geboren worden zu sein«, nachdachte. Seine Notate, gesammelt in carnets der Sorte, die Student*innen noch immer in den Papierwarenläden um den Place St.-Michel kaufen, sind erwartbar schwarz und verzweifelt, aber erfreulich oft auch knisternd munter. »Den Schlaf zu betreten«, merkt er an einer Stelle an, »heißt, ein Schlachthaus zu betreten.« Auch für Nicht-Vegetarier dürfte es schwer sein, bei der Lektüre solcher Aussagen nicht aus Verlegenheit zu lachen. Während einiger Stunden wird das Dasein zu einer Frage der Fleischerei reduziert, denn der Schlaf unterbricht die Stetigkeit des Bewusstseins. Wer weiß schon, was den Körper erwartet, wenn die letzte Glühbirne im Hinterkopf ausgeschaltet ist? Nur eines ist sicher: Es ist noch unbekannt.