Alaska

20.vi.23

… wir wollen nach Alaska gehn.

– Gottfried Benn

DER DECKENVENTILATOR dreht sich träge, aber methodisch, ein Propeller im Leerlauf. Das Bettlaken hat sich verdreht, du wachst mühsam auf. Es ist Ende April, die Tage besitzen bereits die Hitze des Sommers. Schweiß rinnt dir aus den Poren, ohne dass du etwas anderes tust als zu atmen. Wenn du die Luft in der Lunge hältst, spürst du, wie es am Haaransatz kitzelt. Silbernes Wasser rinnt die eine Schläfe hinunter, die Wange entlang. Wenn sich drei oder vier Tropfen gesammelt haben, bilden sie einen neuen, der prall über dein Kinn und nach unten, zu den Kuhlen zwischen den Schlüsselbeinen, hindurch gleitet. Du denkst an das Bild, das du in der Zeitung gesehen hast. Der Junge saß auf einem Stuhl, die Tränen zogen Furchen in sein rußiges Gesicht. Seine Wangen bildeten eine Flusslandschaft. In den Armen hielt er einen Klumpen. Als du den Text last, verstandest du, was das war: »Moise, 6 Jahre alt, mit seinem Teddybär. Er überlebte das Feuer, das die ganze Familie dahinraffte.«

Du weintest wie ein Kind.

Später mustertest du dich im Rasierspiegel. Bald einundzwanzig. Ungewaschene Haare, wilde Augen. Du erkanntest dich kaum wieder. Wenn dein Elternhaus in Flammen gestanden hätte, hättest du dich ins Feuer gestürzt, um Vater, Mutter und Schwester zu retten. Doch du hast alles getan, um allein zu sein. Einsam, verlassen, der letzte Mensch auf Erden. Das war es, was du wolltest. Welch parodischer Gedanke. Du ahntest, dass nur Unglück wartete, wenn du keine Verwandten hattest. Wenn dir niemand nahestand. Wenn du nicht vermisst wurdest. Und dennoch hast du dir vorgestellt, dich selbst aufzugeben. Nicht um dich in jemand anderen zu verwandeln, sondern um der zu werden, der du warst. Ein Mensch ohne Geschichte. Was für ein namenloser Widerspruch. Es gab Zeiten, in denen du diesem Gedankengang so weit gefolgt bist, dass du kaum den Weg zurückfandest. Dann wurde dir klar, wie es sich anfühlte. Umgeben von trockener, weißer Kälte. Diese Wüste aus Hunger und Klarheit.

Jetzt kannst du nur noch denken: Du wilder Clown. Du leergefegtes Paradies.

Fürchte deine Wünsche.

SO BEGANN ein Roman, den ich vor zwölf, vierzehn Jahren begonnen habe. Der Wunsch, das Bedürfnis nach radikaler Unabhängigkeit zu schildern, beschäftigte mich schon seit Jahrzehnten, seit Anfang der neunziger Jahre, als ich in The New Yorker einen Artikel über einen Einundzwanzigjährigen las, der alles verlassen hatte, was ihn an Menschen, an Erwartungen und Verpflichtungen, an eine Geschichte band. Kurzum: die Zivilisation.

Ich erkannte mich in diesem Christopher McCandless wieder. Nach seinem Collegeabschluss spendete er sein restliches Bankguthaben an Oxfam und taufte sich in Alex Supertramp um. Einen Monat später ging sein gebrauchter Datsun in Arizona kaputt. Er verprasste das letzte Bargeld und lebte anderthalb Jahre von der Hand in den Mund. Schlief auf den Straßen von Las Vegas, reiste mit den Güterwaggons, die den Kontinent in endlosen Reihen durchqueren, arbeitete in der Küche von MacDonaldʼs in Bullhead City, Arizona. Am Dienstag, dem 28. April 1992, machte er sich zum letzten Mal in seinem Leben auf den Weg. Er wollte an den nordnordwestlichen Rand der Landmasse, wo er früher oder später nicht weiterkommen würde, es sei denn, er lernte die Kunst, auf dem Wasser zu gehen. Alaska.

In diesem Jahr brach das Eis spät auf. Als das Wasser im Mai wieder zu sprudeln begann, hatte Alex den Denali-Nationalpark durchquert. Nach einer Reihe von Pannen war er gezwungen, in den rostigen Bus zurückzukehren, in dem er während der letzten Winterwochen Schutz gesucht hatte. Der Sommer kam, er lebte von Pilzen, Beeren und Wasser. Er las Doktor Schiwago und schrieb am 5. August – erschöpft, aber begeistert – in sein Notizbuch: »Tag 100!« Dreizehn Tage später war er tot. Seit er acht Monate zuvor seinen Führerschein erneuert hatte, hatte er fast vierzig Kilo abgenommen; jetzt wog er nur noch etwas über dreißig. An der Tür des Busses hing die herausgerissene Rückseite eines Gogol-Romans. Darauf hatte er seine letzte Botschaft an die Zivilisation gekritzelt – ein SOS – und mit seinem richtigen Namen unterschrieben.

Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass der Artikel in The New Yorker meinen Wunsch, Romane zu schreiben, geweckt hat. Bis dahin hatte ich nur poetische Prosa und Essays veröffentlicht. Ich habe mehrere Ansätze ausprobiert, aber nie den richtigen gefunden; als 1997 eine Reportage über McCandless‘ Schicksal veröffentlicht wurde, habe ich die Arbeit abgebrochen. Obwohl ich das Buch bei Amazon bestellte, brach ich die Versiegelung nie, wahrscheinlich aus Aberglauben. Zehn Jahre später wurde es von Sean Penn verfilmt. Auch den Film habe ich nicht gesehen, als er in die Kinos kam, aber ein paar Jahre später kaufte ich die DVD – sogar zwei Exemplare. Auch sie habe ich unangerührt in ihren Hüllen gelassen. Nun war ich mehr als doppelt so alt wie der Einundzwanzigjährige und hatte mich so weit von seiner Besessenheit entfernt, dass ich mich mit seinem Schicksal nicht mehr identifizieren konnte. Die Erinnerung an den misslungenen Roman brachte mich allerdings immer noch dazu, ihn beschützen zu wollen. Als ob mein ursprünglicher Traum, und McCandless, nur dann intakt blieben, wenn ich das Zellophan nicht zerriss.

Als ich bei einem Umzug die Verpackungen fand, wurde die Fantasie von der Unabhängigkeit jedoch neu entfacht. Inzwischen steckte ich in dem, was mein vierter Roman werden sollte. Ich erinnerte mich nicht mehr an Einzelheiten aus dem Leben von McCandless, aber das machte wenig. Alles, was ich brauchte, war das, was meine ursprüngliche Identifikation ausgelöst hatte: dieser Wunsch, sich von allem und jedem zu lösen, koste es, was es wolle. Ich verband ihn mit der einunddreißigsten Linie des Kompasses, will sagen: mit Nord-Nordwest, sowie mit einem Namen: Alaska.

BIS HEUTE fällt es mir schwer, »Alaska« zu lesen oder zu schreiben, ohne das widerspenstige Verlangen zu verspüren, das ich anfangs zitierte – das heißt, den Wunsch, »ein Mensch ohne Geschichte« zu werden. Freilich habe ich die Passage überarbeitet und auch weiter in das Buch hineingeschoben. Der Sechsjährige mit dem rußigen Plüschteddy in der Hand hat seinen Namen verloren und der Erzähler außerdem das Geschlecht gewechselt. Aber die größte Änderung hatte nichts mit dem Stil oder der Struktur von Mary zu tun, wie der Roman bei seiner Veröffentlichung 2015 hieß, sondern mit der Windrose. Alaska war nicht mehr der Name eines selbstgewählten Exils im Nord-Nordwesten der Vereinigten Staaten, sondern einer unfreiwilligen Isolation im Süd-Südosten Europas.

Marys älterer Bruder Theo, der schwul ist, verlässt sowohl seine Familie als auch ihre namenlose Heimat, die von Obristen geführt wird. Er macht sich auf den Weg über den Atlantik, möglicherweise bis zum entferntesten Rand der nordamerikanischen Landmasse. Seine Schwester teilt diesen Wunsch, den schädlichen Bindungen zu entkommen, die ihr Aufwachsen in einem konservativen Elternhaus prägten. »Alles« sei besser, gibt sie zu, als »in dieser privaten Version von Kirche, Familie und unserer heiligen Nation, wie das Militär es nennt, erstickt zu werden«. Doch als Mary an einem Novemberabend 1973 vor der Technischen Hochschule verhaftet wird, hat sie gerade erfahren, dass sie schwanger ist. Sie muss sowohl ihren Freund, einen der Anführer des Studentenaufstands, als auch den Fötus, den sie in sich trägt, schützen, und sie versteht, dies wird ihr nur gelingen, wenn sie schweigt. Doch die Zeit arbeitet gegen sie. Je länger sie festgehalten wird – zunächst im berüchtigten Hauptquartier der Sicherheitspolizei, später auf einer unbewohnten Insel, wo sie mit fünf anderen Frauen das kurz vor der Wiedereröffnung stehende Gefängnis putzen muss –, je länger diese Zeit dauert, desto deutlicher wird sich zeigen, dass sie schwanger ist. Was bedeutet, dass sie über die Rolle ihres Freundes bei der Revolte erpresst werden kann, und falls sie sich nicht zur Zusammenarbeit bereit zeigen sollte, könnte das Baby zur Adoption durch ein kinderloses, aber regimetreues Paar freigegeben werden.

Marys schweigender Widerstand provoziert die Militärs, die sie nach zunehmender Gewalt schließlich von den anderen Frauen isolieren. Die Strafe ist hart, aber zumindest ermöglicht sie ihr, die Schwangerschaft über den dritten, sogar vierten Monat hinaus geheim zu halten – und dem Autor, eine Existenz ohne soziale Kontakte, aber dennoch mit Bindungen zu schildern. Mary nennt den Zementschuppen, in dem sie ihre Tage verbringt und der bei der Müllhalde und dem Friedhof der Insel liegt, Alaska.

IM LAUFE der Jahrzehnte zwischen dem ursprünglichen Versuch, den Traum von einer Existenz jenseits von allem und jedem zu schildern, und den alptraumhaften Bedingungen des Außenseiterdaseins auf einer Gefängnisinsel, die der von Jaros in den Kykladen ähnelt, hatte sich meine Sicht auf Alaska verändert. Der Name stand immer noch für einen Ort, geprägt von splendid isolation. Aber der Schnee war durch weißgestrichenen Zement ersetzt worden, der Protagonist war nicht mehr ein hungernder Jugendlicher, sondern eine schwangere Frau, und das bodenlose Blatt Papier, das mir wohl auf allegorischer Ebene vorschwebte, hatte sich in die Schlucht aus stinkendem Müll verwandelt, die Mary vom Friedhof trennte.

Alles war vertraut und dennoch fremd. Endlich schrieb ich so, wie ich es gewollt, aber nicht vermocht hatte, weil ich mir selbst im Weg gestanden hatte. Es fühlte sich seltsam befreiend an, dass die Himmelsrichtung nun in der entgegengesetzte Richtung lag. Und dass der Junge mit dem Teddybär, von dem ich geträumt hatte, dieser »Moise«, mit dem ich eine neue Zeitrechnung einläuten wollte, keinen Namen mehr trug. Das Kind ist nicht einmal geboren, als Mary sich auf den weißen Boden des Schuppens legt, wo sie spürt, wie sich die Welt nicht nach außen, sondern nach innen öffnet:

Der Zement ist zwar nicht weicher, aber seltsamerweise geschieht dort etwas, was im Bett nie eintrifft. Während ich mich strecke, wünsche ich mir so intensiv, dass mein Körper die Gestalt des Untergrunds annehmen, ebenso stark und unnachgiebig werden möge, dass ich minutenlang das Gefühl habe zu verschwinden. Ich weiß, das klingt verrückt, und ich habe keine Ahnung, wie es funktioniert, aber ich sinke durch den Zement, die Felsplatten und das Grundwasser, und werde dabei gleichzeitig durch die Decke gehoben und schwebe in den Wind und den Nachthimmel hinaus.

Wo ich mich in diesen Minuten befinde, vermag ich nicht zu sagen. Ich vermag nicht einmal zu sagen, wer ich bin. Ich weiß nur, dass ich nicht enden würde, falls ich aufhören sollte.

Zwanzig-plus Jahre nachdem ich zum ersten Mal von Chris McCandless las, hatte ich gelernt, dass es möglich ist, in einem Text zu verschwinden, ohne unterzugehen. Und dass die stärksten Bindungen dort waren, im Ungesagten, das nur Anfänger als Schnee von gestern betrachten.

Für ein Gespräch mit Fiston Mwanza Mujila und Lothar Müller im Rahmen von »Windrose. Literatur und ihre Himmelsrichtungen« im Literaturhaus Stuttgart am 20. Juni 2023. · Windrose am 20.6.23