Tischtheorie (zu Beginn der Pandemie)

21.iii.20

Dort, wo mein Schreibtisch steht, sind die Vorhänge zugezogen. Der Stoff ist aber grobmaschig genug, um die Fassaden auf der anderen Straßenseite durch das Fenster blicken zu lassen. Die siennaroten und stockholmsgelben Häuser interessieren mich offen gestanden wenig. Wenn ich den Blick über die Dächer richte, schimmert jedoch der Himmel.

Seit Monaten ist dieses begrenze Stück Unendlichkeit entmutigend grau gewesen. Am selben Tag, an dem unsere Krankenhäuser auf militärische Führung schalten, ist der Himmel allerdings hoch und blau. Kurz: unwiderstehlich.

Wenn ich über ihn nachsinne, fällt es schwer, Pascal zu glauben. Verschanzt bei den Zisterziensern vor den Toren von Paris, notierte er gegen Ende seines Lebens: »Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen.« An Tagen wie diesem stimmt seine Aussage jedoch mit elender Schärfe. Was die Rettung eines Menschen sein sollte, der freie Umgang mit anderen unter nacktem Himmel, ist nun zur größten Gefahr geworden. Ohne Zusammenarbeit wird die Bedrohung allerdings kaum verschwinden. Wie mit diesem Widerspruch zurechtkommen?

Inzwischen wissen wir es. Das Virus unterscheidet nicht zwischen Volk und Fürst, kennt keine Grenzen und greift uns an, wo wir am entschiedensten mit unserer Umgebung im Austausch stehen: durch Augen, Nase und Mund. Es vermeidet also, was uns selber selten zu meiden gelingt: die Diskrimination. Gleichwohl wird uns gerade Trennung empfohlen.

Der einzige mildernde Umstand, den ich bei dieser sozialen Distanzierung zu erkennen vermag, ist ihre Verwandtschaft mit Literatur. Wenn Igor Levit abends live auf Twitter Hauskonzerte gibt, erzeugt er Gemeinschaft in Isolation. Diese Solidarität der Einzelnen ist stets die Stärke des geschriebenen Wortes gewesen. Ein Buch lässt seinen Leser in Ruhe, ohne ihn einsam zu machen. Es gibt ihm ein Retourticket zu einer Welt, die er auf eigene Faust erlebt, ohne den Kontakt zu anderen Wesen zu verlieren, die möglicherweise fiktiv, deshalb aber nicht weniger umwerfend sind.

Wenn ich den Blick auf meinen Schreibtisch senke, denke ich, dass die Abgeschiedenheit, die nun gefordert wird, sozial bleiben muß. Wenn die Türe geschlossen werden, sollte niemand in splendid isolationgehen, wie der von Levit geschätzte Gustav Mahler die Wochen nannte, in denen er sich zurückzog, um zu komponieren. Im Gegenteil. Pflegen wir kollektiv Distanz. Quarantäne bedeutet Unterbrechung – nicht zuletzt ökonomisch. Sicherlich ist sie auch einfacher für die von uns zu erdulden, die Dach, Kühlschrank und Internet haben. Aber sie bedeutet auch: geteilte Geborgenheit.

Die deutsche Sprache nennt dieses Gefühl gern »Heimat«, die französische sagt la patrie. Vielleicht kommt die schwedische dem Zustand etwas näher. Wir sagen fosterland, wortwörtlich: »Geschöpf«- oder »Erziehungsland«. Dies ist weder eine bestimmte Kuschelecke der Welt, noch ein symbolisches Reich, das auf väterlichen Werten ruht. Sondern der Grund, auf dem ein Mensch gebildet wird.

Zwar bin ich von Eltern aus unterschiedlichen Kulturen in einem dritten Land erzogen worden, das während des letzten Dreivierteljahrhunderts auf die Vorstellung eines »Volksheim« gebaut hat. Dennoch bilde ich mir ein, mein wahres fosterland bleibt der Schreibtisch. Nirgendwo habe ich mehr Zeit verbracht, nirgendwo bin ich so vielen Interessen nachgegangen oder öfter eines Besseren belehrt worden.

Über die Jahre hat der Tisch seine Form geändert. Am Anfang gab es ein wackeliges Ding mit Spitztuch in einer griechischen Hafenstadt. Jeden Morgen während eines Sommers musste mein Teenie-Ich das erniedrigende Tuch unter der Schreibmaschine entfernen. Dennoch reichte ein Besuch auf dem stillen Örtchen aus, um meiner Tante die Chance zu geben, das Tuch wieder hinzulegen. Lange danach bestand das fosterlandaus einer Tür, die auf Böcken ruhte. Es sind auch Büromöbel darunter gewesen, und zierliche, auf goldenen Beinen balancierende Erbgüter von Freundinnen.

Allen Tischen gemeinsam ist, dass ich sie als fliegende Teppiche mit vier Beinen wahrgenommen habe. Zu ihren besten Eigenschaften gehört, dass sie überallhin führen konnten, auch nach Gehenna oder Shangri-La, ohne dass sich mein Körper bewegen würde. Inzwischen besteht mein Teppich mit Fluglizenz aus einer Konstruktion aus Holz und Stahlrohr. Mit niemanden habe ich so viele Geheimnisse geteilt wie mit diesem Tisch. Hätte ich genug Muskelkraft, er wäre das erste, was ich bei einem Feuer retten würde.

Stets standen die Tische vor einem Fenster. Es hat lange gedauert, bis mir das auffiel. Vielleicht hat es mit der Verwandtschaft zwischen Tischplatte und Fenster zu tun. Beide haben vier Ecken, beide ermöglichen Gedankenflucht und bieten dennoch Schutz.

Dürfte ich den Mitmenschen, mit denen ich in diesen Tagen der Panik und Pandemie die Distanz teile, etwas wünschen, es wäre ein fliegender Teppich. Für den, der »ruhig in seinem Zimmer« bleibt, bietet die Fläche Fundament genug, um sich sozial zu erziehen. Manchmal erinnert er sogar an den Himmel, ob trüb oder gerade blau.