Halb Marder, halb Schwalbe

11.i.20

Die Sehnsucht ist ein seltsames Tier. In meiner Vorstellung ist sie halb Marder, halb Schwalbe.

Der Marder ist Sehnsucht in ihrer verzehrenden Form. Schlank, gerissen und räuberisch frisst er sich in die Seele, nagt und schlingert durch die Hohlräume, aus denen das Dasein besteht. Der Marder duldet niemanden an seiner Seite. Er lebt allein, kennt aber keine Grenzen. Und jagt des nachts oder zur frühen Morgenstunde, wenn der Mensch am schutzlosesten ist. Schließlich schlägt er seine kranken Zähne in die Knochen. Dann bleibt nur die Zerknirschung.

Die Schwalbe ist Sehnsucht in Form von Verheißung. Rasch und leicht zeichnet sie die schroffen Linien der Hoffnung am Firmament. Auch wenn der Vogel allein ist, lassen die flinken Wirbel seiner Flügel ihn wie viele erscheinen. Jede jähe Kurve, jedes plötzliche Abtauchen zeigt, das Leben kann eine andere Richtung nehmen. Der Himmel mag leer sein, aber Strich für Strich kündigt sich Wiedergeburt an.

Während der Marder nicht loszulassen vermag, was einmal war, feiert die Schwalbe die Zukunft als erreichbar. Zwischen Erinnerung und Ahnung dehnt sich das Jetzt aus. Das ist die Zeitform des Sehnens, die der Sucht.

(Für Literaturhaus Stuttgart)