Aufgeladen
30. v. 2024
Es war nie ein ausgesprochener Plan, nicht einmal ein unbewusster Wunsch, glaube ich, aber im Lauf der Jahre habe ich festgestellt, dass ich mehrmals, vielleicht sogar meistens über Erfahrungen geschrieben habe, die selbst zu machen ich nicht in der Lage bin. Als weißer, über sechzig-jähriger Cis-Mann – das typische Standardexemplar europäischer Männlichkeit – habe ich aus der Perspektive einer werdenden Mutter über Schwangerschaft und über gleichgeschlechtliche Liebe zwischen Frauen geschrieben. Als Kind zweier der gesellschaftspolitisch ruhigsten Jahrzehnte der schwedischen Geschichte habe ich über Not in Zeiten von Diktatur und Verfolgung geschrieben. Und als Mensch, der morgens mit einer eher schwammigen Vorstellung seiner selbst aufwacht, bin ich in die Gedankenwelt siamesischer Zwillinge und Rock’n’Roll-Musiker, Armenier mit gläsernen Beinen und morphiumsüchtiger javanischer Frauen geglitten. Ich habe sogar eine ohne Bauchnabel geborene Figur Leo Tager genannt, denn durch ein Anagramm von »alter ego« hoffte ich am ehesten als impliziter Autor in einer Erzählung präsent sein zu können.
Manche mögen das als kulturelle, geschlechtliche oder gar ästhetische Aneignung betrachten. Ich persönlich sehe es eher als den Drang, aus seiner eigenen Haut zu schlüpfen – ganz egal wie, und wenn auch nur so lange, wie Finger und Tastatur gemeinsame Sache machen. Wenn sich von mir selbst gemachte Erfahrungen in meinen Büchern finden, so dienen sie niemals als Rollator, sondern nur als Sprungbrett. Wenn ich schreibe, möchte ich meine Stimme nicht durch Pass, Wohnort und Essgewohnheiten stützen lassen. Im Gegenteil, ich finde es befreiend, in Menschen hineinkatapultiert zu werden, die vollkommen anders leben; ich lerne viel mehr über die Welt durch Verhaltensweisen und Vorstellungen, mit denen ich nicht vertraut bin. Die praktische Folge davon ist, jedenfalls im günstigen Fall, dass diese Neugier abfärbt und meine Prosa beweglich macht, forschend, aufnahmebereit. In einem Wort: aufgeladen.
Ich glaube, kein fiktives Schreiben kommt ohne Aufladung aus. Was kann literarische Prosa ausrichten, wenn sie ihren Leser*innen nicht unter die Haut geht? Als Gänsehautproduzent oder, im Gegenteil, Schauderlieferant geht es mir weniger um wahr oder falsch als vielmehr um Evidenz. Solange der Text Schauer über den Rücken jagt, kann kein*e Leser*in seine Wirkung leugnen. Natürlich vermag Literatur auch noch viele andere Dinge – wie Wissen zu vermitteln, Erinnerungen zu lenken und existenzielle Schäden zu reparieren – aber vor allem muss sie versuchen, scharf und schneidend zu sein.
In seinem Essay über »die Situation des Schriftstellers« von 1947 sprach Sartre dieses desideratum an und beschrieb es so: »der geschärfte Sinn für Gerechtigkeit, die Hingabe, die Neigung zur Solidarität«.* Mir ist bewusst, dass ich mehr in diese Beurteilung hineinlese als er selbst für möglich gehalten hätte, aber wenn wir nur an die technischen Erfordernisse an Schreibende denken, dann hat ein »Sinn für Gerechtigkeit« in meinen Augen mit dem moralischen Rückgrat eines Textes zu tun, »Hingabe« (générosité) bezeichnet seine Fähigkeit, Leser*innen zu verzaubern, während »Solidarität« klarstellt, dass es bei Literatur, auch wenn sie meist einsam gelesen wird, um das Teilen menschlicher Erfahrungen geht. Wenn diese drei Rollen im Gleichgewicht sind – wenn eine Lehre vermittelt werden soll, wenn die Geschichte gekonnt dargeboten wird und es noch dazu Magie gibt – wenn also Wachsamkeit, Begeisterung und Chuzpe Hand in Hand arbeiten, dann kann Literatur einschneidend sein.
Eine solche Leidenschaftlichkeit verleiht der Literatur, glaube ich inzwischen, Veränderungskraft. Eines der prägnantesten Beispiele dafür ist die Erklärung eines Sechzehnjährigen, auf den Sartre sich in seinem Essay mehrmals bezieht. In einem oft zitierten Brief von 1871 spricht Rimbaud von der Notwendigkeit, als Schriftsteller alle seine Sinne in Unordnung zu bringen und zu verstören. Und fährt dann mit der berühmten Behauptung fort: Je est un autre, »Ich ist ein anderer«. Ich weiß nicht, ob die heutige Literatur das psychische Innenleben ihrer Leser*innen unbedingt umkrempeln muss, vom Kronleuchter ihres Kleinhirns bis zum Teppichboden ihrer Fußsohlen. 150 Jahre nach Rimbauds Schreiben ist Transgression so ein fester Bestandteil der kulturellen Avantgarde geworden, dass sie bereits selbst Tradition geworden ist und daher so vorhersehbar wie enttäuschend leicht zu kommerzialisieren. Doch ein performatives Statement, das unseren Identitätssinn mit nur vier Wörtern derartig neu belebt? Chapeau. Indem er das Verb in der dritten Person mit dem ersten Personalpronomen kombiniert, wird durch die schiere Kraft der Sprache eine Transformation in Gang gesetzt, bei der das Lebewesen, das zu sprechen begann, am Ende des Satzes nicht mehr das gleiche ist.
Die Literatur wimmelt von ähnlichen Verwandlungen. Gestatten Sie mir ein weiteres Zitat, bevor ich zum Schluss komme, weil es paradigmatisch für die Art von Prosa geworden ist, die ich nicht anders als scharf und schneidend finden kann. Bedenken Sie, was geschieht, als Jesus, die Inkarnation eines göttlichen logos, das Wasser überquert, um die Grabhöhlen von Gerasa zu besuchen. Zwischen den Gräbern begegnet er einem Menschen, der auf eigenartige Weise mit sich selbst ringt, einem »unreinen Geist«, wie die Bibel es nennt, der bei den Toten wohnt und auf die Frage nach seinem Namen widersprüchlich antwortet: »Mein Name ist Legion, denn wir sind viele.«
Auch hier findet eine ebenso aufgeladene Transformation statt wie bei Rimbaud. Beginnend mit dem Possessivpronomen »Mein« ändert das Wesen, das sich als »Legion« vorstellt – was das lateinische Wort für viele ist und im Augenblick der Begegnung mit dem Sohn Gottes die größte militärische Einheit des römischen Heeres bezeichnete – ändert dieses Wesen, das sich selbst vollkommen zu widersprechen scheint, direkt nach dem Aussprechen des Namens seinen Status zum bevölkerungsreicheren »wir«. Vom Singular zum Plural in nur fünf Worten. Wiederum: Chapeau.
Beide Aussagen sind für mich der Inbegriff dessen, was Literatur scharfstellt. Sie zeigen nicht nur den verständlichen Wunsch, durch die schiere Kraft des Wortes einen Daseinszustand zu verändern, der als unzureichend empfunden wird; sie können auch als Ausdruck eines Gefühls verstanden werden, das Romanautor*innen uns oft mitteilen, dass nämlich ihr Werk von einem erzählerischen Bewusstsein artikuliert wird, das um ein Vielfaches größer ist als sie selbst und auch als die Erzählhaltung der betreffenden Geschichte. Oder wie Vladimir Nabokov, ansonsten kaum ein Bewunderer der sogenannten engagierten Literatur, es einmal ausgedrückt hat: Als Romanautor ist man »eine Ein-Mann-Menge«.
Als Sartre vom »geschärfte[n] Sinn für Gerechtigkeit, [...] Hingabe, [...] Neigung zur Solidarität« sprach, versuchte er in Wahrheit, die Lage des kommunistischen Intellektuellen nach dem Zweiten Weltkrieg zu begreifen. Vermeintlich »in seinen Sitten untadelig«, trug »er doch jenen Urmakel an sich: er ist freiwillig in die Partei eingetreten; [...] also kann er auch [durch eine freie Wahl] wieder austreten«. Dieser trügerische Menschenschlag huldigt damit dem Laster der »Unabhängigkeit, die nicht gut riecht«.† Seit Sartre sich Gedanken über die Situation der Schriftsteller*innen machte, ist ein Dreivierteljahrhundert vergangen. Heute sind die materiellen Umstände dramatisch anders, nicht zuletzt wegen unserer digitalen Kommunikationsformen; es ist fraglich, ob so etwas wie ein einheitlicher Kanon überhaupt noch existiert, und noch zweifelhafter, ob er westlich geprägt wäre; darüber hinaus haben sich politische Glaubensbekenntnisse oft genug als schädlich für literarische Freiheiten erwiesen, um sie als Schreibmotivation verdächtig zu machen. Dennoch glaube ich, dass dem literarischen Schreiben Schlimmeres widerfahren könnte als nach größerem Bewusstsein für die drei Ziele zu streben, die Sartre festlegt.
Anspruchsvoll ausgedrückt lässt Literatur der problematischen Fülle menschlicher Erfahrung »Gerechtig keit« widerfahren, indem sie ihre Widersprüche und Komplexitäten, ihr Schweigen und ihre Verletzlichkeit erforscht. Sie interessiert sich für Details, die von höheren Mächten als zu klein oder unbedeutend erachtet werden, schafft so eine Sprachsumme, die in ganz grundlegender Hinsicht mehr ist als das zur Kommunikation Erforderliche, und zeigt damit »Hingabe« oder Großzügigkeit.‡ Zu guter Letzt demonstriert die Literatur, da sie sich jedenfalls in meiner Sicht nicht auf die Seite des Logos, sondern der Legion stellt, also auf die der Schweine, in welche die Horde der unreinen Geister einst gejagt wurde, »Solidarität« mit allem, was von der Norm abweicht – mit allem, was nicht unter die Vorstellung von Reinheit fällt, die gerade als Gemeinwohl hingestellt wird. Obendrein – oder eher zuunterst, so wie Legion – ist Literatur unter den Toten auf dem Friedhof zu Hause.
Ich rechne eigentlich selten damit, mit Sartre einer Meinung zu sein, aber wie er glaube ich, dass Literatur »ihrem Wesen nach Ketzerei«ist.§ Sie kanalisiert Energien, die niemals völlig beherrschbar sind, und wird dadurch nicht nur aufgeladen wie ein Blitzableiter, sondern in einem akuten Sinn auch vorgeladen und angeklagt – namentlich jenes »Urmakels« oder jener fehlerhaften und doch offensichtlichen Eigenheit, in der ihre Unabhängigkeit liegt.
Für »Europa 24«, einen Workshop im Literaturhaus Hamburg im Mai 2024. Aus dem Englischen von Ingo Herzke.
* Jean-Paul Sartre, Was ist Literatur?, übersetzt von Traugott König, Reinbek bei Hamburg 1981, S. 164.
† Jean-Paul Sartre, ebd., S. 164.
‡ Sartres Begriff générosité, den Traugott König recht frei mit Hingabe übersetzt, heißt in der englischen Übertragung von Bernard Frechtman und so auch hier bei Fioretos generosity, also Großzügigkeit. Anm. d. Übers.
§ JeanPaul Sartre, ebd., S. 164.