Atlas Shrugged

5.viii.19

Heute verließ das für den Druck fertiggestellte, ja, freigegebene neue Buch den Schreibtisch. Diesmal habe ich keine alten Ausdrucke zu entsorgen, keine Bücher in Regale zurückzustellen, nicht einmal einen Blaumann zu waschen oder Kondolenzbriefe an mich selbst zu schicken. Nur die Leere auf klügste Weise zu verwalten.

Bevor ich herausgefunden habe wie, sollte ich verstehen, worin sie besteht.

Während der Arbeit war das Gefühl von »Wenn es doch nur bald vorbei wäre« selten weit entfernt. Aber als »es« es am Ende ist, will sagen »vorbei«, empfinde ich vor allem Ratlosigkeit. Was tun mit den Muskeln, die sich an die tägliche Belastung gewöhnt haben? Wie umgehen mit den Routinen, die zum Alltag wurden, seit ich Mitte März vorigen Jahres den ersten Satz schrieb – vor ziemlich genau 296 Arbeitstagen (mm, ich habe gezählt)? Nicht, dass es etwas bedeuten würde, diesmal war die Belastung jedoch größer als je zuvor – zumindest in Zeichen gerechnet. Wenn das Zählwerk im Computer nicht lügt, sind soeben 1.194.899 Zeichen inklusive Leerzeichen in Druck gegangen. Dazu rund 600 Bilder. 

So viel Material habe ich bisher nie bearbeitet. Auch wenn Komplexität sich kaum anhand des Umfangs berechnen lässt, bedeutet Masse eine ganz eigene Herausforderung. Wenn ein Text so lang geworden ist, dass es nicht mehr möglich ist, ihn binnen eines Tages zu lesen, jeden Tag aufs Neue, was mein gewohnter Ablauf bei der Bearbeitung gewesen ist und sicherlich mein Ideal bleiben wird. Außerdem ist es physisch unmöglich, auf Detailniveau auf dem Laufenden zu bleiben. Die Frage ist, ob es überhaupt wünschenswert ist. Ich möchte glauben: vielleicht doch. Aber die Unmöglichkeit, jedes fiktive Temperament, jede Entwicklung der Ereignisse und jedes Stilniveau im Kopf zu behalten, zwingt zu größerer Beweglichkeit. Das Schreiben wird auf einer grundlegenderen Ebene anders. So wächst beispielsweise das Vertrauen zum einsamen Satz oder dem freistehenden Absatz, weil dieses Eigentümliche – der partizipatorische Überblick – sich in wohltuenden Fällen nur dort befindet. Plötzlich erscheint es mir sogar verlockend, mich auf jene genüssliche Weise zu verirren, in der es einem in einer Stadt passieren kann, die man eigentlich gut kennt.

Was bleibt nun, in den Stunden nach dem Abschied? Keine schmachtenden Geigen, kein Zittern in der Stimme. Sondern, wie gesagt, Leere. Handelt es sich um Nichtigkeit im Sinne von »Mein Gott, was tue ich jetzt?« Nein, dazu ist die Befreiung zu groß. Ist es Trauer? Kaum. Höchstens bittersüße Freude – dieser Stich von Danke-dafür-so-lange-es-währte. Mit anderen Worten: wehmütige Sorglosigkeit. Und was ist mit Depression? Am wenigsten überhaupt. Nur wenn ich das Wort in seiner ursprünglichen Bedeutung deute, als etwas, das »niederdrückt«, bekomme ich eine Ahnung. Das Gefühl, das ich erlebe, ist nämlich ihr Gegenteil: überwältigende Erleichterung.

Als ich über die sorglose Leere nachdenke, die mich nun erfasst hat, erkenne ich, wie sich der Titan gefühlt haben muss, als Herakles für eine Weile seine Bürde übernahm – in weiter Ferne, im Anbeginn der Zeiten und am westlichsten Rand der bekannten Welt.Endlich kann ich mit den Schultern zucken.