Die Liebe der Fledermaus zum Uhrwerk

Prosa · Übersetzung: Paul Berf · Interesse für bedingtes Wissen, hrsg. von Caroline Fletcher und Stephan Willer · München: Fink, 2007, S. 405–408


1. Intuition? Eine Art Fledermausverhalten. Ich sende Signale aus. Sie kehren zu mir zurück, jedoch leicht verschoben. Irgendwo in dem Dunkel, das mich umgibt, sind sie auf etwas gestoßen, das ich selber nicht wahrnehmen kann. Sich auf seine Intuition zu „verlassen“, ist kaum mehr als die Zuversicht der Fledermaus, am Ende doch einen Weg zu finden. Insofern Literatur intuitiv geschrieben wird, ist also gutes Radar erforderlich. Und dass der Schriftsteller gewissen althergebrachten Vorstellungen über die menschliche Wahrnehmung trotzt. Zum Beispiel muss er mit seinem Gehör sehen können.

2. Als Kinder lernen wir, die Stimmen der Erwachsenen zu deuten, bevor wir begreifen, was sie sagen. Die Intuition ist mit dieser Deutung verwandt. Sie ist Abkömmling der Bedeutung, geht ihr jedoch gleichwohl voraus. Nur die Intuition kann sagen: „Ich gebar Sinn, meine Mutter“. Und möglicherweise die Literatur – über den Schriftsteller.

2.1. Wenn sich der Blick in den Augen meiner achtzehn Monate alten Tochter verändert und sie mm-end den Kopf an meine Schulter legt, weiß sie nicht, ob ich müde oder traurig bin oder sie vermisst habe. Aber sie ahnt es. Auf welcher Grundlage? Aus früheren Erfahrungen. Und möglicheweise aus Artverwandtschaft. Gleichwohl ist diese Erfahrung offenbar nicht ausreichend, um sie entscheiden lassen zu können, ob der Vater sich verstellt. Ist ihre Reaktion also intuitiv? Aber die Intuition ist doch die Instanz, die es ihr ermöglichen sollte, wahr von falsch zu unterscheiden? Vielleicht handelt es sich eher um Instinkt. Er erinnert jedenfalls an die Liebe. Denn auch der Instinkt ist weder intuitiv noch kalkulierend. Für ihn ist nicht erforderlich, dass wir ihn pflegen. Ihm fehlt „Kultur“ 

3. Im Umgang mit einem Text kommt der Schriftsteller so wenig ohne Intuition wie ohne Kalkül aus. Wer seinen Leser nicht ahnen lässt (aber nicht notwendigerweise vorhersagt), wohin sein Text führt, weiß wenig über die Bedeutung von Ton, Stimmung, Atmosphäre. Doch damit dieses intuitive Zutrauen entsteht, bedarf es des Kalküls. Wenn ich den Effekt einer Verwicklung in der Handlung, eines Charakterzugs oder eines Wortwechsels nicht berechne, kann ich auch nicht damit rechnen, dass der Leser die Ironie erfasst, die ich anstrebe, oder den Anhaltspunkt entdeckt, den ich gerade in einem Nebensatz verborgen habe. Ein Buch darf gerne mit Kalkül geschrieben sein, aber es ist gut beraten, intuitiv zu wirken.

3.1. Das Kalkül hat gegenüber einem literarischen Text, zum Beispiel einem Roman, die gleichen Verpflichtungen wie die Ableitung gegenüber dem Argument des Philosophen. Wenn wir eine andere Person mit den Voraussetzungen für die Handlung versehen, muss er die Folgen akzeptieren. Dies allein reicht allerdings nicht, um dem Text ein Eigenleben zu geben und Literatur werden zu lassen. Dazu ist mehr erforderlich, unter anderem Intuition. Der Leser muss fühlen, dass der Text stimmt. Wie bewirke ich dieses Gefühl? Schwer zu sagen. Die Intuition ist ja des Einsamen Freude und Qual. Wie soll ich etwas derartiges beherrschen können? Ist das vielleicht die Antwort auf die Frage? Ich kann sie nicht beherrschen. Auch ich muss micht darauf verlassen, dass die Freude und die Qual mir den Weg weisen.

4. Sobald wir die Vorgeschichte der Intuition zu rekonstruieren suchen, bekommt sie, und sei es auch nur in geringem Maße, Züge eines Kalküls. 

5. Intuition ist eine Übung in Nähe. Niemand hat eine Intuition, die sich über Kontinente oder Jahrhunderte erstreckt. Vielleicht schreiben wir dem Intuitiven ja deshalb ein Näschen oder Fingerspitzengefühl zu. Die Intuition ist an die äußersten Spitzen unseres Körpers verlegt, an die „extremen“ Orte, wo wir im Begriff stehen, in unsere Umwelt überzugehen. Das Kalkül ist dagegen hinter dem Ohr zu Hause – im Hintergedanken, in der List, in der Berechnung. Es ist eine Übung in Distanz. Dabei kann es um Abstand in Zeit oder Raum gehen, aber auch um den Abstand zwischen Subjekt und Objekt. Wichtig ist allein, dass man die erforderliche Distanz aufbaut, um einen zufriedenstellenden Grad von Kontrolle zu etablieren. Man könnte auch sagen: Die Intuition bevorzugt die Zimmerwärme der Teilnahme, das Kalkül die Kühle der Übersicht. 

5.1. Der Intuitive denkt kurzsichtig, der Kalkulierende weitsichtig. In beiden Fällen geht es darum, etwas zu erreichen, und somit um ein Geschehen, das in der Zeit weiter voraus platziert ist. Doch wo Ersterer im Jetzt oder der unmittelbaren Vergangenheit lebt, noch voll der Anwesenheit, deren Schatten ihm, wie er hofft, den rechten Weg weisen wird, versucht letzterer sich an dem Kunststück, die Zukunft in die Vergangenheit zu verlegen – oder zumindest das Kommende zu behandeln, als wäre es eine Version des Vergangenen. Ein antiker Rhetor, pathologisch gesinnt, würde vielleicht von Proleptikern und Metaleptikern sprechen.

Nietzsches Traum von einem zuküftigen Leser, der ihn verstehen wird, ist nicht die Wunschvorstellung von einer selig machenden Lektüre im Jahre 1933 oder 1984 oder 2005. Sondern basiert auf der Vorstellung, geschriebene Sprache erschaffe eine Temporalität, die anderen Gesetzen gehorcht als denen, die im Umgang zwischen sprechenden Menschen gelten. Kurzum: Nietzsche stellte die Intuition betreffend ein Kalkül an. Seine Schriften sollten im Stande sein, lange Epochen von Dummheit oder Nichtigkeit zu überleben, aber frisch wie die Röte wirken, sobald der richtige Leser sie zum Leben erweckte. Dass Schriftsteller sich noch heute diesem Dornröschen-Traum hingeben, beweist einmal mehr, dass kaum ein anderer so modern war wie Nietzsche. Seine Modernität ist von der Art, dass der Text dort augenblicklich weiterschlägt, wo er hundert Jahre zuvor aufhörte. Man darf damit rechnen, dass die ersten, frisch erwachten Zeilen, auf die der Leser stößt, ihm rechts und links eine Ohrfeige verpassen, damit er versteht, mit einem Text tut man nicht, was man will. Nun ist es in der Literatur wieder ernst geworden.

6. Intuitive Autoren lassen sich in zwei Gruppen aufteilen – nennen wir sie „Hunde“ und „Katzen“. Die Hunde schnüffeln herum und suchen; die Katzen fixieren. Der erste Typ ist von Natur aus vor allem neugierig, oder curiosus auf Latein, also „sorgfältig“, weshalb es kaum erstaunt, dass ein Hundeschriftsteller mit nahezu unermüdlichem Enthusiasmus das Revier untersucht, das er markiert hat. Er schreibt mit anderen Worten jedes Mal das „gleiche“ Buch, wenn auch unter anderen Vorzeichen und mit hoffentlich neuer Tiefe. Der zweite Typ ist aufmerksam oder attentus, „gespannt“. Der Katzenschriftsteller schert sich nicht um den Anspruch des Sammlers, ein Territorium zu beherrschen oder ein „Werk“ zu erschaffen, sondern ist interessierter, an ein- und demselben Loch zu warten. Seine Bücher ähneln einander nie.

Im Lichte dieses Unterschieds lassen sich eine Reihe von Phänomenen studieren – wie zum Beispiel, dass die Tradition vorzieht, Männer als Hunde und Frauen als Katzen zu betrachten. Aber es fragt sich, ob überhaupt ein Unterschied so wichtig ist, um die Feinmotorik der Intiuition zu verstehen, wie jener, den ein Kritiker (Horace Engdahl) andeutet, wenn er unterstreicht: „Das Schädlichste für die Aufmerksamkeit ist der Zwang, zu einem Ergebnis zu kommen“. Denn auch die Intuition wird von der Forderung verdorben, Regeln zu befolgen. Sie kann nicht zurechtgestutzt werden, sondern setzt voraus, wir können jederzeit auf Abwege geführt werden. Folglich verlangt die Intuition, dass wir ein Paradox erfüllen. Als Schriftsteller müssen wir uns einer aufmerksamen Passivität befleißigen, hellhörig für das, was in den Randzonen unserer Absicht geschieht, offen für das Unerwartete. Kurzum: Der intuitive Schriftsteller weiß, dass er niemals Herr über seinen Text wird. Der Hundetyp versucht seine Beunruhigung einzudämmen, indem er unsichere Punkte bewässert, der Katzentyp begnügt sich damit, starr auf das kleine Loch zu starren, durch das dereinst der Messias treten wird.

7. Für einen Schriftsteller ist die Intuition die Kunst, seiner Unschlüssigkeit in dem Wissen zu folgen, dass sie Teil eines kommenden Plans ist. Dieser Fatalismus hat etwas Verführerisches. Ich weiß, dass ich, ohne es zu wissen, der Köder des Schicksals bin. (Vergleiche Engdahl.) Aber auch das Kalkül hat etwas Verlockendes. Auf die Frage, warum er die Atombombe erfand, obwohl er doch wusste, welche Zerstörung sie mit sich bringen würde, soll Robert Oppenheim geantwortet haben, sie sei „technically sweet“ gewesen.

8. Über die „Ahnung“. Für die Salonlöwen des 18. Jahrhunderts oder die bürgerlichen Herren vor der allgemeinen Schulpflicht und dem Wahlrecht für alle, ermöglichte die Lobrede auf die „weibliche“ Intuition, dem anderen Geschlecht zu schmeicheln und es gleichzeitig zurechtzuweisen. Intuition war etwas, das Damen in Ermangelung von Bildung hatten. Der Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts ließ sich bei seiner Jagd auf Entdeckungen oder Erfindungen sicher nicht von einer intuitiven Gemütsverfassung leiten. Im Gegenteil, als man of science widmete er sich educated guesses. Er vernahm eine „Ahnung“ und folgte dieser verbissen und zielstrebig (will sagen: doggedly). Die Intuition erinnerte ihn an einen Hauch von Parfüm, der noch in einem Raum hing, so bestechend wie ephemär. Sie täuschte die geschärfte Fähigkeit, Schlussfolgerungen zu ziehen, sie war ohne Substanz. Es war mit ihr wie mit der Katze: Man wusste nie, woran man bei ihr war. Auf das Kalkül war dagegen Verlass. Es richtete sich in der Tradition ein, denn es basierte auf früheren Beobachtungen, auf dem Vorhandensein von Belegen und der allgemeinen Kallibrierung des Wissens. Der Mann der Wissenschaft im vorigen Jahrhundert betrachtete seine „Ahnung“ folglich nicht als eine Frage der Intuition, sondern als eine Frage der Witterung. Wie der Trüffelhund besaß er Spürsinn.

9. Das Kalkül zieht Vektoren und berechnet die Kreuzung, an welcher sich das Gesuchte aller Voraussicht nach befindet. Die Intuition ertappt eine Wahrheit, wo wir sie nicht erwartet hätten. In beiden Fällen verhalten wir uns zu dem, was wir nicht greifen können. Das eine Mal mit dem Zweifel, das andere Mal mit der Zuversicht als Mittel.

9.1. Auch das Kalkül hat einen negativen Klang. Strebt es nach Risikominimierung, Gewinnoptimierung oder Voraussagbarkeit, begreifen wir es gerne als kalt, zerebral, planmäßig. Wenn die Intuition die Wünschelrute unter den menschlichen Fertigkeiten ist, dann ist das Kalkül folglich das Lineal oder der Rechenschieber. Die Intuition hat ihren Sitz im Herzen, das Kalkül in der grauen Substanz. Erstere steht für Gefühl, letztere für Vernunft. Oder übersetzt in Literatur: Stimmung versus Handlung. Gleichwohl tragen beide – jedoch auf verschiedene Art – zur gleichen Sache bei: die Ladung eines Textes zu erhöhen. Alle Methoden sind gut, so lange der Text Strom hat.

10. Wenn ich mich während der Arbeit an einem Buch von Intuition leiten lasse und über das Ergebnis erfreut bin, empfinde ich Überraschung. Wenn ich mich vom Kalkül leiten lasse, empfinde ich Befriedigung. In ersterem Fall fühle ich mich vom Glück verwöhnt, in letzerem, als wäre ich Uhrmacher. Mein heimlicher Traum ist es, Texte mit der Liebe der Fledermaus zum Uhrwerk zu schreiben.