Brief an einen langen, kleinen Kosmonauten

Prosa · Übersetzung: Paul Berf · Neue Rundschau · 2004, No. 3, S. 191–202


5. Februar 1960

Lieber Sohn Nachkömmling,

entschuldige, wenn mein Schädel sich luftig fühlt. Aber bald werde ich für ewig Vater statuieren – und das fordert seinen Mann. Oder vielmehr Papa. Denn wenn ich ein paar Bissen nachdenke, statuiere ich doch lieber „Papa“ als „Vater“. (Warum ich den Titel „Vater“ unbevorzuge? Ein anderes Mal.) Kann sein, diese Geschichte wiederholt sich, wenn du, mein Nachkömmling, lang genug geworden bist, um selber als Elternteil zu statuieren? Vorausgesetzt natürlich, dass du willst und Hilfe bekommst – sowie dass du, in Übereinstimmung mit mir, als Mann statuierst. Obwohl ich hoffe glaube, gerade diese Sache wird uns nicht problematisieren. Das versteht nämlich die Hand, die ich auf den Globus die Galaxie lege. „Eine solche Turbulenz?“, bestellt die Hand mir still und ich weniger still deiner Mutter. „Kann nur ein Sohn sein.“

Noch trennt uns ein Tag von dem Großen – nun ja, zwei, wenn die Götter träge sind. Mehrere können es nicht sein. Bald schlägt die Uhr Mitternacht in unserem frischen Heimatland und in ein paar Augenblicken bist du sieben Tage zu langsam.* Das ist tatsächlich Rekord in der Familie, aus der deine Mutter herausgewachsen ist. Früher heute Abend stöhnte sie, Hände-beichtend unter der Galaxie: „Ich hätte nie gedacht, dass ein Nachkömmling ein solches Gewicht erschaffen können würde, Manolis. Die ganze Galaxie ist platzbereit!“ Irma rief einen Moment die Luft heim, um mich den Ernst im Innern der Worte erfassen und den Stift beiseite legen verbergen zu lassen. Als ich aufgehört hatte zu dichten, fuhr sie fort: „Du betitelst das Wesen hier drinnen Kosmonaut. Das ist fein, aber möglicherweise fantastisch. Vielleicht, ist alles, was ich dazu sagen kann. Denn hör gut zu: Ich bin wirklich nicht amüsiert. Wenn dein Reisender nicht in diesem Augenblick niederkommt, weigere ich mich, den Rekord zu schlagen. Dann soll es mir egal sein …“ Balanciert konterte ich: „Unser Nachkömmling weiß, was er tut, mein Zucker. Wende die Galaxie auf die Seite, dann dämmerst du leichter fort.“ Deine Mutter tat, wie ich verkündet hatte, und dämmerte fort. Mir selber gelang es jedoch nicht, das gleiche zu tun. Dazu war meine Unruhe plötzlich allzu reich. Hatte sie „vielleicht“ bekanntgegeben? Und dass es ihr egal sei? Was traf hier ein?

Die drei Punkte nach dem Anfall der Bekanntmachung enthielten große Mengen Schweigen. Wenn ich nicht Acht gab, war es leicht, mich in all dem Ungesagten zu verirren und falsch zu erfassen. Während Irma Baumstämme holte, verschob ich folglich meine Gedichte und röntgte ihre Punkte. Bei näherem ins Auge fallen gefiel mir die Musik in ihnen nicht. Sie klang hart wie Eisen, was nicht sehr geglückt erschien. Sicher, ich habe deine kommende Mutter länger als gut gekannt und weiß, in der Regel legt sie nach, wenn meine Gründe perfekt sind. Aber jetzt hatte sie mich mit solchem Gewicht belastet, dass ich fürchtete, Tatsache würde nicht Tatsache bleiben. Wollte sie von unserem Nachkömmling Abschied nehmen? Hatte sie genug? Oder hatte sie nur meine Reden über Rekorde satt? Unvermeidlicher wurden Gedanken dieses Typs in meinem Schädel ausgepackt, und schon bald waren sie so groß, für die Poesie war kein Platz mehr.

Seit mehreren Stunden mindestens holt Irma Baumstämme im Bettzimmer, eingedämmert auf der Seite, ein Kissen zwischen den Beinen insinuiert, während ich mit meinem schlimmen Kopf in den Händen am Küchentisch sitze. Schlimmer Kopf, ich schlimmer Kerl! So sehr ich mir auch Mühe mache, ich bin nicht hinter das Geheimnis der Punkte gekommen. Oder was ein Vater anfangen soll, wenn seine Frau sich quer landet. Jetzt ist Mitternacht, und um diese Zeit ist es nicht leicht, die perfekte Lösung zu erfinden. Also verlässt der Verdacht meinem Kopf keine Ruhe mehr: Kann das Geheimnis sein, Irma kenntnisst etwas, dass ich nicht kenntnisse? (Bei Frauen kenntnisst man nie. Sie haben Methoden, an denen es Männern mangelt.) Zum Beispiel – der Stift tremoliert – zum Beispiel, dass wir nicht einen Kosmonauten fabriziert haben, sondern … eine Kosmonautin?

In erster Linie fragst du dich sicher, warum ausgerechnet dieser Gedanke meinen Stift tremoliert; in zweiter vielleicht, warum wir dich Kosmonaut betiteln. Lass mich die Worte im Mund ummöblieren, dann werde ich dir bekanntgeben, warum. So. Jetzt glaube ich, es wird schön gehen. Letzten Herbst, als du seit viereinhalb Monaten zu uns unterwegs warst, verlegte ich die Finger zur Galaxie (die zu der Zeit noch ein sehr kleiner Globus war). Es sei Zeit für Mirakel, tat ich kund. „Komm auf die Erde herunter“, antwortete Irma müde. „Keine Poesie mehr heute.“ Aber die Worte waren wirklich wahr: Ich konnte dich da drinnen rotieren spüren, im warmen Raum des Wassers, mit durchsichtigen Händen, eingewickelt unter dem Kinn, Rosinen als Füßchen, einander zugewandt. „Mein Zucker“, lachte ich folglich über deine matte Mutter, „hier geschehen wirklich Mirakel. Unser Nachkömmling hat uns soeben ein Signal gesandt. Ich begreife, dass die Reise zu uns ohne Unglück verläuft. Weißt du was? Wenn er ein neues Signal schickt, werde ich zurücksignalisieren.“

Wie üblich fand Irma, dass ich fantastisch war. Aber ich ließ mir nichts anmerken, sondern krempelte die Ärmel hinein und streichelte weiter ruhig wie Joghurt mit der Handfläche: „Warte, jetzt hat es sich wieder bewegt.“ Im Grunde fühlte ich diesmal nichts, obwohl, das wollte ich nicht verkünden. Ein bißchen Drama geschah der Situation recht.

„Lieg still, dann werde ich grüßen, dass alles gut ist. Und natürlich, dass wir bereit sind.“ Letzteres flüsterte ich, den Zeigefinger fester gegen die Galaxie gedrückt. Vorsichtig schlug ich kurze und weniger kurze Signale gegen ihre spannende Außenseite. (Deine Mutter vertraut meinen Künsten nie viel, aber endlich bekam ich die Freiheit, mich zu vertiefen. Es dauerte zwei, drei Augenblicke, denn noch wurde ich von der ungewöhnlichen Sprache problematisiert. Dann floss alles tiptop. Du schwebtest da drinnen und erinnerst dich sicher, was ich zeigefingerte. Fürs Protokoll verkünde ich es dennoch:

T-E-L-L-U-S-A-N-D-E-N-I-N-N-E-R-E-N-R-A-U-M-W-I-R-S-I-N-D-B-E-R-E-I-T

Erst passierte nichts, dann spürte ich einen Druck von innen – leicht und luftig, ja, ziemlich fortgeschritten, wenn ich die Wahrheit feiern soll. Anfangs glaubte ich, dass ich vorbeisah. Aber sofort erfasste mich das Große: Das musste dein Finger sein! Ich wurde elysisch und wollte Irma und der ganzen übrigen Welt „Kontakt“ verkünden, als ich mir eine größere, bestimmtere Bewegung einbildete – und allmählich deinen männlichen Wink durchschaute, wenn du greifst, was ich auswerfe … (Hier passen die drei Punkte ganz ausgezeichnet, finde ich.) „Mein Zucker“, verkündete ich beherrscht, während das Glück in meiner Brust blühte, „unser Nachkömmling streckte nicht den Finger, sondern zeigte gerade seine Pracht vor …“ (Vielleicht war die Übertreibung ein falscher Einsatz. Aber ich kann garantieren, auch diese drei Punkte waren anders als Irmas. In der Realität verbargen sie tausend Schreizeichen – so groß war der Blumenstrauß in meiner Brust.) Erstaunt zog meine Frau den Jumper hinunter und beäugte mich: „Worüber hältst du eine Rede?“ Mit der Hand über die Galaxie streichend dachte ich im Geheimen, dass du ein ordentliches Maskulinum statuieren würdest. Du nahmst deinen Anfang ja schon so früh! Laut mitteilte ich jedoch nur: „Ich beziehe mich darauf, dass wir einen Kosmonauten am Hals haben, der zu wissen scheint, was er will. Er ist bereits Herr über den Raum hier drinnen, wenn du greifst was ich auswerfe.“ „Herr? Kosmonaut? Du netter Himmel …“ (Schon wieder diese Punkte.) Still Stilsicher erhob sie sich. Ich konnte sehen, dass sie die verschiedenen Teile ihrer Psyche sammelte. Dann teilte sie mit: „Manolis, nicht dass es eine Rolle spielen würde, aber woher kenntnisst du, dass es ein er wird?“ „Woher kenntnisst der Nachkömmling, dass dies mein Zeigestock ist?“, konterte ich munter und betrachtete meinen erigierten Finger. „So kenntnisse ich, dass es ein er wird.“

An diesem Abend tauschten wir nichts mehr aus. Irma logierte auf der Stelle und ich auf dem Sofa. Als ich am nächsten Tag wieder graute – nach langen Momenten wurden meine Augen endlich verschlossen – lächelte ich jedoch über den ganzen Mund. Im Traum hatte ich wieder die Hand auf die Galaxie gelegt und das zarteste Wunder durchschaut: Du warst wirklich ein Kosmonaut! Mit meinen Doktorfingern, ziemlich hypersensibel, wenn ich bitten darf, beäugte ich, dass du am höchsten Punkt der columna vertebralis (die Stütze) ein cranium (Pickelhaube Helm) trugst, extraschön wie Perlmutt und mit blauschwarzer Musterung. Auf Grund der begrenzten Nebulosa, die dich umschloss, hattest du gepurzelbaumt, wodurch sich ossa thoracis (der Brustkorb) nach innen gewölbt hatte, als wollte er gaster (den Essenssack) decken, an welchen funiculus umbilicalis ( ein beuliger und sehr lustiger Schlauch) angeschlossen war.§ Das Arrangement kopierte tatsächlich einen Taucher (subnatator) mit Helm und Oxygenflasche, dachte ich. Du schwammst also in deinem eigenen Universum, fand ich weiter, mit Penis als Ruder. Under den Augenlidern, farbgegeben aus Morgenrot, ruhten zwei Opale, klein wie halbe Drachmen (iris). (Wenn du ein Mädchen gebildet hättest, wärst du von uns übrigens Iris betitelt worden.) Sie waren einer Schwimmbrille sehr ähnlich – was die Sache feststellte: Du machtest einen Sternentaucher aus. Will bedeuten: einen Kosmonauten.

Auf diese Weise kenntnisste ich, wie die Welt ausgebildet wird, des weiteren, wie die Zeit in Gang gezählt wird – ein anderes, eventuell kleineres, aber verwandtes Mirakel. Ich blickte ja hinein, wie ein Pionier seine eigene Chronologie verfolgte, fernab des alarmierenden Tags, an dem er als voll aufgeblasener Sternentaucher aus seinem Umlauf heraustritt und in anderer Leute Leben einschlägt. So durchschaute ich auch, dass jeder Mensch, insbesondere vielleicht der, den man selber konstruiert, einen anderen Ort bildet, wie treu er auch in unserem Leben Dienst leisten mag. Doch reisen wir alle im gleichen größeren Raum, philosophierte ich weiter, während Irma sich fortträumte verträumte. Und lebendig machte, wie du, langer kleiner Kosmonaut, meine müde Ehefrau Probe bereistest, voller Ahnungen, für welche die Worte noch nicht angepasst waren, festgezurrt umschlungen von Adern, die dich mit dem Mutterschiff vereinten verzweigten. Jeder konnte sehen, dass du eine Welt in der Welt statuiertest, nicht unähnlich einer russischen Puppe. „Sei gegrüßt, kleiner Gagaris“,** murmelte ich folglich – leise, damit deine Mutter nicht wieder Leben bekommen würde. „Wenn du versprichst, dass du deine Heldentaten entwickelst, sobald du eingeschlagen bist, werden meine Gedichte zusehen, dass man sich an sie erinnert.“ Von dem Tag an betiteln wir dich „Kosmonaut“. Was Frage Nummer zwei beantwortet. Und Frage Nummer eins? Auch wenn ich niemals deine männliche Pracht unter der Galaxie fingerte, ist es doch ziemlich offensichtlich, dass Kosmonauten nur von einer Sorte sind, oder nicht?

Jetzt will ich drei privatere Dinge entbinden. Es wird einige Jahre dauern, bis deine Ohren ihnen lauschen, und noch mehr, bis dein Herz ja nickt. Aber eines Tages hoffe ich, du wirst mich durchschauen. In letzterem Punkt bin ich recht definitiv. Leider kann ich nicht genauso recht definitiv sagen, daß ich selber eintreffe, wenn das passiert – was die Lösung dafür ist, dass ich meine Gedichte verschoben habe und diesen Brief auf Schwedisch handhabe.

Das Erste, was ich bekanntmachen will, ist, es sollte mich eigentlich nicht geben. Niemals habe ich dies so durchsichtig gesagt wie jetzt, nicht einmal in die Ohren deiner Mutter. Aber die Wahrheit wässert man nicht. Während du in vierundzwanzig Stunden unser erstes Werk werden sollst, ein richtiger Pionier, war ich das siebte und letzte meiner Eltern. „Ein Werk für jeden Tag in der Woche“, beliebte Vater den Männern zu sagen, wenn ich ihn in Dimitropoulos kafeneion im oberen Teil des Dorfs abholte, wo er immer thronte, nachdem er seinen Kolonialwarenladen verrammelt hatte.†† „Obwohl, am Sonntag hätte Eleni eigentlich ruhen dürfen. Stattdessen kam Manolis“ – jetzt packte er meinen Nacken; die Hand war warm und rau, der Nacken schmal und steif – „und seither herrscht keine Harmonie.“ Die Männer, mit denen er thronte, waren die wichtigen in Zacharo: der Nagel- und Schraubenhändler Fourlakis, der Schnippler Frisör Koutos, der Arzt Papaiannou und noch welche. Jetzt lachten sie so, dass man Retsina und Zigaretten aus ihrem Mund witterte. „Du hast Recht, Lallas“, teilte einer der Männer mit (am meisten Fourlakis), und zeigefingerte meine bloßgelegten Füße: „Direkt aus der Gebärmutter. Muss ein Sonntagskind sein!“ Ich versuchte die Füße zu beschützen, aber das ist schwer, wenn man nichts anderes hat, worauf zu stehen. „Ja, du hast vielleicht einen unberührten Sohn, Lallas“, teilten sie auch mit, am meisten Koutos (ich konnte die Goldzähne zählen, als er lobpries) (sieben Stück). Wenn du ihn zu mir bestellst, werde ich seine Locken redigieren.“ Ich zog allerdings vor, dass Koutis mein Haar nicht redigierte, denn ich hatte beäugt, wie er seine Söhne redigierte, und so redigiert, wettete ich, wollte kein Junge werden. Still gewöhnte ich die Augen an Vater und konterte, zu Hause erhole sich das Essen.

Wenn wir kurz darauf den Marktplatz verließen – Vater mit der Hand um meinen Nacken, ich mit meinen in die Taschen weggeschoben – bat ich stets: „Bitte, gib die Geschichte bekannt!“ Ich liebte Vaters Hand im Nacken, und mochte es auch, Geheimnisse mit ihm zu haben. Der Abend war gewöhnlich warm und dunkel; am Himmel traten immer Sterne auf. Vater setzte eine Zigarette in Brand und ärgerte mich ein paar Bissen: Meinst du die Geschichte von Stavros und den Ziegen?“ „Nein“, konterte ich. „Dann meinst du vielleicht die, als Kastor sein Haar von Onkel Koutos redigiert bekam? „Nein, nein.“ Dimitropoulos begann, unter den Tischen sauber zu fegen. „Dann begreife ich nicht …“ Vater holte Rauch heim in die Lungen. „Denn du kannst wohl nicht die Geschichte meinen, dass du keinen Vater haben sollst?“ „Doch!“, konterte ich, viel glücklicher als zuvor. (Dies war das äußerste Geheimnis von allen.) „Los geht’s“, teilte er bedenklich mit, und dann gingen wir. Weil mir vertraut war, dass es sieben Minuten erfordern würde zu gehen, zeigefingerte Vater immer „Und dort stand die verrückte jia-jia‡‡ mit erhobenen Armen“ in dem Moment, wenn unser Balkon in Sichtweite drehte. „Und dorthin“, fügte er hinzu, während der Zeigefinger zum Hühnerhaus in einer Ecke des verdunkelten Gartens tendierte, „verschwand der Priester.“

Ich gebe schlecht bekannt. Ich teile ja mit, als hättest du den Balkon daheim in Zacharo schon gesehen oder kenntnissest, warum der Priester verschwand! Mit recht hoher Wahrscheinlichkeit wirst du das getan haben, wenn deine Augen sich an diesen Brief gewöhnen. Aber noch greifst du nur das donnernde Herz deiner Mutter. Also muss ich zurückschicken: Auf Grund der verrückten jia-jia sollte es mich nicht geben. Und auf Grund von Vater Charalambos sollte es Vater nicht geben.§§ Als mein Bruder Kastor zur Welt ankam, teilte Doktor Papaiannou mit, dass Mutter abtreten würde, wenn sie wieder abgefüllt werde. Drei Jahre gelang es Vater zu vermeiden, dass er sie abfüllte. Frag nicht wie. Eines Tages muss er jedoch aufgehört haben, es zu vermeiden. Mutter wurde abgefüllt und es gab nichts, was man an meiner der Sache hätte tun können. Die Familie konnte „die volle Katastrophe“ erwarten. Was bedeuten will: ein siebtes Kind. Neun Monate lang, von Juni 1930 bis März 1931, fürchteten alle den Augenblick, in dem ich ankommen und Mutter abtreten würde. Jia-jia, die im Haus neben unserem wohnte und vom Typus Kusine zweiten Grades väterlicherseits war, gackerte die ganze Zeit wie ein Huhn – nicht einen Moment Ruhe! „In ein paar Wochen ist Ostern“, gab Vater endlich bekannt. „Wenn sie nicht bald aufhört, nehme ich ihr den Hals ab. Das wird richtig unterhalten“, fügte er hinter knarrenden Zähnen hinzu. Dann verrammelte er die Fensterläden. Er wünschte Nachmittagsruhe in versteckter Form.

Es vergingen ein paar Tage, dann entstand der Mittwochmorgen, an dem ich ankommen und Mutter abtreten sollte. Der Frühling war gerade eingesiedelt. Draußen regnete es Niesel, dennoch war es hellgrün und mild. Vater hatte geplant, mit meinen Brüdern Gregoris und Stavros Limonen zu ernten, als Mutter mitteilte: „Antonis, es ist soweit.“ Gregoris musste sofort den Doktor zu uns laufen, während Stavros den Prieser aufpflückte. Meine Schwestern – Irini, Fotini und Ariadne – putzten das Haus. Kastor lag irgendwo mit verschlossenen Augen. Doktor Papaiannou kam als Erster vor, was insofern ein Glück war, weil der Priester Weihrauch und viele Amen mitführte und bestimmt Aufhebens von Gott gemacht hätte, hätte er nur die Zeit dazu gehabt. Stattdessen musste Vater Charalambos sich mit jia-jia und Hühnern unten auf dem Hof begnügen, während der Doktor tat, was nur Doktoren tun sollen.

Als ich noch kurz war, teilte man mir immer mit, das ganze Dorf habe während der Momente, die nun fortflossen, den Atem angehalten. Mutter war eine Gebühr ein Schatz, den niemand verlieren wollte – nicht einmal die Kusinen in ihrem Heimatdorf, die alle Verkündigungen gestoppt hatten, als sie sich mit Vater verscherzt hatte. Vielleicht spielte es auch eine Partie, dass Vater tatsächlich auf die Idee hätte kommen können, den Kolonialwarenladen zu verrammlen, wenn er unglücklich gemacht wurde, und das zog niemand vor. (1931 waren die Zeiten für viele in Griechenland unglücklich.) Es vergingen lange Momente; alle hielten den Atem an. Aber auf der Schwelle zum Abend betrat Doktor Papaiannou endlich den Balkon und verkündete: Ein Sohn war gekommen und eine Mutter geblieben! Das führte zu vielen Ovationen. Meine langen Geschwister sollen sogar so laut bejubelt haben, dass Kastor graute. Kaum hatte der Doktor mich der Welt demonstriert, als auch schon Mutter den Balkon betrat und mitteilte, sie fühle sich ganz perfekt. „Er war der leichteste von allen sieben“, tongab sie mit mir unter dem Arm. „Ein echtes Sonntagskind.“

In der Nacht fühlte Mutter sich jedoch unangenehm berührt, dann floss eine volle Woche mit Temperatur und Visionen. Keiner konnte behaupten, ob sie bleiben oder abtreten würde. Dem Glück zuliebe variierten Vater Charalambos und jia-jia darin, heilige Worte zu murmeln und das Weihrauchfass in die verschiedenen Tendenzen Richtungen des Himmels zu schwingen. Vater hielt es kaum aus, aber weil Mutter so unangenehm berührt worden war, stand er zu seinem Schweigen. An einem dieser schwindligen Tage, als Mutter die Augen verschlossen hatte, fingerte mich jia-jia im Bettzimmer und betrat den Balkon. Zur Strafe für Mutters Schlechtheit gedachte sie den siebten Nachkömmling zwischen den Hühnern probelanden zu lassen. Vater Charalambos teilte nichts mit, sondern versuchte, so viel wie möglich sonntagszureden. „Man kenntnisst nie“, verkündete er und schwenkte das Fass den Hühnern entgegen. „Damit der Junge glücklich landet, muss die Erde unberührt sein …“

Als unsere verrückte Verwandte gerade die Klauen hob, offenbarte sich exzellenterweise erneut Doktor Papaiannou – ungefähr genau an der Stelle, an der Vater und ich uns auf dem Heimweg von Dimitropoulos aufzuhalten pflegten. Während ich in jia-jias Klauen festsaß, stand der Doktor unten auf dem Hof und versuchte sie um die Vernunft zu bringen. Sie gackerte jedoch weiter davon, dass ich meiner Mutter noch das Leben nehmen würde, während Vater Charalambos in das Hühnerhaus kroch. Solch ein unheiliger Nachkömmling verdiene kein Leben! Ein Sonntagskind an einem Mittwoch? Mutter hätte nie auf derartiges hören sollen! Jia-jia holte Luft heim. Als sie im Hals reinen Tisch gemacht hatte, bewegte sie die Stimme nach oben. Wenn ich wirklich war, was man glaubte, gab sie extra-extra-laut bekannt, würden die Sterne dafür sorgen, dass ich ohne schlimme Ereignisse einschlug. Jetzt habe sie vor, die Sache mich zu testen …

Der Doktor sprach weiter, ruhig wie Joghurt, während jia-jia mit mir in der Luft zum Zaun des Balkons fortschritt. Deiner Tante Irini zufolge, die das Geschehen von der Wäscheleine aus bewunderte, soll es mindestens fünf Momente gedauert haben, bis sie endlich die Klauen senkte. Herr Papaiannou hatte gewonnen, und seit jenem Tag gackerte sie nicht mehr. Sowohl Mutter als auch ich durften bleiben. Das Lustige war, ich hatte kaum gelernt, mich eigenständig mitzuteilen, als jia-jia mich auch schon ihr eigenes Werk betitelte – niedergekommen direkt aus dem Himmel, in ihren Klauen, an einem Mittwoch, der im Geheimen ein Sonntag war. Vater Charalambos schwang das Weihrauchfass: die Sterne, wünschte er anzudeuten, stimmten zu. All dies störte meinen Vater ziemlich außerordentlich. Jia-jia wollte ihn ja nicht erkennen, zumindest nicht als Vater, und der Priester gab bekannt, dass ich ihr und des Himmels angelaki, „kleiner Engel“, sei. Ich kenntnisse nicht, was geschah, nachdem Vater festgenagelt hatte, er war weiß Gott ebenso Vater wie alle anderen – ja, vielleicht sogar ein wenig mehr in diesem Fall. Aber das ganze Dorf lachte, als er das Weihrauchfass aus der Hand des Priesters nahm und verkündete, er solle es bleiben lassen, aus allem einen Sonntag zu machen. Mittwoche passten auch als Sternstunden.

Das war das Erste, was ich bekannt zu machen wünschte. Wie du kenntnisst, bildete auch ich einmal einen Sternentaucher. Jetzt werde ich über meine Kindheit verkünden und dann die dritte Sache bekannt machen. Meine Kindheit war arm, aber fantastisch. Jetzt kommt die dritte Bekanntmachung.

Vater machte auf die Art einen Vater aus, wie Männer Vater auszumachen pflegten, als ich kurz war: Er war streng und stark und stabil – ziemlich viel in dieser Reihenfolge. Machte man Fehler, konnte es eintreffen, dass er sich gereizt fühlte. Ziemlich außerordentlich manchmal. Heute ist er schon tot, also kann ich nicht zeigen, wie außerordentlich. (Aber oft reichte es, dass wir Kinder so taten, als würden wir uns etwas sonntagsreden.) Wenn Vater einmal nicht wie gewöhnlich einen Vater ausmachte, fand er Vergnügen daran, gesellig zu sein. Dann thronte er auf dem Marktplatz am Geschäft, rauchte Assos und trank Retsina mit Fourlakis, Koutos und den anderen wichtigen Männern im Dorf. Am allermeisten gefiel es ihm allerdings, zu singen. Obwohl, das tat er nur, wenn er schon richtig lange nicht mehr den Vater ausgemacht hatte – was bedeuten will: wenn sich nicht nur Männer auf dem Marktplatz offenbart und er selber die meisten Gläser Retsina getrunken hatte. Weil Vaters Stimme geschickt war, betitelte man ihn bei diesen Gelegenheiten nicht „Antonis“ sondern „Lallas“ – besonders die Personen, die weder Männer noch wichtig im Dorf waren. Der Titel deutet nicht darau hin, dass er „lallte“, worauf du dich vielleicht fälschlich verlässt, sondern dass er auf stimulierende Weise sang. (Einmal fabrizierte ich selber diesen Fehler bei einer Krebsfete in der Klinik. Nachdem ich mehrere Gläser getrunken hatte, teilte ich mit, lallen zu wollen. „Kein medizinischer Alkohol mehr für unseren neuen Kollegen“, verkündete der Chef und schlug meine Schulter auf die schiefe Bahn.)

Als ich zehn Jahre ausmachte, also zu Beginn des zweiten kosmischen Kriegs, verfolgte ich Vater eines Tages zum Nachbardorf. Er wollte Waren für das Geschäft anschaffen – eingegebenen Fisch, ziehe ich vor, mich zu erinnern. Ich bat ihn, auf dem Weg seine Gesellschaft fordern zu dürfen, weil ich von unseren Ziegen zu viel bekommen hatte. Außerdem war ich gerne mit Vater zusammen. Gewöhnlich ging er Waren allein anschaffen, aber ich war dickköpfig. Und schließlich legte Vater nach. Auch im Nachbardorf hatten sich wichtige Männer offenbart, wenn auch nicht so viele wie daheim in Zacharo, sodass man uns, als wir fertig angeschafft hatten, auf dem Marktplatz dabehielt. Weil ich es trist erlebte, dass Vater mit wichtigen, obwohl unbekannten Männern rauchte und Retsina trank, spielte ich privat im Inneren eines kafeneion. Die Zeit muss verschwunden sein, denn als ich das nächste Mal hinaus beäugte, war die Dunkelheit auf das Dorf herabgefallen hatte die Dunkelheit das Dorf überfallen und Vater angefangen zu singen. Jetzt hatten sich nicht nur wichtige Männer um ihn herum niedergeschlagen. Jemand, der weder wichtig noch Mann war, hatte sich geradezu auf seinem Schoß niedergeschlagen. Ich zog vor, nicht zu fragen, warum. Lange Momente flossen fort, während ich privat in der Türöffnung stand. Vater sang und trank Retsina, sowie vieles andere. Schließlich erfasste ich jedoch so viel Hunger, dass ich meinen Körper nicht mehr unter Aufsicht halten konnte. Ich wurde entprivatisiert und ging zu den wichtigen und unwichtigen Personen hinaus.

Das Komische Künstlerische war, dass Vater mich unbeachtete. Als ich ihn am Ärmel zog, um mitzuteilen, „Papa …“, lachte er nur Rauch und Retsina. Er wirkte so komisch! Nach einer Weile schnappte die unwichtige Person auf seinem Schoß endlich mein Gebet auf und interessierte sich dafür, wer ich war. Es war nicht glücklich, mit der Wahrheit herauszurücken, aber ich hatte keine Wahl. „Manolis“, piepste ich und zerrte Vater am Ärmel. Keine Gegenrede. Stattdessen sagte die unwichtige Person: „Manolis? Und wessen kleiner Engel bist du? Die Frage ging mich ein wenig zu viel an, fühlte ich, also fuhr ich fort, Vater am Ärmel zu zerren, aber diesmal härter: „Papa, Papa …“ Ich drückte die Sache weitere Male aus – und da geschah es: Vaters Hand flog durch die Luft und landete auf meiner Gesichtshälfte. Die Gesichshälfte färbte sich gleich rot; die Augen wurden nass, der Hals schmal. Da stellte sich die unwichtige Person auf die Füße und gab, die Hände in den Hüften festgesetzt, bekannt: „Sieh einer an, du verleugnest deinen angelaki! Hier kriegst du sie!“ Mit einer Hand landete sie auf Vaters Gesichtshälfte. „Ich hätte mir gewünscht, du hättest mehr von deinem Nachkömmling.“ „Was?“, konterte Vater pikant baff. „Mut.“

Geliebter Kosmonaut, vielleicht kenntnisst du, warum ich diese Geschichte kundtue? Deine Mutter und ich haben viel Hoffnung in uns. Wir akzeptieren, dass du uns unenttäuschen wirst. Wir akzeptieren, dass du fantastisch sein wirst. Aber Wundern erschaffen? Niemals. Deshalb will ich transportieren, dass es keine Partie spielt, ob du Kosmonaut oder Kosmonautin wirst. (Auch wenn ich dich nicht davon abblocken will, ersteres auszumachen.) Ich wünsche dir nur eine Sache auf Erden. Und das ist das gleiche, was die wichtige unwichtige Person an jenem Abend vor so vielen Jahren wünschte: kouraghio. Der Rest sind drei Punkte …

Im Übrigen will ich bekanntmachen, dass der Schädel sich bei dem Gedanken an deine Landung luftig und glücklich fühlt. Die Luftigkeit wird ziemlich bald vergehen, vermute ich, wohl aber kaum das Glück.

Dein ewiger Papa

Zusatz auf dem versiegelten Briefumschlag

Was habe ich verkündet? 56 Zentimeter, 3690 Gramm und ausgrüstet mit Ruder – ein langer kleiner Kosmonaut! Dein luftiger Papa am Tag darauf.

Noten

* Im Winter 1960 waren der Briefschreiber, ein griechischer Einwanderer, und seine österreichische Ehefrau des Schwedischen nur bedingt mächtig. Trotz knapper drei Jahre in dem „frischen“ Land zog man vor, miteinander Deutsch zu sprechen. Die Tatsache, dass der Absender obenstehendes Schriftstück in der neuen Sprache verfasste, muss folglich als ein Zugeständnis an die Nachwelt gedeutet werden. Dies wäre im Übrigen eine geeignete Stelle um anzumerken, dass der Herausgeber – eine Version besagter Nachwelt – eine Reihe von Rechtschreibfehlern und grammatischen Unregelmäßigkeiten korrigiert, ansonsten jedoch darauf verzichtet hat, sich Freiheiten herauszunehmen.

Ein Wahrheit, die einer gewissen Modifikation bedarf. In der Nacht zum 27. September 1959, in der sich der Zeigefinger eines 28-jährigen Griechen und ein zwanzig Wochen alter Fötussteiß auf der Innen- und Außenseite des Bauchs einer 23-jährigen Österreicherin befanden, hielt besagter Fötus eine Faust vor seine durchsichtige Nase und die andere ein wenig tiefer, ähnlich einem winzigen Boxer – was im Übrigen der Haltung entsprach, die er ebenso viele Monate später, am 6. Februar des folgenden Jahres, einnehmen sollte, wenn auch diesmal in umgedrehter Stellung und bereit, sich seiner Geburt zu stellen. Siehe Bild für eine Demonstration der Pose.

Es dürften Ausrufezeichen gemeint sein.

§ Der Briefschreiber, der zu diesem Zeitpunkt acht Semester Medizin studiert hatte, meint die Nabelschnur. Ende der achten Woche – ein seit langem überblättertes Kapitel, als obige Zeilen geschrieben wurden – ist diese ungefähr 15 Millimeter, gegen Ende der Schwangerschaft um die 60 Zentimeter lang. Im Inneren der Schnur winden sich zwei dünne, aber kräftige Arterien um eine weiche und dicke Vene. Diese Blutbahnen verzweigen sich zu einem feinmaschigen Netz aus Gefäßen im diskusförmigen Mutterkuchen (-placenta). Letzterer, ein dunkles Phänomen, könnte poetisch eventuell „Mutterschiff“ genannt werden – was der Briefschreiber bald tun wird.

** Wahrscheinlich Jurij Gagarin, 1934–68. Das sowjetische Weltraumprogramm fand zu der Zeit in der internationalen Presse häufig Erwähnung. Kaum mehr als ein Jahr, nachdem obige Zeilen geschrieben wurden, am 12. April 1961, führte der sowjetische Pilot im Raumschiff Wostok den ersten bemannten Raumflug durch – was ein gewisse Bedeutung für ein Ereignis am 37. (sic) Januar 1966 im nördlichen Schonen haben sollte. Gagarin benötigte 1 Stunde und 29 Minuten für die Reise um die Erde – auch dies eine Tatsache mit schonischen Folgen. 1968 kam er bei einem Flugzeugabsturz ums Leben (allerdings ohne schonisches Nachspiel).

†† Der Briefschreiber wurde in Zacharo an der Westküste des Peleponnes geboren. Trotz Krieg und Abwanderung ist die Einwohnerzahl des Dorfs relativ konstant geblieben: cirka 2000 – was ihn viel später veranlassen sollte, den Ort „ein Paradies mit einigen Verhinderungen“ zu nennen. Der Vater war Lebensmittelhändler, die Mutter Mutter.

‡‡ Bezeichnung für „alte Frau“, „ Mutter-“ oder „Großmutter“ – aber in manchen Fällen auch, wie hier, „ältere Frau mit schwer zu klärenden Ansprüchen auf Verwandtschaft“.

§§ Charalambos Poulias (1879–?) wirkte mehrere Jahre als Priester in Zacharo. Er verließ das Dorf im Frühjahr 1931, wenige Tage nach den wiedergegebenen Ereignissen. An Informationen über sein weiteres Schicksal mangelt es nicht.