Fliegender Teppich mit vier Beinen
Interview · Von Aldo Keel · Neue Zürcher Zeitung · 12. November 2015
Sie verkörpern das Schwedische, Griechische und Österreichische in einer Person, was zu einer Erweiterung der Perspektive führen muss – Ihr Blick bleibt nicht am nächsten Berg hängen. In welcher Sprache denken Sie? In welcher Sprache träumen Sie?
Als Kind hatte ich nie eine klare Antwort auf die Frage, was ich denn sei. Ich empfand lange, dieser Mangel wäre mein Fehler. Später, in der Jugend, dachte ich eher, die Frage selbst sei das Problem. Heute bin ich gelassener. Heute verspüre ich keinen Bedarf nach Eindeutigkeit. Ich besitze einen schwedischen Pass. Privat fühle ich mich am ehesten jedoch im Unterschied der Kulturen zueinander zuhause. Leute wie ich sind Ein-bisschen-von-vielem-Menschen. Mein Rückgrat ist griechisch, meine Nerven österreichisch, meine Zunge schwedisch. In welcher Sprache so eine Person träumt? In der der Bilder, glaube ich.
Andersrum gefragt dann: Wo ist ihr Lebensmittelpunkt?
Die ehrlichste Antwort lautet wohl: am Schreibtisch. Ich betrachte ihn als einen fliegenden Teppich mit vier Beinen. Die Staatsführung neigt zur Republik. Aber ich bin sowohl alleiniger Herrscher, als auch einziger Bürger. Sollte man also eher von aufgeklärter Despotie reden? (Bedauere, Visa werden nicht erteilt.)
Südpol und Nordpol – Griechen und Schweden haben ein konträres Staatsverständnis?
Das Europa, das ich als Kind kennenlernte, war eine vertikale Angelegenheit. Der Eiserne Vorhang verlief durch seine Mitte, als boshaftes Rückgrat. Ganz oben gab es den Kopf des Kontinents. Da war der wohlorganisierte Sozialstaat Schweden zuhause. Hier hatte sich die Vernunft angesiedelt. Weiter unten, im Zwerchfell Europas, lag Österreich – ein Land, wo die Geschichte noch nicht verdaut worden war, wo nervöse Unruhe herrschte. Und im Süden gab es Griechenland, das Land, das meine Familie wegen der Flucht meines Vaters Anfang der 50er Jahre vor 1974 nicht besuchen konnte. Für den Sieben-, für den Zwölfjährigen, der ich damals war, bekam seine verschlossene Heimat etwas Geheimnisvolles. Hier waren die Leidenschaften zuhause, das Pathos, die Sehnsüchte.
Es wäre töricht, diese kindische Auffassung auf das heutige Europa zu projizieren. Der Vorhang ist seit bald dreißig Jahren weggerissen, der Kontinent ist angenehm in die Breite gegangen. Natürlich herrschen Unterschiede. Sie haben jedoch weniger mit Erdkunde und mehr mit Geschichte zu tun. Da Schweden früh, schon um 1600, einen Zentralstaat bekam, und in den letzten 200 Jahren keine Kriege gekannt hat, gab es bei uns nur selten Grund, dem Wohlwollen des Apparats zu misstrauen. Er würde schon dafür sorgen, dass es möglichsten vielen Bürgern gut ging. Kurzum: Man schenkte dem Staat sein Vertrauen, in dem man Steuern zahlte.
In Griechenland sieht es leider anders aus. Die Griechen sind nicht weniger patriotisch als andere Völker. Aber bei ihnen traut man dem Staat nicht unbedingt zu, dass er für eine gerechte Umverteilung der Mittel sorgen wird. Also zahlt man ungern Steuern. Die Gründe dafür sind historisch. Während derselben Jahrhunderte, in denen Schweden zu einer Demokratie und einem Sozialstaat wurde, hat Griechenland überwiegend Besatzung und Obrigkeit gekannt. Lange war es das Osmanische Reich, später die Wehrmacht, zuletzt die eigenen Obristen. Das Volk hatte nie genug Zeit, Vertrauen in den Staat zu entwickeln. Er war da, um ihm entweder zu widerstehen oder von ihm ausgebeutet zu werden. Seit der Demokratisierung nach der Militärdiktatur 1974 ist die Verwaltung bedauerlich aufgebläht und durch und durch politisiert worden. In so einem Land hat man eher Verbündete. Und baut folglich andere Strukturen auf, die durch Bestechung und wie Clans oder Familien funktionieren. Während man in Schweden immer den ganzen Wald vor Augen hat, sieht man in Griechenland nur einzelne Bäume.
In Ihrem Roman Der letzte Grieche heißt es: „Unser Held entspricht dieser griechischen Konvention: Er ist Fatalist.“
Möglicherweise ist der moderne Fatalismus die Folge einer Gesellschaft, in der man als Einzelner kaum Einfluss hat?
In Ihren jüngsten Werken widmen Sie sich in bevorzugter Weise Griechenland. Die halbe Sonne setzt Ihrem Vater ein Denkmal, Der letzte Grieche ist ein Buch über Migration und Diaspora. Ihr jüngster, auf deutsch noch nicht erhältlicher Roman Mary führt uns in die düstere Zeit der Militärdiktatur. Ihr Vater floh vor dem Obristen-Regime ins Exil. Wann konnten Sie Griechenland zum ersten Mal besuchen?
Das Land lernte ich erst nach dem Fall der Junta kennen. Die Bücher, die Sie erwähnen, bearbeiten manche dieser Erfahrungen. Sie bilden so etwas wie ein griechisches Triptychon. Rilke meinte einst, die Duinoelegien seien sein großes Segel, die Sonette an Orpheus sein kleines. Kein Vergleich im Übrigen, aber als Chronik dreier Generationen von Griechen in der Diaspora ist Der letzte Grieche mein Großsegel. Das Vaterbuch, Die halbe Sonne, ist bloß einer einzelnen Person gewidmet – also die Fock vorn am Boot. Im Gegensatz zu Rilke wusste ich jedoch immer, dass ich ein Ruder brauchte. Dies konnte nur eine Frau sein. Daher Mary, ein Roman, der im nächsten Jahr auf Deutsch erscheint.
Das Buch erzählt die Geschichte einer Architekturstudentin, die im November 1973, am dritten Tag eines Studentenaufruhrs, erfährt, dass sie schwanger ist, unmittelbar darauf aber verhaftet wird. Auch wenn das Land, in dem das passiert, ungenannt bleibt, sind die Ähnlichkeiten mit Griechenland nicht ganz zufällig. Wie Sie wissen, haben die Studenten damals gegen die Junta protestiert. Nach drei Tagen wurde der Aufstand am Polytechnikum Athens niedergeschlagen. Die Regierung wurde neu gebildet, die Repression nahm zu. Dennoch war das der Anfang vom Ende der Diktatur. Nach der Zypernkrise im folgenden Sommer fiel die Junta.
Mary gehört zu dieser Generation, die zwischen mir und meinen Eltern liegt. Es sind die griechischen 68er, die aber wegen der Diktatur mit Jetlag geboren wurden, erst 1973. Sie haben das Land aufgebaut und in den Wohlstand geführt, jedoch auch korrumpiert. Die Krise, die wir heute erleben, ist Teil ihrer krummen Erfolgsgeschichte. Darin spielt der Studentenaufstand eine prägende, wenn nicht identitätsstiftende Rolle. Gewiss war er bewundernswert, ja heroisch. Aber er ist auch zu einer recht männlichen Erzählung verhärtet worden, die kaum Zwischentöne, geschweige denn Selbstkritik erlaubt. Mich interessiert der ideologische Überbau nur in zweiter Linie. Ich wollte an die Geschichte in oder hinter der Geschichte herankommen, an die konkreten Erfahrung der Frauen, die dabei und mitprägend waren, deren Erzählung bisher allerdings im Schatten geblieben ist.
Wie beurteilen Sie Griechenlands Zukunft?
Das Land muss die Chance ergreifen, die es auf dem Papier kaum noch hat. Unnötig viel ist in der Krise der vergangenen Jahren schief gegangen. Natürlich ist die Malaise hausgemacht. Man hat über seine Verhältnisse gelebt. Und sich durch EU-Subventionen finanzieren lassen, die die Menschen, denen sie helfen sollten, viel zu selten erreicht haben. Überall stehen halbfertige Brücken und leere Gebäude, deren Fertigstellung durch korrupte Mittelsmänner amputiert worden ist. Die internationale Verlagerung der Arbeitsplätze hat ein übriges getan. Und natürlich haben die großen Volksparteien – die PASOK, die Nea Demokratia – es versäumt, durch kluge Kompromisse das Land auf die Umwälzungen der Globalisierung vorzubereiten. Vor 30 Jahren hatte Griechenland noch einen funktionierenden Kleingewerbehandel, sogar eine mittelgroße Industrie. Heute ist bloß der Tourismus übrig geblieben. Und die junge Generation, die das Land demnächst führen sollte, wandert aus.
Einiges dieser Misere wäre den Griechen allerdings erspart geblieben, hätte man von Seiten der Geldgeber nicht nur stur auf Sparpakete gesetzt, sondern auch auf Wirtschaftsförderung gesetzt.
Sie übersetzten Hölderlin, der von Griechenland träumte – „wo mein Plato Paradiese schuf“.
Es gibt Berichte, die besagen, dass Gott einst die Länder unter den Völkern verteilte. Als er zu den Griechen kam, hatte er keine Erdteile mehr übrig. Also sagt er: „Gut, ihr bekommt das Paradies.“ Heute kann man darüber nur müde lächeln. Und mit dem polnischen Aphoristiker Stansław Lec stöhnen: „Sesam, öffne dich. Lass’ mich heraus.“
Exil und Emigration beschäftigen Sie auch in Ihrer literaturwissenschaftlichen Arbeit. Sie sind der Hauptherausgeber der kommentierten Werkausgabe von Nelly Sachs.
Vor gefühlten zwei Leben, als ich noch einen Ausweis als Wissenschaftler besaß, wollte ich ein Buch über Nelly Sachs schreiben – über ihre Jahre als deutsch-jüdischer Flüchtling in Schweden, über ihre lyrische Sprache, zu der sie im Kontakt mit der schwedischen Poesie der 1940er Jahren fand, über die Traumata der Verfolgung, die sie zunehmend psychisch krank machte, über die seltsame Poesie, die in den 1960ern dennoch daraus entstand. Aber ich tat es damals, in den 1980er Jahren, nicht, und schleppte folglich lange ein schlechtes Gewissen mit mir herum. Eines Tages sprach ich mit einem Freund, der einer der Geschäftsführer im Suhrkamp Verlag war und dort heute als Senior Editor tätig ist. Wenn es so sei, wie der Verlag behaupte, dass man nicht Bücher, sondern Werke herausbringe, warum kümmerte man sich dann nicht um das Œuvre der Nelly Sachs? Nur weil sie vierzig Jahre tot ist, hört die Verantwortung doch nicht auf? Ich wollte die Werkausgabe nicht selbst besorgen, ich hatte eigene Bücher zu schreiben, aber mein Freund meinte: „Machen wir, aber nur mit dir als Herausgeber.“ Kurzum: selbst hereingelegt. Dadurch ist eine vierbändige Ausgabe entstanden, zudem eine Bildbiographie, die gleichzeitig als Katalog für eine Wanderausstellung diente, die auch hier in Zürich, im damals beneidenswert gut geführten Literaturmuseum Strauhof, gezeigt wurde. Die Arbeit hat Spaß gemacht, aber auch zwei Jahre gekostet. Den grauen Göttern sei Dank habe ich kein ähnlich schlechtes Gewissen mehr, das es noch zu tilgen gäbe.
Schweden öffnet sich heute den Flüchtlingsströmen wie kein anderes Land, allein dieses Jahr werden 190 000 Flüchtlinge erwartet. Das ist eine grosse zivilisatorische Leistung. Sie erzählen in Der letzte Grieche von der Vertreibung der Griechen aus Smyrna 1922, von Flüchtlingen, die gezwungen sind, neu zu bedenken, was Heimat ist. In letzter Zeit wurden in Schweden Brandanschläge auf Asylunterkünfte verübt. In diesem Zusammenhang kristierte Ihr in Schweden lebender norwegischer Schriftstellerkollege Knausgård kürlich in einem Interview die schwedische Einwanderungs-Debatte, die die Probleme der Einwanderung ausblende, was dazu führe, dass sich in gewissen Kreisen Frustration und Gewalt breitmache. Was antworten Sie ihm?
Bisher ist die schwedische Einwanderungspolitik mit Recht gelobt worden. Zum Teil beruht sie auf einer ziemlich ausgeglichenen Gesellschaft, die es sich erlauben kann, Weltgewissen zu spielen. Aber wie Sie wissen, knirscht es auch bei uns im Gebälk. Wäre morgen Wahl, würden die rechtsradikalen Schwedendemokraten laut Umfragen die größte Partei stellen. Ob es wirklich so käme, wenn morgen Zettel in Urnen gesteckt würden, weiß ich nicht. Aber die Tatsache, dass es der Partei gelungen ist, ihre Ansichten in der Gesellschaft so zu verankern, ist schlimm genug. Sicher hat es mit der nicht gerade rosigen Weltlage zu tun. Sicher ist die nicht immer geschickte Art der traditionellen Parteien – der Sozialdemokraten, der sogenannten Allianz der bürgerlichen Parteien – mit der „Flüchtlingsfrage“ umzugehen, auch daran schuld.
Für mich liegt die Ursache des Erfolgs darin, dass die anderen Parteien keine überzeugende Antwort auf die Frage liefern, wie die Gesellschaft in fünf oder fünfzehn Jahren aussehen soll. Bisher wird von Maßnahmen und Herausforderungen gesprochen. Das hat etwas Alternativloses, leicht Beklemmendes. Wenn doch anders über die Flüchtlingfrage geredet wird, dann gern beschwichtigend. Man sollte das Thema aber weder dämonisieren, noch sentimentalisieren. Wenn die Ängste der Menschen nicht ernst genommen werden, dann hat die regressive Utopie der Schwedendemokraten – eine heile Welt, in der wir angeblich alle Tracht tragen und unsere Namen keine komischen diakritischen Zeichen aufweisen – nur weiteren Zulauf. Wie Europa im Übrigen befindet sich Schweden mitten in einem Veränderungsprozess. Man kann ihn als Krise oder Möglichkeit betrachten. Aber sollte wir ihn nicht am liebsten als etwas gemeinsam zu Gestaltendes betrachten? Es geht um Teilnahme.
Ich sehe die Gefahr nicht heute oder morgen, sondern übermorgen. Wenn die gemeinsame Öffentlichkeit zerbröckelt, wenn die Unfähigkeit, über unterschiedliche Meinungen und Lebensentwürfe hinweg im Gespräch zu bleiben zunimmt, verlieren wir den Sinn und die Achtung für das, womit wir uns vielleicht nicht immer identifizieren, aber durch dessen Anwesenheit wir uns dennoch bereichert fühlen können.
© Aldo Keel und Neue Zürcher Zeitung 2015