Grå kvartett
(Graues Quartett)

Information · Hintergrund · Anmerkung · Auszug · Rezensionen

Information

Prosalyrik, Essays, Kurzgeschichten, Gespräch · Stockholm: Faethon, 2024, 5 Bände · Umschlagbild: Annika Elisabeth von Hausswolff · ISBN: 978-91-89728-91-2

Hintergrund

graues quartett versammelt die Bücher, mit denen Aris Fioretos seine Karriere als Schriftsteller begann. Der Prosalyrische Band Delandets bok (Buch der Teilung, 1991) handelt von der Trauer um eine Freundin, die bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam. En bok om fantomer (Ein Buch über Phantome, 1996) untersucht spukhafte Erscheinungen in Film, Literatur und Oper, in der Philosophie und der Kriminologie, während Den grå boken (Das graue Buch, 1994) – ebenfalls ein Essay – sich zu einer Lobrede auf den Bleistift und Grauzonen in der Literatur formt. In Vanitasrutinerna (Die Vanitas-Routinen, 1998) schließlich, lässt er in sieben elegischen Monologen ebenso schwankende wie eigensinnige Figuren Abschied nehmen.

graues quartett ähnelt kaum etwas anderem in der zeitgenössischen schwedischen Literatur. Indem er Verlusterfahrungen und die Art untersucht, wie Phantome existieren, indem er die Sinnlichkeit des Unbestimmten und die wechselnden Formen des Abschieds zelebriert, entlockt Fioretos der Vergänglichkeit ihre fortwährende Bedeutung. In diesen frühen Büchern finden sich reichlich Keime für das, was seine späteren gefeierten und preisgekrönten Werke auszeichnet. Trauer, Zärtlichkeit, Staunen, Chuzpe . . . Fioretos schreibt eine Prosa, ebenso klar wie überraschend, die so eindringlich ist wie sonst nur die Poesie.

Die vier Bücher wurden Anfang der 2000er Jahre überarbeitet. Ergänzt wird die Kassette durch einen fünften Band, Den tredje handen (Die dritte Hand), in dem er über die Anfänge seines Schreibens mit der deutschen Kritikerin und Essayistin Cornelia Jentzsch spricht.

»Literatur über mich? Nein, danke. Das Selbsterlebte in meinen Büchern ist ein Trampolin, kein Rollator. Ich will raus aus meiner Haut.«

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Aris Fioretos, geboren 1960, ist Autor von etwa zwanzig Büchern (Romane, Essays, literaturhistorische Studien). Er hat zahlreiche Auszeichnungen im In- und Ausland erhalten, zuletzt den Essaypreis der Schwedischen Akademie und den Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland. Seit 2011 ist er Mitglied der Akademie der Sprache und Dichtung in Darmstadt, seit 2022 auch der Akademie der Künste in Berlin. Im Juni 2024 wird er unter dem Titel »Solarplexus« die renommierten Poetikvorlesungen in Frankfurt am Main halten.

Anmerkung

Mit Ausnahme des dritten Buchs dieses Quartetts wurden alle einige Jahre nach Beginn des neuen Jahrtausends überarbeitet, als erstmals eine Sammelausgabe geplant war. Lediglich Das graue Buch musste angesichts der Veränderungen, die der Text bei der Übersetzung ins Englische im Jahr 1999 erfuhr, noch bearbeitet werden. Die Aufgabe wurde jedoch verschoben und heute, ein paar Jahrzehnte später, vermag ich das Werk nicht fertigzustellen. Die vor zwanzig Jahren begonnenen Überarbeitungen blieben unangetastet. Abgesehen von den neu hinzugefügten Zitaten aus The Gray Book wurden bloß geringfügige Änderungen vorgenommen.

Das Buch der Teilung enthält einige Anspielungen, die nie erklärt werden; es wäre vergeblich, sie im Nachhinein zu untersuchen. Die Originalausgabe von Ein Buch über Phantome enthielt Bilder von Sophie Tottie, die in der vorliegenden Version weggelassen wurden. Obwohl nicht viel über graue Literatur geschrieben worden ist (soweit ich weiß), boten mir bei der Arbeit an Das graue Buch eine Handvoll Studien Inspiration, darunter die von Henri Petroski und Brian Rothman – über die Geschichte des Bleistifts beziehungsweise die Semiotik der Null. Ich möchte auch zwei Aufsätze von Werner Hamacher erwähnen: einer über Tränen, der andere über Wolken. Die Vanitas-Routinen schließlich, die jüngsten des Quartetts, weisen die wenigsten Veränderungen auf – ein gelöschtes Wort hier, ein angepasster Satzbau dort.

Auszug

Glaubst Du, dass die Dekonstruktion ihren Endpunkt erreicht hat?

Mit dem Begriff »Endpunkt« wäre ich vorsichtig. Die Dekonstruktion hat ja selbst gezeigt, wie widersprüchlich Vorstellungen von einem Ende sind. Den Apokalyptikern scheint es nie an Arbeit zu mangeln. Die Gedanken, die in den 1980er Jahren zu einer solchen Überhitzung an den Universitäten führten, bildeten aber sicherlich eine theoretische Grundlage für viele der folgenden Einstellungen und Lebensweisen. Beispielsweise fällt es mir schwer zu glauben, dass das heutige »nicht-binäre« Denken ohne Jacques Derridas Dekonstruktion von Dichotomien so offensichtlich oder überzeugend wäre.

Es dauerte nicht viele Stunden im Hörsaal in der Rue d’Ulm, bis seine Art nachzudenken nicht nur in dem, was ich damals las und dachte, sondern auch in meiner persönlichen Geschichte Anklang fand. Als Kind von Eltern aus verschiedenen Ländern, geboren und aufgewachsen in einem dritten zu einer Zeit, die der Eiserne Vorhang als eine ausgeprägt bipolare zeigte, fühlte ich mich instinktiv (wenn denn das das richtige Wort ist) nicht in der einen oder anderen Kultur zu Hause, sondern eher in den Unterschieden zwischen ihnen. Ich vermute, ein Teil meiner Faszination für Grauzonen, dieser Wunsch, in der Unbestimmtheit zu verweilen und sie auszuloten, hat mit diesem persönlichen Hintergrund zu tun. Es bereitete mir fast grenzenlose Freude, die kleinsten Nuancen und Schattierungen, Abweichungen und Komplikationen zu erforschen. Wenn Du so willst, berechtigte mich der Glaube an die Unstetigkeit meiner Existenz zu bestimmten Freuden.

Auch heute noch geht es mir weniger um die Bestätigung soziokultureller Identitäten als vielmehr um die Untersuchung von Unterschieden. Hieraus stammt ein Großteil der Energie, die mich antreibt. Obwohl das Schreiben heute weniger aparte Ausdrücke annimmt. Als Autor empfand ich es als große Befreiung, Menschen mit unterschiedlichen Bedingungen und Perspektiven zu schildern, mit Erfahrungen, die ich selbst nicht gemacht habe, vielleicht auch nicht machen kann. Es befriedigt mich viel mehr, aus fremden Erfahrungen zu lernen. Literatur über mich? Nein, danke. Das Selbsterlebte in meinen Büchern ist ein Trampolin, kein Rollator. Ich will raus aus meiner Haut.

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Es wäre seltsam, wenn man sich als Schriftsteller nicht verändern, neue Bereiche und Perspektiven suchen und sogar die Art des Schreibens, ja, die Stimme ändern wollte. Dennoch bemerke ich eine starke Kontinuität. In einem Roman wie Mary aus dem Jahr 2015 geht es darum, als jemand anderes zu überleben. Wie heißt es am Anfang des Buchs? »Es mag seltsam klingen, aber ich bin die einzige, die erzählen kann, wie ich endete.« Und soweit ich weiß, schildert Dein neuester Roman, Die dünnen Götter aus dem Jahr 2022, nicht nur hauchdünne, schwarz gekleidete Rockmusiker, sondern auch die flatternden Wesen, in die sich viele Menschen nach ihrem Tod verwandeln und die wir, ohne sie zu sehen, in kritischen Momenten an unserer Seite spüren können.

Sicherlich gibt es Verbindungen zwischen frühen und späteren Werken. Das Schreiben birgt sicherlich eine ganze Reihe von Schmerzpunkten und Obsessionen und festen Ideen, die sich wiederholen. Fragen des Stils und der Struktur sind für die erwähnten Romane zwar nicht unwichtig, sie befassen sich jedoch nicht mit Phänomenen, die auch nur sekundär sprachlicher Natur sind. Ich glaube auch nicht, dass ich versuche, Geister loszuwerden, oder dass ich die Furie des Verschwindens zur Rechenschaft ziehen möchte. Die Zeit muss sicherlich angehalten werden, zumindest in manchen Momenten, aber welche Literatur möchte das nicht?

Das akute Gefühl von Vergänglichkeit hat mich nie verlassen, aber heutzutage geht es mir mehr darum, Präsenz zu schaffen – mit allen verfügbaren Mitteln erzählender Prosa. Gänsehaut, Erröten, Jubel, Staunen, Verzweiflung... Eigentlich ist es im Prinzip egal, wie die Reaktion ausfällt, solange der Text es schafft, unter die Haut seiner Leser zu gehen. Wofür soll er sonst gut sein? Es mag wild – oder auch nur naiv – klingen, aber ich möchte, dass sich Literatur real anfühlt. Sie ist ein Evidenzproduzent, was möglicherweise meine Beschäftigung mit den Wundern und herzzerreißenden Mängeln des Körpers erklärt.

Den tredje handen (Die dritte Hand), Seiten 61–62 und 79–80.

Rezensionen

»Für mich ist Aris Fioretos schon immer eine Klasse für sich gewesen, ein Mensch, der sowohl sozial als auch schriftlich sein volles Potenzial zu entfalten vermag: ein bisschen brillanter, ein bisschen schneller, als würde man selbst auf geringerer Drehzahl laufen. . . . Sein Werk beginnt mit dem Aufhören, mit der Feststellung seiner Unzulänglichkeit: Dies kann nicht gesagt werden, heißt es in Delandets bok. Schreiben wird sowohl zum einzigen Ausweg aus der Trauer als auch zur einzigen Möglichkeit, sie zu bewahren, in einer Zeit zu leben, die es nie gegeben hat; an einem Ort zu bleiben, der nicht existiert. ›Schreiben‹, sagt Fioretos, ›wurde zu einer Art, das ›Nichts‹ festzuhalten, das übrigblieb.‹ Aber ›Nichts‹ muss gar nicht so wenig sein. In seinem Blog The Red Hand Files spricht der Rockmusiker und Autor Nick Cave auf der Grundlage eines denkwürdigen Treffens mit seinem Musikerkollegen Bryan Ferry über die fragile Natur der kreativen Arbeit: ›Deep in my heart‹, schließt Cave, ›weiß ich, dass es immer etwas gibt, worüber ich schreiben kann, aber es gibt auch immer nichts – und dazwischen schrecklich wenig Luft.‹ In dieser erschreckend kleinen Menge Luft ist es möglich, überraschend tief einzuatmen. Genau das passiert im Grauen Quartett. In dem winzigen Handlungsspielraum, den sich der Trauernde in der Lücke zwischen stehengebliebener und vergehender Zeit zuweist, erscheint irgendwann ein Bleistift, und daraus erwächst eine graue Literatur, eine Schar von Phantomen, eine ganze Vielfalt.« – Kristoffer Leandoer, Dagens Nyheter