Vadim von Kolibars Strumpftheorie
Prosa · Aus dem Schwedischen von Paul Berf · Figurationen, 2021, No. 1, S. 34–150
Das Gehirn und das verlängerte Mark arbeiten nicht immer so zusammen, wie die ärztliche Kunst es sich wünscht.
Samuel Henschel
Vadim von Kolibar war bis auf die bloßen Knochen müde. Seit die Leukämie ihm vor der Jahrhundertwende die Zwillinge genommen hatte, vergrub er sich in Arbeit. Nachdem er die Professur für mentale Aktivitäten angenommen hatte, hielt der Unterricht die schlimmste Schwermut auf Distanz; der Umgang mit jungen Menschen tat ihm gut. Als er eine Assistentin bekam, ahnte er sogar, wie das Leben ausgesehen hätte, wenn seine Töchter erwachsen geworden wären. Doch nun, zwanzig Jahre später, waren Reva und er allein. Ihr einziges Kind, Adam, studierte im Ausland, und als seine Frau begriff, dass ihr Mann trotz der Pensionierung nicht beabsichtigte, seine Forschung einzustellen, gab sie auf. Sie stritten sich selten, führten jedoch parallele Leben. Er lebte für die ruhigen Tage im Labor, sie in den warmen Monaten für die Datscha und in den kalten für die Theater.
Im April 1917 setzte von Kolibar endlich den Schlusspunkt. Die Strumpftheorie hatte ihm jede Unze seiner Aufmerksamkeit, jedes Gramm seiner Kombinationsfähigkeit abverlangt. In drei Jahren würde er seinen Siebzigsten feiern; Reva hatte Anspruch auf die ihm verbleibende Zeit. Wenn das Buch erschien, würde er Kommentare von einer Handvoll Kollegen abwarten, deren Ansichten etwas bedeuteten – Guillain und Barré in Paris, Sherrington in Oxford und Henschel in Stockholm, Vogt, Mendel und Alzheimer in Deutschland, vielleicht auch Flatau in Warschau und mit Sicherheit Ramón y Cajal in Madrid. Möglicherweise würde er außerdem Pawlow und Bechterew von der Staatlichen medizinischen Akademie ein Exemplar schicken. Von Kolibar ging es nicht um den Wettstreit. Dennoch wollte er nicht leugnen, dass er neugierig auf die Reaktionen seiner Kollegen war, sobald sie erkannten, dass er ohne Mittel und Assistenten weiter geforscht hatte.
Er würde sich für ihre Gesichtspunkte bedanken, sie aber nicht weiter kommentieren. Mit Levij povorot („Linksdrehung“) war das letzte Wort über die komplizierte Beziehung zwischen Gehirn und Seele gesprochen worden.
Den Ausgangspunkt für von Kolibars Bewusstseinstheorie bildeten die eigenen Töchter. Als sie im Winter 1889 geboren wurden, hatte Reva so laut geschrien, dass die Stimmbänder rissen. Ihr Gatte, der bei der Entbindung assistierte, verstand bald warum: Die blutigen Bündel hatten zwar jeweils eine eigene Nabelschnur, hingen aber auch an der Hüfte zusammen.
Als man festgestellt hatte, dass sich die Zwillinge keine vitalen Organe teilten – weder Leber noch Lunge, kein Herz; nur einen Hüftknochen und Haut –, bot Wladislaw Rokitskij an, sie zu operieren. Der Eingriff war nicht ungefährlich, aber Rokitskij hatte die arthroplastischen Methoden des Berliner Chirurgen Themistocles Gluck verfeinert, und versprach ihm, dass die Säuglinge überleben würden. „Ihre Töchter sind nicht wie die Siamesen, Vadim.“
Der Kollege spielte auf die Zwillinge In und Jun an. Die zusammengewachsenen Brüder waren 1811 in einem Hausboot auf dem Mekong in Siam (dem heutigen Thailand) geboren worden. Wenige Jahre später wurden sie von einem britischen Abenteurer entdeckt, der dem Kaiser ihre Dienste abkaufte und sie in die USA mitnahm. Dort wurden die Geschwister für mehr Jahre, als sie sich später in Erinnerung zu rufen wünschten, an sechs Tagen in der Woche als The Siamese Double Boys vorgeführt.
Nachdem es ihnen schließlich gelungen war, die Jahrmarktszelte und Varietétheater zu verlassen, zogen sie sich nach Wilkesboro in North Carolina zurück. Dort kauften die Brüder eine Plantage (nebst Sklaven) und lebten unter ihren anglisierten Namen Chang und Eng. Anlässlich der ‚Naturalisierung‘ entdeckte man, dass sie keinen Nachnamen hatten; ein Mann, der hinter ihnen in der Schlange stand, lieh ihnen gegen ein paar zerknitterte Geldscheine den seinen. Fortan nannten sie sich Bunker. Nachdem sie die Töchter von einem Nachbarhof geheiratet hatten, bekamen die Paare insgesamt einundzwanzig Kinder.
Rokitskij hatte einen Auftritt der Zwillinge auf ihrer letzten Tournee durch Europa und Russland 1868–69 gesehen. Zu der Zeit waren sie Männer mittleren Alters und verlebt. Die Familien wohnten auf der Plantage in getrennten Häusern; die Brüder verbrachten abwechselnd eine Woche bei der jeweiligen Frau. Der amerikanische Bürgerkrieg hatte sie finanziell ausgeblutet, was der Grund dafür war, dass sie erneut auftraten. Um die Tristesse in drittklassigen Hotels zu bekämpfen, spielte Chang Poker, während Eng trank. Wieder daheim erlitt ersterer einen Gehirnschlag; danach war das dem Bruder nähergelegene Bein unbrauchbar. Im Januar starben sie im Abstand einiger Stunden im Alter von 62 Jahren. Den Obduzenten zufolge hatte Chang ein Blutgerinnsel im Gehirn; Engs Todesursache war unklarer. Möglicherweise starb er an seinem Grauen bei dem Gedanken, mit einem toten Bruder an seiner Seite weiterzuleben.
Nichts von all dem erwähnte Rokitskij. Von Kolibar war sich des elenden Lebens, das die siamesischen Zwillinge führen mussten, bewusst – nicht nur physiologisch, sondern auch sozial. Die meisten betrachteten zusammengewachsene Geschwister als eine lusus naturae – eine böswillige Laune der Natur. Noch platzierten Lehrbücher die Missbildung in die dritte Kategorie, von Linné homo monstrosus genannt (im Unterschied zu homo sapiens und homo ferus, dem ‚verständigen‘ beziehungsweise ‚wilden‘ Menschen). Als Rokitskij ihm zeigte, wo die Töchter zusammenhingen, schloss sein Kollege deshalb die Augen und nickte stoisch.
Reva brauchte davon nichts zu wissen; sie hatte genug gelitten.
Die Töchter wuchsen zu einigermaßen gesunden und umtriebigen Mädchen heran. Einzig ein leichtes Hinken zeugte davon, wie sie zur Welt gekommen waren. Der Vater verfolgte aufmerksam ihre Entwicklung und war stets darauf bedacht, die Individualität der Kinder zu fördern. Obwohl sie eineiige Zwillinge waren, sich also zum Verwechseln ähnlich sahen, blieb Alla in sich gekehrt und sprach nur ungern, während Anna bevorzugt im Freien spielte und nie genug von Albereien oder Gesellschaftsspielen bekommen konnte. Obwohl es offensichtlich erschien, dass sie auf unterschiedliche Elternteile kamen, wirkten sie nicht wie Gegensätze, sondern eher wie Ergänzungen.
Letztere Beobachtung, angestellt in dem Jahr, als die Mädchen in die Schule kamen, sollte die Grundlage für von Kolibars Bewusstseinstheorie bilden. Als die Kinder sich eines Tages anzogen, stellte er fest, dass jede der beiden die Schwester als Spiegel benutzte. Sie ahmten Bewegungen nach, sie knöpften die Kleidungsstücke auf die gleiche Art, von rechts nach links. Danach folgte das Kämmen des dichten Haars, der schwere Zopf und eine abschließende Schleife. Nur die Farbe des Bands war unterschiedlich; hellblauer Samt für Alla, rosa für Anna.
Die Töchter schienen ein Bewusstsein jenseits des aktiven Verstands zu besitzen. Als ihr Vater sie danach fragte, zuckten sie bloß mit den Schultern und meinten, sie seien füreinander da. Was stimmte. Wenn er die eine rief, kam automatisch die andere. Scherzte Anna und tat so, als verlöre sie das Gleichgewicht, griff die Schwester ihr instinktiv unter die Arme. Und wenn Alla den grünen Wachsmalstift für die Wiese benötigte, die sie malen wollte, hielt sie die Hand hin, ohne aufzuschauen, und bekam ihn von Anna, die mit dem gleichen konzentrierten Blick auf das vor ihr liegende Blatt gerade einen Himmel kolorierte.
Zu wem gehörte dieses… dieses…
Von Kolibar wusste nicht, wie er eine Bewusstseinssumme nennen sollte, die anders, ja, größer war als ihre Teile. Dem Verhalten der Kinder nach zu urteilen, handelte es sich um eine sensorische Fähigkeit jenseits von Sehvermögen, Gehör und Geschmack, Geruch und Berührung. Zwar ließ sie sich als ein sechster Sinn betrachten, aber der Begriff missfiel ihm. Die Töchter waren weder hellsichtig noch telepathisch, keine Beispiele für die Art von Phänomenen, die man am besten Helena Blavatsky oder Georgij Gurdijeff überließ.
Erst als er ihnen das Schreiben beibrachte, erkannte er, dass er trotz Fürsorglichkeit und Interesse unaufmerksam gewesen war. Von Kolibar hatte ohne Weiteres angenommen, dass die Beziehung der Mädchen auf Verdoppelung basierte. Viele Glieder und Organe im Körper kamen ja zwei Mal vor: die Lungenflügel, die Nieren und Eierstöcke, Arme, Beine und Ohren… Auch das Kronjuwel der Schöpfung, das Gehirn, war doppelt. Die scheinbar identischen Hälften besaßen im Prinzip die gleichen Funktionen, auch wenn sie Daten unterschiedlich verarbeiteten. Kurzum: Der Mensch war ein symmetrisches Tier.
Der Professor hatte angenommen, dass diese Tendenz bei Zwillingen, insbesondere der siamesischen Variante, in verstärkter Form vorlag. Während der Schwangerschaft hatten die Töchter nicht so sehr zwei Föten, sondern einen im Werden begriffenen Menschen gebildet. Folglich wäre es nicht verwunderlich, wenn sie bereits in diesem frühen Stadium eine überindividuelle mentale Aktivität entwickelt hätten. Alla und Anna hatte niemals ein Glied oder Organ gefehlt. Doch wie die Hälften des Gehirns verdoppelte das eine Mädchen das andere wahrscheinlich auf eine Weise, die ihr gemeinsames Wesen erweiterte.
Als er die Kinder an einem Freitag im Winter 1895 zu beiden Seiten des Esstisches Platz nehmen ließ und sich selbst ans Kopfende setzte, entdeckte er, dass seine Theorie hinkte. Die Töchter waren ungewöhnlich teilnahmslos und quengelig, ließen sich aber für eine gewisse Zeit auf seine Anweisungen ein. Danach fand Reva, sie müssten sich ausruhen. Als ihr Vater demonstrierte, wie ein lateinisches ‚s‘ mit einem ‚c‘ verbunden wurde, dem ein ‚h‘ folgte – und so weiter, bis ‚schreiben‘ auf dem Papier stand –, bissen sie koordiniert auf ihre Zungen und ahmten ihn nach. Ab und zu sahen sie nach, wie die Schwester es machte, was nur natürlich war. Aber, bemerkte von Kolibar nun, beide schrieben auch in die gleiche Richtung.
Da sie einander gegenübersaßen, hätte dies eigentlich in entgegengesetzte Richtungen geschehen sollen. Er überlegte, was das bedeuten mochte. Am Ende holte er einen Spiegel, den er zwischen die Kinder stellte. Jetzt konnte Alla, mit der er anfangen wollte, ihre Schwester nicht mehr sehen. In der Tat: Kaum hatte sie den Stift auf das Blatt gesetzt, als sie auch schon aus dem Konzept geriet. Ihr Vater ermahnte sie weiterzumachen, aber wenn seine Tochter ihr Abbild kontrollierte, verunsicherte sie das jedes Mal. Statt ‚r‘ oder ‚e‘ oder ‚i‘ zu schreiben, verhedderten sich ihre Finger unweigerlich. Schließlich gab sie auf.
Der Neurologe begriff, dass er etwas Wichtigem auf die Spur gekommen war. Doch wie sollte diese Anomalie gedeutet werden? Aus Gründen, die er sich später nicht erklären konnte, presste er seine Hand auf Allas Brust. Nichts Seltsames. Das Herz schlug, wie es sollte. Kleine, treue Schläge. Als er bei Anna das Gleiche tat, pochte jedoch kein Muskel unter seiner Handfläche. Sachte bewegte er die Finger nach rechts, und langsam verstärkte sich der Puls. Das Herz seiner Tochter saß nicht links, sondern rechts!
Von Kolibar suchte seine Erregung zu verbergen, aber sein Inneres war in Aufruhr. Dass er das nie bemerkt hatte. Annas Herz war ein klassisches Beispiel für situs ambiguus. In ihrem Körper saß ein, ja, saßen möglicherweise mehrere Organe an der falschen Stelle. Inwiefern auch die Milz oder der Magen, die Leber, die Gallenblase oder der Blinddarm den Platz getauscht hatten, konnte er noch nicht sagen. Nach dem Wochenende mussten die Mädchen jedoch von Kopf bis Fuß untersucht werden. Wenn Anna diese Seltenheit war – ein Beispiel für situs inversus totalis –, bei der sämtliche inneren Organe, einschließlich der Nerven, ihre Lage gewechselt hatten, würde er vermutlich der Wahrheit darüber auf die Spur kommen, wie sie ein gemeinsames Bewusstsein entwickelt hatten.
Da die Töchter in die gleiche Richtung schrieben, hielt der Vater bis auf Weiteres fest, dass sie sowohl aus ihrer eigenen als auch der Perspektive der Schwester sahen und handelten. Die eine war ein genuiner Teil der anderen, ohne dadurch als Mensch weniger intakt zu sein. Sie waren zugleich Individuen und Dividuen. Sollte es sich bei letzterem um eine spezifische Bewusstseinsfunktion handeln, würde sie sich wahrscheinlich im Gehirn lokalisieren lassen.
Im Verlauf des Wochenendes ging es seinen Töchtern jedoch schlechter. Als beide über Schmerzen klagten, ahnte ihr Vater Ungemach. War die Kraftlosigkeit wirklich nur eine Folge davon, dass sie bei der Geburt zusammengehangen hatten und deshalb schwächer waren als andere Kinder? Während sie sich am Montag für die Schule fertigmachten, wollte er wissen, ob sie sich nicht freuten. Immerhin würde er sie schon nach der dritten Stunde abholen. Er versprach ihnen, sie dürften gleich im Anschluss an die medizinischen Untersuchungen in die Konditorei und dort so viel medodvik essen, wie sie wollten. Trotzig krempelten die Töchter ihre Strümpfe herunter. Beider Beine waren von Flecken in Farben zwischen gewitterblau und birnengelb übersät. Außerdem hatten die Schäfte der Stiefel gescheuert und zu Wunden geführt.
Von Kolibar brachte sie umgehend ins Krankenhaus. Das Ergebnis der Untersuchung war eindeutig: akute lymphatische Leukämie. Zwei Monate später wurden die Töchter auf dem Nowodewitschi-Friedhof begraben, wo seine Familie seit zwei Generationen ruhte.
Der Tod der Kinder war ein schwerer Schlag für die Eltern. Ihre Mutter verbrachte jede wache Stunde damit, sich Sorgen um ihren zweijährigen Sohn zu machen; ihr Vater vertiefte sich in den Obduktionsbericht. Als man ihm die Professur am Medizinischen Institut für Mädchen anbot, nahm er den Ruf an. Von Kolibar würde seine Töchter niemals im weißen Kittel sehen dürfen, wollte sich aber dafür einsetzen, dass sich das schwache Geschlecht zu Ärztinnen ausbildete. Ein paar Jahre später erkundigte sich Rokitskij, ob er eine Assistentin benötige. Er war vor allem aus Pflichtgefühl einverstanden, aber schon ein paar Wochen später dankte er der Vorsehung. Während der Tage im Labor musste er sich gelegentlich auf die Zunge beißen, um seine Assistentin, die später einflussreiche, aber früh verstorbene Vlavla Vlavlavovna, nicht Alla oder Anna zu nennen.
Beim Kongress für Neurologie in Warschau 1901, zu dem ihn Eduard Flatau eingeladen hatte, präsentierte der russische Neurologe die vorläufigen Ergebnisse seiner bis dahin geheim gehaltenen Forschung. Er betrieb sie zum Gedenken an seine Kinder, was verpflichtete. Nie wieder gedachte er unaufmerksam zu sein. Jetzt, da alles zu spät war, blieb ihm als Einziges seltsamerweise Zeit. Dem Vortrag folgte eine lange Fragerunde, bei der Flatau seine berühmte Geste machte. Den Zeigefinger auf die Kopie des Manuskriptes gedrückt, die von Kolibar ihm gegeben hatte, sagte er: „Wie Sie hier schreiben…“ Auch Bechterews Interesse schien geweckt, so, wie von Kolibars Landmann dort mit unter seinem großen Bart verschränkten Armen saß. Gleichwohl schien niemand anhand der Vorlage, die er präsentiert hatte, wirklich spannende Schlussfolgerungen zu ziehen. Dies behagte von Kolibar. Ahnte er wirklich als einziger die Möglichkeiten, die seine Töchter für ein tieferes Verständnis mentaler Aktivitäten boten?
Am letzten Abend navigierte ein schwedischer Forscher so geschickt durch das Gedränge im Ballsaal, dass er erkannte, er war wohl doch nicht allein. Der Mann stellte sich ihm als Samuel Henschel vor und brachte genau die Art von Fragen vor, die von Kolibar erfreuten und zugleich beunruhigten. Erfreuten, weil er merkte, dass er sich danach gesehnt hatte, seine Vermutungen mit einem Spezialisten zu diskutieren; beunruhigten, weil er fürchtete, seine Töchter zu hintergehen, indem er sie als Forschungsmaterial behandelte.
„Warum Strümpfe?“
Von Kolibar lächelte verlegen, dann erzählte er von der Entdeckung, deren Untersuchung er die folgenden Jahre widmen würde.
Bei der Obduktion hatte sich herausgestellt, dass nicht nur Anna, sondern auch Alla Beispiele für situs ambiguus aufwies. Bei ersterer waren die Organe angeordnet, als besäße der Körper zwei rechte Seiten, bei letzterer, als hätte er zwei linke. Zumindest innerlich waren seine Töchter perfekte Spiegelbilder voneinander gewesen. Es hatte ihren Vater einige Zeit gekostet zu verstehen, was das bedeutete. An einem Sommertag nach dem Tod der Zwillinge hatte er jedoch eine Weile in ihrem Schlafzimmer verbracht. Auf den Betten lagen vertrocknete Blumensträuße, das Zimmer roch nach Mottenkugeln. Er mochte die Stille; es kam ihm vor, als befänden sich die Kinder noch zwischen den Kissen und Spielsachen – da war der gleiche Hauch von unvergänglichem Schmerz, den er empfunden hatte, als er in jungen Jahren hörte, wie Joseph Joachim sein zweites Violinkonzert spielte, das in d-Moll. Zum ersten Mal zog er die Schubladen der Kommode auf. In der oberen lagen zusammengefaltete Schürzen und Mieder. Als er mit der unteren fortfuhr, fand er, was er inzwischen als sein Thema betrachtete: die Ewigkeit.
Henschel nickte unsicher.
Das Hausmädchen hatte die Strümpfe der Mädchen in Haufen zusammengelegt – Allas hellblaue und weiße links, Annas rote und weiße rechts. Jedes Paar war so zu einem Knäuel geformt, wie man es in der Familie seiner Frau machte. Zwischen den Haufen warteten allerdings zwei einzelne Strümpfe auf den verlorenen Widerpart. Als der Neurologe sie sah, kamen ihm die Tränen. Die Lunge bebte, die Tränen flossen so üppig, dass er sie mit den Strümpfen abwischen musste.
Von Kolibar wusste nicht zu sagen, wie lange er in dem Zimmer gesessen hatte. Aber er erinnerte sich, dass ihm die Sonne ins Gesicht geschienen hatte, bevor sie hinter dem Schornstein des Nachbarhauses verschwunden war. Etwas in den Strahlen, die durch den Rauch gesickert waren, packte ihn. Wäre er religiös gewesen, er hätte vermutlich das Gefühl gehabt, von einer höheren Macht gesehen zu werden. Stattdessen fühlte er sich ‚wie durch einen Schleier‘ beobachtet.
Henschel, der nicht wusste, wie er auf die Gefühlsseligkeit des Russen reagieren sollte, fragte, was der Kollege von Lombrosos Theorien halte. Der Italiener behauptete ja, in Gefängnissen kämen mehr Linkshänder vor als an anderen Orten, was auf einen degenerativen Zug hindeuten könnte, sowie, dass es geborene Verbrecher gebe. Seine Theorie werde in Stockholm derzeit fleißig diskutiert. Viele glaubten, ein Linkshänder zu sein sei ein Zeichen für Entartung. Unter anderem M. M. Ressen, der dem Italiener beim Zweiten Internationalen Kongress für Kriminalanthropologie in Paris 1889 begegnet und mit ihm in Verbindung geblieben war.
„Ressen?“, wiederholte von Kolibar, dem Wiederholungen eigentlich missfielen, weil die Zwillinge gezeigt hatten, dass nichts jemals gleich war. „Sie meinen den Seelenbiologen?“
„Genau der.“
Die Auskunft führte das Gespräch in eine andere Richtung als die Männer wünschten, allerdings aus unterschiedlichen Gründen. Statt das Zusammenspiel zwischen den Gehirnhälften oder Ressens zweifelhafte Methoden zu diskutieren, vertieften sie sich in die Anthropometrie und berührten aus irgendeinem Grund auch die Heraldik. Von Kolibar vermutete, dass unter den Gefallenen der Gesellschaft ebenso viele Verbrecher wie Aristokraten zu finden sein dürften. So hatte der Bruder seines Vaters sich des schweren Betrugs schuldig gemacht. Und seine ältere Schwester war entweder verrückt oder ein Medium, schwer zu sagen, was. Als seine Mutter ihm erzählte, dass Michaila, die in den Kreisen um Madame Uhl verkehrte, ein außereheliches Kind zur Welt gebracht hatte, und dass sie dieses hatte fortgeben müssen, gab es jedoch auf einmal eine Erklärung für die angespannten Nerven der Schwester. Danach strich er uneheliche Kinder von der Liste über menschliche Anomalien.
Als Henschel den Russen am nächsten Tag in der Hotellobby traf, wusste er nicht, wie er sich verhalten sollte. Der Gefühlsausbruch vom Vortag hatte auf lange angestaute Gefühle hingedeutet; die meisten wollten nicht an sie erinnert werden, wenn man ihnen das nächste Mal begegnete. Höflichkeitshalber bat er dennoch um eine Kopie der Vorlesung. Es sei ihm eine Ehre, sie in einer der Zeitschriften veröffentlichen zu dürfen, die er als Redakteur betreue.
Von Kolibar übergab ihm das Manuskript mit einer angedeuteten Verneigung. Ihm reiche es vollkommen, wenn er bei Gelegenheit die eine oder andere Rückmeldung erhalte. Dann legte er seine Hand aufs Herz und zog sie über sein Jackett bis zur rechten Tasche hinunter. Das milde Lächeln unterstrich, dass er sein inneres Gleichgewicht wiedergefunden hatte. Aber auch, dass er das gestrige Gespräch über das diagonale Band nicht vergessen hatte, das auf gewissen Wappenschilden von der oberen rechten Ecke zur gegenüberliegenden unteren verläuft und traditionell Schräglinksfaden beziehungsweise Linksdrehung genannt wird. Oder dass es uneheliche Nachfahren symbolisiert – ein Bastardzeichen.
Die Männer verabschiedeten sich unter neuerlichen Verneigungen.
Während der Zugreise nach Petersburg dachte von Kolibar über Linkshändigkeit nach. Lombroso behauptete, er könne, ausgehend von der Hand, mit der ein Mensch schrieb, darauf schließen, ob die Person zu den Glücklichen oder Verstoßenen der Gesellschaft gehöre. Zwar hatte Henschel darauf hingewiesen, dass der Italiener zwischen ‚Linkshändigkeit‘ und ‚Linksseitigkeit‘ unterschied; wenn Rechtshänder eine Veranlagung für letzteres aufwiesen, war es demnach durchaus möglich, dass auch sie zu Dieben oder Mördern wurden. Außerdem handelte es sich um Veranlagungen, die nicht automatisch soziale Missachtung bedeuteten; erst in Kombination mit anderen erblichen Faktoren bildete sich das kriminelle Gehirn heraus.
In von Kolibars Ohren klang das wie Haarspalterei. Wollte der Professor in Turin ihm wirklich weismachen, seine Töchter hätten die ersten Schritte auf dem Weg des Verbrechens gemacht, als sie in der Küche ‚schreiben‘ schreiben gelernt hatten? Er weigerte sich, das zu akzeptieren. Ebenso wenig war er davon überzeugt, dass „unter Verbrechern mehr Linkshänder und unter Verrückten mehr Personen mit linksseitig ausgeprägten Sinnesorganen“ vorkamen.
Dies behauptete Lombroso in einem Aufsatz, den er später lesen sollte. Das empirische Material war allerdings dürftig – etwa tausend Arbeiter und Soldaten. Das Argument schien dem Aberglauben geschuldet zu sein, dass Linkshänder sinistre Gestalten mit besonderer Sympathie für den Teufel waren. Wenn sie nicht auch homosexuell lebten, waren sie zumindest tölpelhaft. Ein Ausdruck wie fare un tiro mancino („mit links werfen“) wurde demnach als Beweis dafür angesehen, dass Menschen, die mit der unzuverlässigen Hand schrieben, sich heimlich schmutziger Tricks bedienten, will sagen, „link“ waren.
Zu diesem Zeitpunkt, nach ein paar Jahren des neuen Jahrhunderts, hatte von Kolibar Studien auf einer wesentlich breiteren Grundlage durchgeführt. Gemeinsam mit Vlavlavovna hatte er sämtliche Linkshänder am Institut untersucht sowie ihre Familien durch die Generationen zurückverfolgt und in einzelnen Fällen auch nach vorn. Nichts deutete darauf hin, dass sie dem Verbrechen oder Wahnsinn näherstanden als andere. Sicher waren mehrere Studenten homosexuell, andere nur allgemein sensibel. Zu sagen, dass es sich dabei um eine „linksseitige“ Veranlagung handle, erschien ihm nicht nur schwierig, sondern falsch.
Für Lombroso hing die Frage der Linksheit mit Asymmetrie zusammen. Der Grad der Unregelmäßigkeit, hieß es, steige, je näher ein Tier dem homo sapiens stehe – ein Evolutionsprozess, der auch noch beim Menschen selbst weitergehe, insofern dieser stets größere ‚Perfektibilität‘ anstrebe. So sei das Gewicht der Glieder bei Neugeborenen auf beiden Seiten gleich. Im Lauf der Jahre wachse dann die Masse rechts an, bis der Körper im Alter erneut ausbalanciert werde. Vergleichbares geschehe mit den inneren Organen. Je ‚nobler‘ das Organ, desto größer die Asymmetrie. Dies gelte insbesondere für die Krone der Schöpfung:
Weil die Asymmetrie stets im Verhältnis zur Reife des Menschen zunimmt, und weil unser Gehirn zu den Organen gehört, die sich am stärksten entwickeln, wird es, je stärker es beansprucht wird, desto asymmetrischer. Folglich weist ein zivilisatorisch und kulturell fortgeschrittener Mensch im Vergleich zu Wilden stets eine größere Rechtsseitigkeit auf, wobei Männer Frauen zahlenmäßig überlegen sind und Erwachsene Kindern.
Um die Stellung des Mannes in der Evolution zu unterstreichen, hielt Lombroso fest, dass Männer die rechte Hand ausstreckten, wenn sie ein Geschenk annehmen, während Frauen die linke benutzten. Letztere knöpften zudem ihre Kleider von rechts nach links und stellten die Uhr, indem sie die Zeiger von rechts nach links drehten, was ein Mann niemals tun würde. „Dies erklärt, warum die Menschen früherer Zeiten lieber von rechts nach links schrieben, wie es bei wenig zivilisierten Völkern wie den Arabern noch heute der Fall ist, und wie es Kinder tun, bis man sie korrigiert.“
Von Kolibar griff sich an die Stirn. Sicher, auf dem Weg zum Gehirn wurden die Nerven im verlängerten Mark umgeschaltet, was Folgen für die Topologie des Gehirns hatte. Aber dass sich die seelischen Fähigkeiten auf der Basis so grobmotorischer Kriterien wie Links- beziehungsweise Rechtshändigkeit erklären lassen sollten, erschien lächerlich.
Dennoch vermochte er sich nicht von dem Gefühl freizumachen, dass Linkshändern etwas Besonderes eigen war. Es schien ihm kein Zufall zu sein, dass beide Töchter den Stift in die linke Hand genommen hatten. Oder dass ihre inneren Organe perfekte Spiegelbilder voneinander waren. Dieser unheimliche Sinn für Koordination: Musste er nicht der Tatsache geschuldet sein, dass sie als siamesische Zwillinge geboren wurden?
Bis zu seiner Pensionierung forschte von Kolibar weiter – anfangs assistiert von Vlavlavovna, später allein. Obwohl es ihm widerstrebte, sammelte er alles über siamesische Zwillinge – Bilder, Schriften, Gerüchte. Gab es unter ihnen weitere Beispiele für situs ambiguus? In England sprach man noch heute von Mary und Eliza Chalkhurst, die Biddenden Maids aus dem zwölften Jahrhundert, in Schottland hatte 1490 das Northhumbrian Monster das Licht der Welt erblickt und in Ungarn erinnerten Kupferstiche an Ilona und Judit Gófitz, die in utero zusammengewachsen waren und zwischen 1701 und 1723 lebten. Ein ungarischer Arzt hatte sie sogar in einem lateinischen Gedicht gewürdigt, das in einer medizingeschichtlichen Auflistung von Anomalien, die von Kolibar konsultierte, übersetzt worden war:
Two sisters wonderful to behold, who have thus grown as one,
That naught their bodies can divide, no power beneath the sun.
Trotz all dieser Vorgänger hatten die The Double Boys from Siam den Begriff geprägt. In jüngerer Vergangenheit hatten jedoch andere siamesische Paare Aufmerksamkeit erregt. Bis vor Kurzem wurden die Amerikanerinnen Millie und Christine McKoy als das The Eighth Wonder of the World angekündigt. In Böhmen kamen 1910 Rosa und Josepha Blažek in die Schlagzeilen, als es von Rosa hieß, sie habe ihren Sohn Franz geboren, ohne dass die Schwester zu sagen vermochte, wer der Vater war. Und in Italien traten die Brüder Tocci mit separaten Köpfen und Armen, aber geteiltem Rumpf und gemeinsamen Beinen auf. So sehr von Kolibar sich jedoch mühte, es gelang ihm nicht herauszufinden, ob einige dieser Zwillinge innerlich Spiegelbilder waren.
Vor allem der ‚zweiköpfige Junge von Locana‘ weckte durch die Verteilung der Organe seine Neugier. Bei Giacomo und Giovanni Tocci waren Lunge, Herz und Magen getrennt, während Eingeweide und Geschlecht eine Einheit bildeten. Es war ein Wunder der Natur, dass dieses Arrangement anatomisch funktionierte. Offenbar steuerten die Brüder mental ihr jeweiliges Bein und fühlten nichts, wenn der andere sich auf sein Knie schlug. Der Russe nahm an, dass die Kleinhirne, die für Bewegungen und Gleichgewicht zuständig waren, autonom und zugleich koordiniert agierten. Doch wie war das neurologisch möglich? Keiner der Briefe, die er nach Venedig schickte, wo das Paar angeblich wohnte, wurde beantwortet.
Erst als die Zeitungen begannen, über die Zwillingsschwestern zu schreiben, die kürzlich in England zur Welt gekommen waren, keimte neue Hoffnung auf. Obwohl sie erst drei Jahre alt waren, wurden die beiden in den Vergnügungsparks von Brighton und Blackpool vorgeführt. Den Berichten zufolge waren Daisy und Violet wie seine eigenen Töchter an der Hüfte zusammengewachsen; sie hatten denselben Blutkreislauf, teilten sich aber keine Organe. Von Kolibar setzte sich umgehend mit dem Arzt in Verbindung, der erwähnt wurde. Oberst Booth konnte ihm jedoch nur mitteilen, dass er von einer Trennung abgeraten hatte. Die Empfehlung war im Zusammenhang mit hitzigen Diskussionen in der Sussex Medico-Chirurgical Society wiederholt worden. Weitere Informationen könne sein russischer Kollege dem Bericht entnehmen, der in der Septembernummer von The British Medical Journal erschienen war.
Als von Kolibar den beiliegenden, nichtssagenden Sonderdruck studiert hatte, seufzte er so vernehmlich, dass Reva wissen wollte, was nicht stimme. Ihr Gatte murmelte etwas über englische Medizin. Natürlich würde er Daisy und Violet persönlich untersuchen können, aber wahrscheinlich würde es klüger sein, noch ein paar Jahre abzuwarten, damit er gleichzeitig die Möglichkeit erhielt festzustellen, ob die Mädchen lieber mit der linken oder rechten Hand schrieben. In der Zwischenzeit gedachte er, in Petersburg und Umgebung ‚normale‘ Zwillinge aufzusuchen, deren Adressen die Behörden übermittelt hatten. Bei diesen Besuchen kam allerdings nur wenig heraus, weshalb er anfing, die Jahre, danach die Monate und schließlich die Wochen zu zählen, bis seine Frau und er ihre erste Urlaubsreise nach England mit klinischen Observationen würden verbinden können.
Leider wurden ihre Pläne durch Gavrilo Princip vereitelt. Als der Krieg ausbrach, weigerte sich Reva, durch das unsichere Europa zu reisen; Oberst Booth wurde eingezogen und man verlor den Kontakt. Zu diesem Zeitpunkt hatte Daisys und Violets unverheiratete Mutter die Kinder in die Obhut einer gewissen Mary Hilton gegeben. Als von Kolibar sich nach der Entwicklung der Kinder erkundigte, wurde ihm beschieden, solche Informationen kosteten Geld. Er steckte ein paar Geldscheine in einen Umschlag und erhielt einen Monat später die Antwort: „Rechtshänder. Oder Moment, vielleicht doch nicht?“ Frau Hilton sah sich gezwungen, weitere Unterstützung zu erbitten, um es „über jeden Zweifel erhaben“ feststellen zu können.
Die Erziehungsberechtigte gehörte offenbar zu der Sorte Mensch, die Lombroso als sinister eingestuft hätte. Von Kolibar legte den Brief in seine Mappe mit Dokumenten zu siamesischen Zwillingen. Die Frage nach den tieferen Geheimnissen der mentalen Aktivitäten musste auf anderem Weg beantwortet werden.
Aufgrund der Revolution blieb die Summe seiner Beobachtungen unausgeliefert
in einer Druckerei liegen. Nach von Kolibars Tod im Dezember des gleichen Jahres benutzten die Bolschewisten, die sich in dem Gebäude verschanzt hatten, die Auflage, um sich Zigaretten zu drehen. Das einzige bekannte Exemplar lieh sein Sohn Adam viele Jahre später einem Landsmann in New York. Dieser schrieb gerade einen dystopischen Roman, der in einer fiktiven Stadt mit Zügen des wirklichen Leningrads spielte. In dem Buch sollte es um einen existentiellen Abbildungsfehler gehen, um eine Art „Verzerrung im Spiegel des Seins“, wie es hieß, durch die das Leben auf Abwege gerät. Der Autor sammelte gerade geeignete Beispiele und versprach, die Studie nach der Lektüre zurückzugeben.
Es ist unklar, ob es dazu kam. Aber offenbar konsultierte er von Kolibars Theorien. An einer Stelle im veröffentlichten Roman – der von unglücklichen Wendungen und missglückten Verknüpfungen handelt, aber keine siamesischen Zwillinge aufgreift – taucht nämlich ein Gedankengang auf, der zeigt, dass der Schreibende stärker von dem toten Neurologen inspiriert wurde, als er zugeben wollte. Nachdem er die Schwierigkeit untersucht hat, sich die unendliche Anzahl an Jahren vorzustellen, die der Geburt eines Menschen vorausgeht – ein Gedankenspiel, dem etwas von dem Grauen anhafte, mit dem man die Ewigkeit betrachte, die einst auf den eigenen, unvermeidlichen Tod folge –, betont er:
Was wir jetzt (ohne Erfolg freilich) versuchen, das ist, den Abgrund, über den wir wohlbehalten hinwegkamen, mit den Schrecken zu füllen, die wir dem Abgrund vor uns entnehmen, einem Abgrund, der selbst wieder der unendlichen Vergangenheit entlehnt ist. So leben wir in einem Strumpf, der von innen nach außen gewendet wird, ohne jemals zu wissen, welcher Phase der Prozedur unser jeweiliger Bewusstseinsaugenblick gerade entspricht.
Wer mit von Kolibars eigensinniger Ausdrucksweise vertraut ist, hört mit Leichtigkeit die Stimme des Neurologen. Weil die Ähnlichkeiten so offensichtlich sind, besteht Grund zur Annahme, dass es sich um ein direktes, aber nicht ausgewiesenes Zitat aus Levij povorot handelt.
Die Zeichnungen, die später nach Schweden geschickt wurden, bekräftigen diese Vermutung. An den Kopien, die gemacht wurden, lässt sich erkennen, dass der russische Neurologe die einzelnen Strümpfe seiner Töchter aufbewahrt haben muss. Irgendwann rollte er sie vermutlich so zusammen, wie er es als Kind gelernt hatte – und plötzlich erkannte er, worin die extrasensorische Wahrnehmung der Zwillinge bestand.
Die Strümpfe bildeten eine Tasche. Als er die Finger in ihr versenkte, konnte er ihr Inneres herausziehen. Je mehr er zog, desto weniger blieb jedoch von der Hülle zurück. Schließlich hielt er einen Inhalt in den Händen, der, so widersprüchlich dies sein mochte, seine eigene Schale zu enthalten schien. Den Zeichnungen nach zu urteilen, rollte von Kolibar die Strümpfe wieder zusammen und wiederholte das Experiment. Die Illustrationen zeigen zunächst den blauen Strumpf als Hülle und den roten als Inneres, danach vertauschen sie die Rollen. In einer Ecke ist außerdem ein Zeichen zu sehen. Wahrscheinlich ist es keine 8, wie die Person, die diese Zeichnungen kopierte, offenbar annahm, und auch kein griechischer Buchstabe, sondern ein Ewigkeitszeichen.
War der Neurologe glücklich, empfand er Befriedigung?
Oder im Gegenteil Trauer, vielleicht Fieber?
Wahrscheinlich Erleichterung. Von Kolibar muss endlich begriffen haben, dass Form und Inhalt im Fall des Bewusstseins das Gleiche waren. Sie verhielten sich zueinander wie der blaue und rote Strumpf, waren das Gleiche, dennoch verschieden. Gemeinsam bildeten sie eine Verwandlung, die unendlich weitergehen konnte. Der Biologie der Seele mussten sich andere widmen. Ihm reichte es, dass das Bewusstsein keine abgegrenzte Existenz zwischen zwei Arten von Unendlichkeit markierte.Als Anna und Alla in die gleiche Richtung geschrieben hatten, obwohl sie einander gegenübersaßen, zeigten sie, dass es möglich war, zugleich Individuum und Dividuum zu sein. Mehr als zwanzig Jahre nach ihrem Tod lehrten die Zwillinge ihren Vater die schlichte, aber komplizierte Wahrheit: Bewusstsein war Ewigkeit bei der Arbeit.
Bibliographie
Booth, James A. (1911): The Brighton United Twins. In: The British Medical Journal LXXI, 653 f.
Fox-Davies, Arthur Charles (1909): A Complete Guide to Heraldry. London.
Gould, George M./Pyle, Walter L. (1901): Anomalies and Curiosities of Medicine. Philadelphia: Saunders.
Henschel, Samuel (1919): Yttrande med anledning av professor von Kolibars medvetandehypotes. In: Förhandlingar vid Svenska Läkare-Sällskapets sammankomster år 1919 (Stellungnahme aus Anlass von Professor von Kolibars Bewusstseinshypothese. In: Verhandlungen bei den Zusammenkünften des Bundes Schwedischer Ärzte 1919), 99-101.
Kolibar, Vadim von (1917): Levij povorot. Sankt Petersburg. Privatdruck.
Lombroso, Cesare (1903): Left-Handedness and Left-Sidedness. In: The North American Review CLXXVII, 440-444.
Schedel, Hartmann (1493): Register des Buchs der Croniken und geschichten mit figuren und pildnussen von anbeginn der welt bis auf dise unnsere Zeit. Nürnberg: Koberger.
Abbildungsnachweise
Abb. 1: Illustration aus: Schedel (1493), (bearb. Bild).
Abb. 2: Die Brüder Chang und Eng Bunker, ca. 1865.
Abb. 3: Josefa und Rosa Blazek, Böhmen nach 1910.
Abb. 4: Eduard Flatau (in der Mitte sitzend, in ein aufgeschlagenes Buch zeigend) mit Kollegen, um 1900.
Abb. 5: Stempel mit Flataus Warschauer Adresse sowie Sprechstundenzeiten: „Nervöse und mentale Krankheiten, Chmielnastraße 60, von 5½ bis 7½“ (von einem Rezept, ausgestellt am 27. August 1920).
Abb. 6: Linksdrehung (bend sinister): Vgl. Fox-Davies (1909), Abb. 82.
Abb. 7: Die Brüder Tocci zwischen 1880 und 1890: links Giovanni, rechts Giacomo.
Abb. 8: Die Schwestern Daisy und Violet Hilton, 1920er Jahre.
Abb. 9-13: Unterschiedliche Bewusstseinsphasen: Kopien von Zeichnungen Vadim von Kolibars (in Privatbesitz)