Finger, Zehen und ein Säckchen Talg
Gespräch · Mit Thomas Macho · IFKnow, 2022, Heft 2, S. 4–5
Thomas Macho: Du hast häufig über Erfahrungen geschrieben, die Du nicht selbst gemacht hast. Dabei ist die Grenze zwischen Erfahrungen, die man gemacht hat und solchen, die man nicht gemacht hat, wahrscheinlich durchlässig und fluid; ich denke beispielsweise an Reiseerzählungen. Aber Du hast auch die Geschichte eines Transvestiten (Die Wahrheit über Sascha Knisch, 2002) verfasst, die Geschichte einer schwangeren, in einem Foltergefängnis internierten Frau (Mary, 2015) oder die Geschichte einer Flugpionierin und deren Liebe zu einer anderen Frau (Nelly B.s Herz, 2018). Und jetzt schreibst Du an einem Roman über einen Rockmusiker (Die dünnen Götter, 2024). Ich bewundere Deinen Mut, die dichten Beschreibungen nicht nur vielgestaltiger Liebesbeziehungen, sondern etwa auch eines Flugs von Berlin an die polnische Grenze (in Nelly B.s Herz). Wir sind alle bereits viel geflogen, aber das Abenteuer, das du beschreibst, wirkt faszinierend unbekannt und fremd.
Aris Fioretos: Erst vor einigen Jahren habe ich entdeckt, meine Bücher schildern gern Erfahrungen, die ihr Autor nicht selbst gemacht hat, in manchen Fällen sogar nicht machen könnte. Das ist kein Programm und hat sicherlich auch weitere Gründe als den Wunsch, aus seiner eigenen Haut herauszutreten. Aber in der Tat, bisher sind mehrere Romane dieser Art entstanden. Sicherlich würdest du recht behalten, solltest du meinen: Bei allen Unterschieden sind das Texte, die sich auf je andere Weise alle mit Sexualität beschäftigen. Zugegeben. Dennoch gibt es beispielsweise cross dressing auch in anderen Formen – nicht nur inhaltlich, sondern formal. Wahrscheinlich hat mein Buch über Sascha Knisch, das sich unter anderem mit Magnus Hirschfeld beschäftigt, ebenso sehr damit zu tun – mit einem unzuverlässigen Erzähler, mit Verhüllungen und Enthüllungen als narrative Ereignisse – wie mit der sogenannten „Deformation des sexuellen Instinkts“, wie es zu Zeiten dieses ersten Theoretikers des Transvestismus hieß.
Im Falle von Mary, wo es darum geht, wie man Vertrauen erzeugt in Situationen, die bedrohlich sind – kurz: wie eine Politik der Mikrohandlungen, oder noch kürzer: Solidarität, entsteht –, ist die Hauptfigur schwanger. Auch in diesem Text sind aber sprachlich-formale Aspekte nicht unbedeutend, denn die Hauptperson, die in einer Diktatur lebt und während eines Studentenaufstands verhaftet wird, entscheidet sich zu schweigen, um ihren Freund nicht zu verraten. Ihr läuft die Zeit jedoch davon. Irgendwann wird das Militär verstehen, dass sie ein Kind trägt und kann ihr damit drohen, es zu entfernen, wenn es auf der Welt ist – was, wie wir wissen, in vielen Diktaturen der Fall war, wo Kinder an regimetreue, aber kinderlose Paare weitergegeben wurden.
Im Falle des dritten Romans schließlich geht es um gleichgeschlechtliche Liebe zu einer Zeit – der Weimarer Republik –, in der Verbindungen dieser Art kriminalisiert waren, aber die Emanzipation der Frauen auch ernsthaft anfing. Wie orientiert sich ein Mensch als soziales Wesen in einer Gesellschaft, die sich im Umbruch befindet – politisch, ideologisch, ästhetisch –, in einer Welt also, in der die Rolle, die man einnehmen möchte, noch nicht Form oder Gestalt erhalten hat? Das ist eine historische Erfahrung, die nicht nur Frauen, sondern Minoritäten unterschiedlicher Arten gemacht haben, und noch immer machen.
Ich vermute, diese drei Bücher, die thematisch nicht viel miteinander zu tun haben, versuchen alle so etwas wie den semiologischen Menschen näherzukommen, ja, besser zu verstehen. Wie orientieren wir uns sprachlich, sozial, sexuell, in unterschiedlichen Systemen? Wie verhalten wir uns als Wesen, die in eine Situation gebracht worden sind, in der die eigene Position als Zeichen verwundbar ist?
Ich hoffe, meine Neugier auf Erfahrungen dieser Art färbt auf die Weise ab, wie die Romane geschrieben sind. Denn dann macht sie gemeinsame Sache mit der Darstellung. Die Haltung eines Autors, einer Autorin – kurz: die Ethik der Literatur – zeigt sich doch nicht im Inhalt, sondern in der Form?
Macho: Für meine eigene Arbeit sind das auch ganz wichtige Stichworte: etwa die Neugier, das Begehren nach dem Neuen, immer auch die Erfahrung von etwas, das einem fremd ist, das man noch nicht teilt. Und zugleich etwas, wovon ich nach wie vor glaube, dass es eine Wurzel von allem bildet, was Solidarität genannt wird. Dabei zählt gerade nicht der Versuch, sich als der moralisch bessere Mensch darzustellen und zu behaupten, sondern eher geteilte Verletzlichkeit. Wir sind einander ähnlich gerade als verletzliche Wesen. So verhält es sich mit den Menschen, die du schreibend zum Leben erweckst, bis zu Deinem neuen Roman, in dem es um einen Rockmusiker geht. Verletzlichkeit kann man nur teilen, indem man sich auf deren Geschichten und Schicksale einlässt.
Fioretos: Verletzlichkeit spielt möglicherweise auch eine Rolle beim Versuch Fremderfahrungen zu machen. Vielleicht ist man weniger schutzlos, wenn man sich selbst nicht ins Zentrum stellt?
Ich bin Autor, und noch dazu als Literaturwissenschaftler ausgebildet. Zu meinen frühen Freunden, die wie ich schreiben wollten und sich damals vorstellen konnten alles zu studieren, bloß nicht Vergleichende Literaturwissenschaft, eine Disziplin, in der ihnen kritisches Denken wie eine Art Dressur vorkam, zu ihnen sagte ich, dass ich keine bevorzugte Art mit Texten umzugehen ausmachen konnte. Mir ging es damals um das Wesen der Literatur, das ich verstehen wollte, egal wie. Mitte der 90er Jahre – ich hatte schon drei Bücher veröffentlicht – fiel jedoch der Groschen oder ein Pfennig. Inzwischen wohnte ich in Berlin, wohin ich nach meinem Studium in den U.S.A. gezogen war. Endlich dämmerte es mir, dass du als Autor dem ersten Impuls vertrauen musst, aber nur das zweite Wort gebrauchen kannst – du bist sozusagen aufgefordert, das Wort in oder hinter dem Wort suchen. Beim Wissenschaftler wie beim Kritiker ist die Situation eher umgekehrt, oder? Der erste Impuls taugt nie etwas, sondern immer nur der zweite, will sagen: die kritische Reflexion, meistens klappt es jedoch mit dem ersten Wort, das einem in den Sinn kommt. Was folglich heißen müsste, meinte ich verspätet zu begreifen, dass die Literatur ihre eigene Erkenntnisform ist.
Seitdem verspüre ich Schwierigkeiten über Literatur zu reden als etwas anderes, dem ich mich nicht als Autor nähere. Früher habe ich jedes Werkzeug benutzt, das mir anvertraut wurde – Seile, Haken, Ösen –, um Hindernisse des Verstehens zu erklimmen und meine Sichtweise zu erweitern, heute genügen mir Finger, Zehen und ein Säckchen Talg.
Macho: Ein schönes Bild! Gerade ist mir durch den Kopf gegangen: Bei allem, was ich selbst schreibe, neige ich zu einer Art von Polyphonie. Ich brauche immer wieder Zitate. In den letzten Jahren, eigentlich schon viel länger, finde ich, was ich ausdrücken will, in einer anderen Stimme, die manchmal aus der Literatur stammt. Manchmal empfinde ich eine regelrechte Abscheu vor einer bestimmten Form der Theoriesprache, die eher die Erfahrung des Anderen, des Fremden, des Unbekannten, ja selbst die eigene Neugier abwehrt: als wollte einer nur Belege dafür finden, dass er immer schon wusste, dass er recht hat, dass diese Unterscheidung gemacht werden muss oder eben nicht. Dabei verliert man aber so viel.
Fioretos: Hat es vielleicht mit einer Scheu zu tun, Kontrolle auszuüben? Etwas hochgestochen formuliert ist Begrifflichkeit ja eine Art von theoretischer Aufsicht. Denn was könnte über den Begriffen stehen? Sie bieten eine Plattform, von der ein Überblick über ein oft schwer zu eruierendes Gelände etabliert werden kann. Was wäre das Gegenteil? Wahrscheinlich Teilnahme. Auch wenn Walter Benjamin Zitate „wie Räuber am Weg“ betrachtete, „die bewaffnet hervorbrechen und dem Müßiggänger die Überzeugung abnehmen“, sind sie ja zu allererst Fundstücke, die eine andere Geschichte, eine andere Zeitlichkeit haben als die, in der sie eingefügt fortan weiterbedeuten. Mit Zitaten umzugehen, schließt immer auch Partizipation ein.