Wagners Offenbarungen

Laudatio auf den Georg-Büchner-Preisträger Jan Wagner · Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung · Staatstheater Darmstadt · 28. Oktober 2017


Sehr geehrte Damen und Herren, sehr verehrte Autoritäten, lieber Jan,

der Dichter, den wir heute feiern, ist kein Traditionalist, der sich dem Kulturerbe zuwendet, um insgeheim seine Gelehrsamkeit zu spiegeln. Gleichwohl scheint sein Appetit auf intrikate Versmaße, auf Gestalten, die von der Geschichtsschreibung verdrängt oder vergessen wurden, und auf weiteres umwälzendes Detailwissen nahezu unersättlich zu sein. Er ist weder pastoral noch apokalyptisch gesinnt. Dennoch hegt er ein ebenso unbeirrbares wie liebevolles Interesse für die Pracht und Fallen der Natur – für Flieder, Melde und Giersch, für den Koala, die Biene und den Pitbull. Und nein, bei diesem Dichter ist die Dichtung weder ein frei fließender Prozess noch ein strenges metrisches Korsett. Dennoch hat er das Gespür des Anatomen für die Sehnen und Gewebe der Sprache (und für die Haut und deren Verstecke). Kurzum: Als Lyriker ist Jan Wagner fast zu viel des Guten. Einen wie ihn sollte es nicht geben.

Aber es gibt ihn. Zum Glück für seine vielen Leser und zum Leidwesen seiner etwas wenigeren Übersetzer. Sein schwedischer Nachdichter steht heute vor Ihnen und weiß, welch lustvolle Qualen einem Wagners Lyrik bereitet. In diesem Werk tauchen ebenso viele Sestinen, Villanellen, sapphische Strophen, Sonette und Haikus auf wie Bäume im Wald des Sprichworts. Doch die Versmaße werden mit befreiendem Eigensinn behandelt. Die Reime sind selten richtig rein. Hier finden sich häufig Halb- und Dreiviertelreime, im Englischen slant rhymes genannt,1 was die Zeilenenden klingen lässt wie den Soundtrack zu einem Stück Eis, das über eine Ofenplatte schlittert. Auch schreckt er nicht davor zurück, Parareime zu verwenden, bei denen nicht die Vokale, sondern die Konsonantenfolge wiederholt wird. Wenn wir das schlitternde Wort Eis als Beispiel nehmen, würde ein paar Zeilen später nur noch ein slalomartiges s zurückbleiben.2 Und auch wenn Wagners parkettsichere Versfüße die Strophen tanzen lassen, weicht die Zahl der Silben zuweilen von der Vorschrift ab. Mal wird eine Zeile gedehnt, bis sie einem Dachshund gleicht, der sich streckt. Mal schrumpft sie so, dass die Takte am ehesten an eine hüpfende Fliege erinnern.

Als wäre der fingerfertige Umgang mit verstechnischen Vorschriften nicht genug – der Übersetzer hat zuweilen das Gefühl, ein Kreuzworträtsel und ein Sudoku gleichzeitig lösen zu müssen, während von ihm dabei auch noch erwartet wird, mit, sagen wir, einem Spüllappen und ein paar Christbaumkugeln zu jonglieren –, als reichte diese feinmotorische Eleganz nicht aus, ist seine Bildsprache außerdem geprägt von nahezu unergründlicher Klarheit. Wagners Bilder, die immer überraschen und dennoch so selbstverständlich wirken, verweilen nach der Lektüre wie eine tröstliche Nachglut. Diese Meisterschaft erinnert an die der holländischen Maler, jene Calvinisten des 17. Jahrhunderts, die angesichts des Verbots, religiöse Themen abzubilden, ein verlassenes Wäldchen, etwas herzförmiges Gemüse oder einen auf Papier liegenden Fisch mit einem eigenartigen Licht aufluden, als wohnte noch den kleinsten Details des täglichen Lebens eine höhere Macht inne.

Dass wir es mit einem Dichter der irdischen Vielfalt und der kleineren Dinge – kurzum: der Immanenz – zu tun haben, ahnt man bereits in der Typographie. Wagner scheut die plakativen Versalien der Transparente und benutzt durchgängig sogenannte Minuskeln, diese Kleinbuchstaben, die sich in seinem denkwürdigen versuch über mücken aus der Zeitungsseite lösen und »als schwarm in der luft« (Regentonnenvariationen, 21) schweben. Obwohl die Schriftzeichen in ebenso ständiger wie findiger Bewegung begriffen sind, darin Mücken gleichend, arbeitet er nicht aktiv mit den Verben, sondern bevorzugt Relativsätze. Die Methode hat einen heimlichen Zweck. Hierdurch wird das Tempo gedrosselt, die Worte öffnen innere Räume. So bleibt der Schwarm in dem soeben zitierten Gedicht in der Luft hängen wie »der stein von rosetta, ohne den stein«. In einem anderen hält der Text gleich den Atem an und schwillt an

[…] für die sekunde,
die wächst, bis sie so groß zu sein
scheint, daß man in ihr siedeln könnte
(Australien, 75)

Freunde der Proportionen, der Maßstäbe fragen sich, wie solche Kunststücke möglich sind. Für den, der Antwort sucht, reicht es, »die sekunde« eingehender zu studieren. Wenn wir die Ohren spitzen, vernehmen wir in ihr auch »diese Kunde« Wagners dazu, wie Zeit in Raum verwandelt wird. Wer sich dennoch lieber auf seine Augen verlässt, mag sich auch der Qualle entsinnen, über die der Poet in einem dritten Gedicht sagt, sie sei »eine lupe, / die den atlantik vergrößert« (Australien, 95). Hier wie dort zoomt er das Kleine heran, um uns im Winzigen die Riesigkeit der Welt erfahren zu lassen. Das Gedicht wird zu einer säkularen Art von Offenbarung, so intrikat wie selbstverständlich. Oder mit Wagners weniger hochtrabenden Charakterisierung: ein »tatortähnliches Tableau« (Der verschlossene Raum, 47).

Einerseits sorgt seine Musikalität für unbeschwerte Atmung und eine alerte Zunge. Andererseits lässt die abgeklärte Bildsprache den Leser in die poetische Entsprechung zur Kontemplation versinken. Man kann sich fragen, ob es nicht diese Kombination aus Ruhe und Lebhaftigkeit, Zuversicht und Verschmitztheit ist, die uns die Augen reiben und Wagners Gedichte nochmals lesen lässt, um »auf den zweiten blick« erneut zu staunen, »zufriedenheit und so etwas wie glück« zu empfinden (Guerickes Sperling, 24).

In der klassischen Poetik – von Quintilian bis Boileau und weiter – wurde dem Dichter geraten, das Dekorum zu beachten. Er sollte nicht nur die Regeln einhalten, die für den guten Stil galten, sondern im übertragenen Sinne auch das sozial Angemessene in einer bestimmten Situation widerspiegeln. Dekorum war ebensosehr eine Frage guter sprachlicher Manieren wie ein sittsames Benehmen. Wagner schreibt in dieser Tradition. Man würde sich jedoch täuschen, wenn man glaubte, dass er sich mit einem natürlichen Sinn für Takt und Ton und Timing und seinem höflichen Wesen begnügt. Inzwischen ist er es, schätze ich, leid, als wohlfrisiert, virtuos, mit Fingerspitzengefühl geboren betrachtet zu werden. Ihm reicht es nicht, vergangene Ideale vom Nutzen und Vergnügen der Poesie abzustauben, um als Zeitgenosse durchgehen zu können. Allerdings will er auch nicht »die teuflischen buchstaben zwischen den zähnen zerdrücken«, wie ein schwedischer Avantgardist vor bald hundert Jahren meinte, auch er im Übrigen ein Freund von Minuskeln.3

Im Gegenteil, Wagner erweitert die Lehre vom Dekorum um eine Dimension: Sein tatortähnliches Tableau »setzt«, wie er selbst über Nicolas Born schreibt, »das Bild, den Inhalt in die Form um« (Der verschlossene Raum, 253). Damit stellen seine Gedichte auch diskrete Hinweise dazu bereit, wie wir sie uns aneignen können. Da wird eine wehmütige Herbstszene skizziert, in der »eine stunde […] zehn Minuten [dauert]« (Probebohrung im Himmel, 27). Ein anderes Mal wird ein wildwüchsiger »veteranengarten« geschildert, in dem die Enkelkinder – also Personen, die wie Wagner um das Jahr 1970 geboren wurden – sich als »glücklich mit geringsten formen« erweisen (Guerickes Sperling, 22). Unabhängig davon, ob es sich um »eine Sestine oder eine Villanelle« handelt, wie in diesen beiden Fällen, wird das Versmaß allerdings nicht nur »erfüllt« oder »aufgefüllt«, sondern »angewandt«. Es geht »nicht um eine Engführung durch das Korsett des Reims, sondern im Gegenteil um eine Öffnung, eine Ausdehnung des Gedichtraums« (Die Sandale des Propheten, 91f.). Wagners Sinn für Details erweitert die Welt, die einladend und zugleich rätselhaft wirkt. Als Leser verspüren wir das überraschende Gefühl uns wiederzufinden, obgleich wir das Dasein nie zuvor in genau dieser Weise erlebt haben.

Lassen Sie mich dieses heimliche Einverständnis – diese Verschworenheit – zwischen Thema und Form der Einfachheit halber »es« nennen. Wie es im einzelnen Fall aussieht, wissen wir im Voraus genausowenig wie der Detektiv, wenn er an einem Tatort eintrifft, die Zeichen aber noch nicht gedeutet hat. Glücklicherweise sind weder Pulverpinsel noch Latexhandschuhe erforderlich, um Wagners Gedichte zu studieren. Wollten wir es uns leichtmachen, könnten wir uns sogar damit zufriedengeben, seinen eigenen Versuch zu zitieren, »es« zu definieren. Zu Eduard Mörikes Lyrik heißt es, es gehe um »diese Fähigkeit, noch im Kleinsten eine Offenbarung zu finden« (Der verschlossene Raum, 12). In einer Rede vor Abiturienten hebt er hervor, » [d]ie Offenbarung findet immer am Rande statt und immer unerwartet« (Der verschlossene Raum, 165). Und in einem Aufsatz über die Ähnlichkeiten zwischen Poesie und Kriminalliteratur notiert er: »Es ist ein Raum, dessen Umfang zwar minimal ist […], in dem verblüffenderweise aber trotzdem alles seinen Platz finden kann, ohne dass es zu eng würde« (Der verschlossene Raum, 41).

Diese Fürsorge für das Minimale verleiht Wagners Lyrik ihr praktisches Ethos, ihre erquickende Aktualität. »Ein Gedicht nimmt sich das Recht, die Dinge so zu denken und zu sehen, wie sie nie zuvor bedacht und gesehen worden sind, und lädt den Leser, seinen Partner, dazu ein, es ihm gleichzutun.« (Die Sandale des Propheten, 21) Wenn diese Annahme, einem Essay über »die Wirkung der Poesie« entnommen (Die Sandale des Propheten, 19), stimmt, reicht es folglich nicht, sich auf Behauptungen zu verlassen, die in einem gebührenden Abstand vom Tatort formuliert wurden. Als Leser müssen wir in die Fußstapfen des Dichters treten und am »poetische[n] Ereignis« teilhaben (Der verschlossene Raum, 44). Will sagen: Seine partner in crime werden, zumindest, wenn wir das Kriminelle in seinem ursprünglichen Sinn deuten, als eine Frage des (guten) Urteilsvermögens.4 »Der Beweis des Puddings liegt eben im Essen«, wie Brecht es einmal formulierte und woran Wagner uns in einem Aufsatz erinnert (Vom Pudding, in: Die Sandale des Propheten, 85).

Wagner mag nur Minuskeln verwenden, aber wie, bitteschön, isst man Buchstaben?

Als Peter Motteaux Don Quijote in eigensinniges Englisch übersetzte, ließ er den Ritter von der traurigen Gestalt festhalten, the proof of the pudding is in the eating, was hernach zu einer Redewendung werden sollte. Damals, Anfang des 18. Jahrhunderts, handelte es sich keineswegs um eine leicht identifizierbare Nachspeise aus Grieß oder Karamell, sondern um eine Mixtur aus Schweinedärmen, Haferflocken, Gewürzen und anderem. Kurz, um ein schwer zu definierendes »es«. Zwar wird bei Cervantes niemals Pudding – oder budín – aufgetischt. Im Original heißt es, al frír de los huevos lo vera, »du wirst es sehen, wenn du die Eier brätst«.5 Doch geht es weiterhin um ein »es« – oder lo auf Spanisch.

Einem pikaresken Autor, der zeigt, wie übel es ausgehen kann, wenn man sich nur auf seine Augen verlässt, dürfte der Rat »Probieren geht über Studieren« kaum fremd sein. Auch Jan Wagner würde wohl nicht die Nase über das Zubereitete rümpfen. Vor einem Jahrzehnt schrieb er einen Gedichtzyklus, der einem ganzen Buch den Titel gab, Achtzehn Pasteten. In der spanischen Kostprobe dieser gastropoetischen Fertigkeiten – passenderweise eine empanada – parareimt er den Auftakt: 

es war nicht afrika, es war ein fels
im wasser wie sie sagte. allenfalls.
(Achtzehn Pasteten, 33)

Da haben wir es: das schwer zu fassende »es« der Poesie. Boileau hätte die Hände ausgebreitet und je ne sais quoi gestöhnt. Wagner begnügt sich mit einem Pronomen, das diskret im Binnenreim des Gedichts widerhallt. Die folgenden Zeilen suchen zu erspähen, was der Frau zufolge ein Fels ist. Nachdem der Text auf weißgetünchte Dörfer, die Sierra und die Korkeichen darunter zurückgeblickt hat, endet er, indem er zu seiner Einleitung zurückkehrt. Diese Retrospektion, ausgeführt im Rückspiegel eines Autos auf dem Weg zum Meer, bringt jedoch eine Revision mit sich. In der letzten Zeile wird nun festgestellt: »es war kein fels, es war ein kontinent« (Achtzehn Pasteten, 33).

Damit schließt sich der Kreis. Oder um im Bild zu bleiben: Hier wird die eine Hälfte des Gedichts über die andere geklappt, wie bei einer Empanada. Doch statt die Bestimmung der Einleitung zu wiederholen, wird eine Unterscheidung getroffen. Zwischen Anfang und Ende ist trotz allem etwas geschehen. Es dürfte nicht zu viel gesagt sein, dass der Grund dafür sein müsste, was dazwischenliegt – will sagen: die Füllung des Textes. Oder, wie Wagner in einem anderen Zusammenhang zugibt: »Es ist nicht ganz unerheblich, was zwischen der ersten und der letzten Zeile eines Gedichts geschieht.«6 In seiner spanischen Pastete erweist »es« sich trotz allem nicht als Fels, sondern als Kontinent. Allerdings ist unklar, ob wir ihn nunmehr Afrika nennen können.

Wenn der Beweis für das gesuchte »es«, das zugleich fremd und vertraut wirkt, im Essen liegt, verzehren wir somit den Text, wenn wir ihn uns aneignen. Passenderweise ist es gerade das, was das Gedicht andeutet, als es beschreibt, wie das Meer an den Strand spült, »den es bejaht, verneint«. Anders gesagt: Jan Wagner lehrt uns, die Empanada zu essen und sie dennoch zu behalten.

In einem Essay aus der gleichen Phase wie Achtzehn Pasteten denkt er über die jüngere deutsche Lyrik nach, zu der seine eigene Dichtung gehört. Unter anderem versucht er zu verstehen, welche Rolle gebundene und gereimte Verse in einer Zeit spielen können, in der die Avantgarden längst Geschichte geworden sind, also für eine Forderung nach Erneuerung stehen, die selbst in Tradition verwandelt wurde. Der Gedankengang mündet in die These: »Fortschritt ist das, was man aus dem Rückgriff macht« (Die Sandale des Propheten, 81). En miniature fasst dieser Gedanke seine Poetik zusammen. Bedenken Sie nur, wie die letzte Zeile in empanada auf die erste zurückgreift, deren Bedeutung jedoch zugleich erneuert. Als Autofahrer weiß Wagner, was geschehen muss, wenn man ohne Malheur voranzukommen wünscht: Man schaut in den Rückspiegel.7 Übersetzt in Dichtung: Elementare Tugenden wie Originalität, Musikalität und ein Gefühl für kleine, aber entscheidende Regelbrüche sollen nicht nur eine herrschende Auffassung von Lyrik bestätigen, also benutzt werden, um sich auf einen überfüllten Parkplatz rückwärts zurückzusteuern. Sondern ausgenutzt werden, um die Lücken im bisher Gesagten zu finden und neue Aussichten zu offenbaren. Oder mit John Ashberys Beobachtung: »eine Sestine zu verfassen [ähnelt] einer Fahrt mit dem Rad bergab […], bei der die Pedalen die Füße vorantreiben. Ich wollte, daß meine Füße hin zu Orten gezwungen wurden, an die sie ansonsten nie gelangt wären«.8

Auch Wagner weiß um die verlockenden Aussichten, die einem eine feste, aber gefügige Form unversehens bieten kann. Man nehme nur seine Sestine über die hasenschartige Anna. Sie ist das Rätsel, von dem die Kinder im Gedicht nichts wissen außer, dass sie einen »kratermund« hat. Anna ist sicherlich keine konventionelle Schönheit, nicht mit ihren Schneidezähnen so groß wie die eines Hasen und Händen, die an »pfoten« erinnern (Regentonnenvariationen, 18f.). Gleichwohl weckt ihre Erscheinung die Neugier und Begierde der Kinder. Was tut sie in ihrer Freizeit? Was ist ihr Geheimnis? Als sie am Ende der Arbeitswoche zum Zug verschwindet, bleiben sie allein, verzaubert und ungeduldig zurück:

wie zäh die zeit verstrich –
bis sie am montag heimkam, wie von händen
getragen, näselnd sang durch ihre scharte

Und trotzdem, möchte man diesen minderjährigen Hermeneutikern zurufen, dennoch wisst ihr – wissen wir – mehr, als irgendwer ahnt. Sucht nach dem Geheimnis der Hasenschartigen nicht jenseits vom, sondern im Gegebenen – in der Immanenz. Probiert, sie bei ihrem Namen zu nennen. Sprecht das symmetrische »anna« mit den A’s als Eckzähnen und zwei dentalen n in der Mitte aus. Jedes Mal, wenn die Zunge gegen die Schneidezähne drückt, erinnert sie uns an das Rätsel, ja, offenbart sie ihr verlockendes Wesen. Wer will, kann sogar – komplizenhaft – dem Weg des Buchstaben n durch das Gedicht folgen, dieser »dünne lavastrich«, der vom »nichts« und »händen, / nach lilien duftend«, über »schienenstränge richtung haupt- / bahnhof«, bis »hinauf zum nasenloch« führt. Nein, offener als Annas Geheimnis kann keine Poesie sein.

Ob die Plätze und Personen, die Wagners Gedichte für forensisch veranlagte Leser so spannend machen, echt oder erfunden sind, spielt kaum eine Rolle. Lange bevor er australischen Boden betrat, ließ er zwei Jungen ein Loch in die Erde graben und schließlich auf der anderen Seite der Welt auftauchen (Australien, 98f.). Ich hege den Verdacht, dass dies im wirklichen Leben nie geschah, ebensowenig, wie es in seiner Kindheit eine hasenschartige Anna gab. Der Dichter, den wir heute feiern, hat sich vermutlich nie sechs Meter tief in einem Brunnen befunden oder den Mond gesehen, »der sich über die öffnung schob, / ein forscherauge überm mikroskop« (Regentonnenvariationen, 38). Dem Gedicht elch nach zu urteilen, in dem Wasser »unter schneebedeckten schluchten« rinnt (Regentonnenvariationen, 65), ist er auch niemals im Norden Schwedens auf die Jagd gegangen. Sonst hätte er wohl gewusst, dass die Saison in der Regel endet, bevor die ersten Flocken fallen.

Diese und andere Abweichungen von Realia erhöhen den Anspruch der Poesie, eine eigenständige Wirklichkeit – eine Welt der zweiten Ordnung – zu bilden. Das Gedicht wird ein tatortähnliches Tableau – reich an Mikrohandlungen, eine Erzählung, zum Bild verdichtet. In einem Porträt von Erich Weisz, alias Entfesselungskönig Harry Houdini, bemerkt Wagner: »es kommt auf das detail an, das gewisse / etwas« (Achtzehn Pasteten, 16). So wie er in einem frühen Gedicht einen Champignon an sein Ohr hält und den Fuß dreht, »wartend auf das leise knacken im inneren, / suchend nach der richtigen kombination« (Probebohrung im Himmel, 17), so geht es in dieser Studie des Champions dem Entfesselungskünstler darum, sich mit scheinbar geringen Mitteln zu lösen:

[…] oben gafften leute, schlug
die dämmerung ihr blasses zelt auf, als ich
die bande löste, sich die glieder endlich
wie aale durchs zu weit geknüpfte netz
ins freie schlängelten. ich gehe jetzt.
(Achtzehn Pasteten, 16)

Zeitgemäße Dichter wie Jan Wagner halten sich nie bloß an die Regeln, sondern nehmen sich immer Freiheiten heraus. Wenn sie aus eigenem Antrieb die Sprache in gebundenen Versen fesseln, besteht der Trick folglich darin, sich ohne Aufhebens zu befreien. Wagner beherrscht diese Kunst so perfekt, dass wir keine Ketten rasseln hören. Sein lyrisches Ich zieht die Aufmerksamkeit niemals auf sich. Hören Sie nur, wie er in einem Essay das Lob des Abseitigen singt:

Diese windstillen Winkel, in denen man sich aufhält, während alles weiter seinen Gang geht, gehen muss, sind ja so wohltuend, und man empfindet eine diebische, eine tagediebische Freude, wenn man sich später dieser Verstecke entsinnt – ob es die alte Hochsprungmatte am Ende des Schulsportplatzes ist, hinter der man sich wunderbar unsichtbar machen konnte […], oder ob es die Straßen von Berlin in der ersten Frühlingssonne sind, wenn alle Passanten plötzlich stehenbleiben, die Augen schließen und sich zum jungen Licht hin drehen, allesamt wollüstig erstarrt, Leguanmenschen. (Der verschlossene Raum, 164)

Der Wunsch, sich gleichzeitig zu verstecken und zu bleiben – esse, non videri, wie ein alter Preuße meinte; ins Dekor also praktisch aufzugehen –, lässt einen an das Gedicht denken, in dem Wagner am deutlichsten an sich selbst Maß genommen hat. Ich erinnere an sein selbstporträt mit bienenschwarm. Wie wichtig das Gedicht ist, zeigt sich darin, dass der Titel für die Auswahl aus fünfzehn Jahren Produktion Wiederverwendung fand, die letztes Jahr erschienen ist. In diesem Auto- und Autorenporträt stürmt das Wappentier der Poesie heran, bedeckt das lyrische Ich »gramm um gramm«, bis es einem Ritter ähnelt. Endlich bleibt es dem Ich erspart, von sich in der ersten Person zu sprechen, es kann zur dritten der Diskretion übergehen:

bis er sich kaum noch rühren kann, nicht läuft,
nur schimmernd dasteht, nur mit ein paar winden
hinter dem glanz, ein bißchen alter luft,
und wirklich sichtbar erst mit dem verschwinden.

Man reibt sich die Augen, sieht aber tatsächlich richtig: Wagner überbietet Houdini noch. Statt aus seinem selbstauferlegten Gefängnis auszubrechen, verweilt er – unsichtbar, an dem einzigen Ort, der etwas bedeutet, im »regungslose[n] zentrum vom gesang«, wo Binnenreime wie Bienenreime klingen (Regentonnenvariationen, 97). Das lyrische Ich verschwindet, aber nicht, indem es sich entfernt, sondern indem es in summendem Gesang aufgeht.

Wenn das kein tatortähnliches Tableau ist.

In Jan Wagners Dichtung hängt keine selbstgefällige Visage über der Schulter des Lesers, um ihm zu zeigen, wie gescheit die eine oder andere Krux gelöst wurde. Großzügig streut er im Gegenteil präzise Beobachtungen, sorgsam balancierte Gefühle, zarte Einsichten, denen nicht selten ein diskreter Humor abgewonnen wird. Als Dichter geht er im Bild, in der Brokattapete der Welt auf, will sagen in der Sprache – wie die Hauptperson in dem Gedicht eule, die »kaum mehr zu sehen, eher noch zu spüren« ist.9 Dieses Kunststück wird so oft durchgeführt, dass die Haltung an etwas Zentrales in Wagners Sicht der Welt, der Dichtung und beider Beziehung zueinander rührt. Kosten Sie deshalb – abschließend – ein letztes Gericht, Pastete Nummer vier. In diesem Gedicht über cheese and onion pastries bildet das Reimschema passenderweise einen sogenannten Zwiebelreim: a-b-c-d-e-e-d-c-b-a. Die erste Zeile reimt sich mit der letzten, die zweite mit der vorletzten und so weiter, bis wir uns in der leeren, aber tönenden Mitte des Gedichts befinden.

Macht dieses »herz«, vom Gedicht als etwas bestimmt, »das sich zurückzieht, schicht um schicht« (Achtzehn Pasteten, 28), nicht den eigenartigen Kern in Jan Wagners Werk aus? Der Dichter offenbart sich, indem er Platz lässt – für uns, seine Leser und Partner, aus Zuneigung. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich schließlich also sagen, was »es« in diesem diebisch erfreulichen, komplizenhaften Werk bedeutet: Teilhabe. Und endlich Platz machen für den früheren Schuljungen hinter der Hochsprungmatte, den wildwüchsigen Poeten in seiner summenden Bienenrüstung, den diesjährigen Büchnerpreisträger.

Noten

1. Wagner übersetzt den Begriff mit dem »bewußt in Schräglage belassenen Reim« (Nichts als Worte, in: Die Sandale des Propheten, Berlin 2011, 176).

2. Man fühlt sich an den »grottenolm« im gleichnamigen Gedicht erinnert, der »durch leeren« fliegt wie ein »geschmeidiges S« – übrigens eine der wenigen Versalien in seinem dichterischen Werk (Regentonnenvariationen, München 2014, 74).

3. Gunnar Ekelöf, sonatform denaturerad prosa [in: sent på jorden, 1932], in: Skrifter, hg. von Reidar Ekner, Stockholm 1991, Bd. 1, 34 (krossa bokstävlarna mellan tänderna).

4. Vom griechischen krima, letztlich vom Verb krino, »auseinanderhalten«, »entscheiden«.

5. El ingenioso hidalgo Don Quijote de la Mancha (1605), Teil 1, Kapitel 37.

6. Ein Knauf als Tür, in: Der verschlossene Raum, 243. An anderer Stelle wird die Erkenntnis als eine rhetorische Frage formuliert: »Steckt nicht oft genug in der Lücke die Fülle?« (Prolegomena zu einem Lob der Sauklaue, in: ebd., 258)

7. Wer das Glück hat, in einem Cabriolet zu fahren, weiß natürlich auch, in welche Richtung die Frisur dann tendiert. Oder wie Wagner in empanada ausruft: »wie ihr haar / im fahrtwind tobte« (Achtzehn Pasteten, 33).

8. Wagner zitiert ihn in Vom Pudding (Die Sandale des Propheten, 82).

9. Und die mit ihren »zwei augen hinter den tapetentüren« – »ein gelber spalt und noch ein gelber spalt« – schuhuhend als hallender Reim im abschließenden »dann der wald. der wald. der wald« des Gedichts weiterlebt (Regentonnenvariationen, 71). Die Strategie ähnelt der des Chamäleons in einem anderen Gedicht, es »versteckt sich in der welt«. Siehe chamäleon, in: Australien, 9.


Georg-Büchner-Preis · Jan Wagner, Självporträtt med bisvärm