Tauchgänge ins Gehirn. Ein Porträt des Schriftstellers Aris Fioretos

Interview · Von Aureliana Sorrento · Berliner Zeitung · 12. Januar 2004


Die S-Bahn war es. Ihr fernes Grollen, das wie unterirdischer Donner klang. Als er, die Hände im Nacken verschränkt, auf dem Sofa liegend, dem Geräusch lauschend, dabei einschlief, ahnte er, den Puls der Stadt gefunden zu haben. Den Soundtrack Berlins. Ein beständiges Rasseln, „wie Rosenkränze in den Händen Herthas“.

Ungefähr so hat er in einer hiesigen Tageszeitung davon berichtet, wie alle Eindrücke damals, bei seinem ersten Berlin-Besuch Ende der Siebziger Jahre, in einem einzigen Ton zusammenschmolzen. Wie sich der Ton dann, Jahre später, als ein topos herausstellte. Zufällig stieß er in Los Angeles auf eine englische Ausgabe von Maschenka, Vladimir Nabokovs Debütroman, 1925 in Berlin fertiggeschrieben. Auch darin war von Berliner Eisenbahnschienen und S-Bahnzügen die Rede, in der Metropole der Zwanziger müssen sie nicht anders gedröhnt haben als in der Baustelle von heute. Er sehnte sich nach beiden. Kehrte, wenn auch einige Jahre später, nach Berlin zurück. Immer wieder. Und irgendwann wurden die Aufenthalte länger. Und eines Tages – da lebte er mit seiner Familie schon eine Weile an der Spree – kam der Anruf der schwedischen Kulturministerin. Sie stellte ihm den Posten eines Botschaftsrates für kulturelle Fragen in Aussicht.

 „Botschaftsrat für kulturelle Fragen“. Klingt so unerbittlich nach Kanzlei, daß man Hemmungen hat, ihm diesen Titel anzuheften. In der Kulisse des Cafés Einstein, wo sich die Ausstatter alle Mühe gegeben haben, den Chic der vorletzten Jahrhundertwende nachzuäffen, und die Kellnerinnen weißbeschürzt und stramm übers Parkett trippeln, als müßten sie für das Casting eines Kostümfilms proben, sieht Aris Fioretos aus, als hätte man ihn gerade aus einem historischen Fotoband herausgeschnitten: eine schlanke Gestalt in Jackettanzug und Hornbrille, die Gesichtszüge allzu jungenhaft weich für einen Bürokraten. Doch im Dienste der schwedischen Krone, unweit von der Botschaft entfernt, ist er schon zwei Jahre als Botschaftsrat für kulturelle Fragen in Berlin.

Wie jeden Dienstag hat er auch an diesem, als er sich um 15 Uhr ins Kaffeehaus an der Kurfürstenstraße begibt, bereits zwei Sitzungen hinter sich. Um neun traf das gesamte Botschaftspersonal zusammen. Besprochen wurde, was man bei solchen Anläßen so bespricht: Das Geschehene, das Anstehende, und das, was in absehbarer Zeit vermutlich nicht passieren wird. Die „Tendenz der Woche“ nennt man das im Diplomatenjargon. Und angesichts der anrückenden Wahlen kann die Tendenz der Woche von höchster Bedeutung sein. Jedenfalls tagten ein paar Stunden später die höheren Botschaftschargen zur Erörterung taktischer Fragen in kleinerem Kreis. Und so vergehen die Tage mit Konferenzen und Besprechungen.

Nur von fünf bis neun Uhr morgens bleibt ihm Zeit für das Eigentliche übrig. Da schreibt er an seinem nächsten Roman. „Ich war und bleibe grundsätzlich ein Schriftsteller“, sagt er. Und lächelt sanfmütig.

 Die Sanfmut des Überfliegers, der es gewohnt ist, den Menschen ihre Unwissenheit nachzusehen. „ Sehr höflich, ein kluger Kerl mit dem Habitus des geschliffenen Akademikers und den guten Manieren der Stewards an Deck alter Ozeandampfer“ – so hat ihn der Dichter Durs Grünbein beschrieben, und es wäre müssig, eine zutreffendere Beschreibung zu suchen. Damals, als sie sich Mitte der Neunziger zum ersten Mal trafen, gab Aris Fioretos den Übersetzer bei einem Schriftstellertreffen in der Nähe Berlins. Seitdem ist Durs Grünbein – unter den Zeitgenossen – sein Geisteskomplice. In der Gegenwart seiner Romane, die – zumindest die bislang erschienenen – in den Zwanziger Jahren spielen, gibt es dann einen anderen, der immer wieder durch die Zeilen spukt: Vladimir Nabokov.

Fioretos hat Nabokov ins Schwedische übersetzt, die Stationen seiner Berliner Jahre abgesucht, über ihn ein Feature geschrieben für den schwedischen Hörfunk. Am Anfang seines ersten Romans Stockholm noir stößt die Protagonistin Vera Grund an einem Dezembertag des Jahres 1925 in einer Station der Berliner S-Bahn mit einer gleichaltrigen Frau zusammen, die ebenfalls Vera heißt. Ein eleganter junger Mann ruft sie aus dem Inneren des Wagens. Die kurze Beschreibung seines Äußeren entspricht so unverkennbar dem Bild des jungen Nabokovs aus den Photos jener Jahre, daß der Leser sich gar nicht mehr fragt, warum Vera Grund in der Nestorstraße wohnt, wo der große Exilrusse an der Gabe schrieb. Auch nicht, warum der Roman 1925 spielt, wo das Figurenpersonal trotz allen Zeitkolorits sich doch so heutig ausnimmt. Im April 1925 hatte Vladimir Nabokov Vera Slonima geheiratet. Der Romancier Fioretos ist ein fintenreicher Spieler, der es liebt, Referenznetze zu spinnen. Und wenn man sich darin verfängt …

 „Das sind aber nur Nebensächlichkeiten“, bremst er. Ihm ginge es darum, Probleme, mit denen wir uns heute herumschlagen, zur besseren Anschauung in weite Ferne zu rücken. Die Frage „Was ist der neue Mensch?“ beispielsweise. Und überhaupt: Was ist der Mensch? Mit dessen Erkundung beschäftigten sich viele nach 1919, Philosophen, Dichter, Künstler und Wissenschaftler, eine Reihe von ihnen in Berlin.

Daß Aris Fioretos Ende der Siebziger zum ersten Mal Berlin besuchte, hatte es aber einen anderen Grund: „Ich wollte David Bowie treffen …“ Der Star wohnte damals in der Nähe vom Kleistpark, das Hansastudio, wo seine Platten aufgenommen wurden, lag dicht an der Mauer, die ersehnte Begegnung fand aber nicht statt. Dafür sei er um einen Irrtum leichter abgereist. „Als Halbösterreicher war ich in dem Glauben aufgewachsen, Wien sei das Zentrum des deutschsprachigen Raums. In Berlin merkte ich: Dies ist keineswegs der Fall.“ Daß Wien noch im 19. Jahrhundert steckt. Berlin, das heutige, in dem er lebt, sei dagegen im Begriff, sich zu mausern. Eine Stadt mit verschiedenen Tempi und mehreren Schichten. Eine Stadt, die mit ihrer Identität hadert. Ein passender Ort für einen wie ihn.

1960, in Göteborg, Schweden, geboren, Sohn einer Österreicherin und eines Griechen, der aus politischen Gründen in den fünfziger Jahren aus Griechenland geflohen war, ist Aris Fioretos in einer Familie groß geworden, in der die Sprachgrenzen zergingen und „nationale Identität“ als etwas wahrgenommen wurde, das nur für die anderen galt. Indes hat er sich angewöhnt, sich selbst als den Unterschied zwischen einem Schweden, einem Griechen und einem Österreicher zu definieren. Kurz nach dem Abitur ging er nach Athen, studierte dann in Paris und in den Staaten, wurde mit den Jahren zu einem „Auslandsschwede“. Zum „Nomaden“ aber nicht, darauf legt er wert. „Ich bin kein Nomade, höchstens eine unruhige Seele“, sagt er.

Als Emigrantenkind, schwarzhaarig im blonden Schweden, war ihm sein Anderssein früh bewußt. Deshalb setzte er vierjährig gegen seine Eltern durch, daß man auch zuhause Schwedisch sprach. „Sprache ist Verschleierung. Und als Kind von Ausländern versucht man, sich durch die Sprache so zu verschleiern, daß man möglichst nicht auffällt. Es gibt aber auch die Kehrseite: man will die Sprache so gut beherrschen, daß man sie besser spricht als die Einheimischen. Statt grau zu bleiben, fällt man auf. Es ist paradox: irgendwie versucht man sich als Pfau zu camouflieren.“ Eine Art Transvestimus – das Thema seines zweiten Romans „Die Wahrheit über Sascha Knisch“.

Aus jener Grauzone der Sprache jedoch, die das Kind zuvor kennengelernt hatte, in der die Bedeutung der Wörter unscharf ist, und die Unsicherheit ebenso groß wie die Lust am Durchspielen der semantischen Möglichkeiten, erwuchs seine Neugier für die Literatur. Hinzu kam, als er zwölf Jahre alt war, ein aufwühlendes Erlebnis.

In Örebro war es, einer Stadt Mittelschwedens, wo die Familie fünf Jahre verbrachte. Der Vater eines Spielkameraden, Leiter eines Filmclubs, nahm ihn und seinen Sohn ins Kino mit. Der Film, der lief, war eigentlich erst ab achzehn freigegeben: Johnny zieht in den Krieg, von Dalton Trumbo. Man sah in einem europäischen Militärkrankenhaus gegen Ende des ersten Weltkrieges einen amerikanischen Soldaten unter Laken liegen, oder das, was nach dem Tritt auf eine Mine von ihm übriggeblieben war: Rumpf und Kopf. Kein Mund, keine Nase, keine Augen und keine Ohren mehr, nichts, was ihm ermöglicht hätte, mit der Außenwelt in Kontakt zu treten. Nur ein Gehirn; dessen stummer Monolog war als voice over zu hören. Trotz des Wegfalls aller Anhaltspunkte, aller Werkzeuge der Wahrnehmung, versuchte das Denktier, sich in Zeit und Raum zu orientieren. Wieviel von einem Menschen verschwinden kann, ohne daß er aufhört , ein Mensch zu sein, ging dem Zwölfjährigen durch den Kopf. Und die plötzliche, schaurige Gewissheit: „Du bist allein mit deinem Gehirn, und du mußt daraus kommen, darauf kommt es an!“

So hat Literatur für ihn zuallererst den Zweck, Verbindungen zu erzeugen. Obgleich er sich der Wandlung bewußt ist, die den vom Schriftsteller eingegebenen Signalen auf dem Weg zum Leser widerfährt. „Als ich Trumbos Film sah, wußte ich bereits instinktiv, daß es eine Grenze dessen gab, was sich vermitteln läßt“, liest man in seinem Essay Mein schwarzer Schädel. „Aber erst jetzt wurde mir klar, daß diese Grenze aus einem zwei, drei Millimeter dicken Kranium bestand: meinem eigenen Schädelhelm.“

Dem Prosaisten bleibt also nichts anderes übrig, als durch die Grenze des Schädels hindurch ins Dunkle des eigenen Gehirns hinabzusteigen: ein „Kranionaut“, so nennt er ihn, der abenteuerliche Tiefseetauchgänge unternimmt, um Bewußtseinssplitter ans Licht zu zerren. Nicht, daß er wirklich wüßte, wie sich die Splitter auf dem Papier zusammenfügen. Ein Rest Mysterium bleibt. Ein unerklärliches Fragment. Eine Seelenspur.

Eine Seelenspur? Aris Fioretos winkt ab, wenn man ihn auf die Gehirnforschung anspricht. Als Laie nur habe er sich damit befaßt, „unsystematisch“. Doch zu einer Zeit, in der sogenannte Neuroreduktionisten all das, was wir gewöhnlich als Bewußtsein, Identität oder gar Seele bezeichnen, auf die meßbare Verbindung von Gehirnströmen zurückführen wollen, wirkt sein seelenspurensichernder Kranionaut wie einer der Matrosen von Kronstadt. Mit ihnen hatten Lenin und die Geschichte bekanntlich kein Erbarmen.

Aber was, wenn die Geschichte sich dereinst anders schreiben ließe? Was, wenn ein Nachfahre auf die Idee käme, der heutigen Gehirnforschung habe Fioretos‘ Professor Schaumberg Pate gestanden? In Stockholm noir forscht der schrullige „Seelenbiologe“ nach dem Sitz der Seele im Gehirn. In der Annahme, sie bestünde aus subatomaren Partikeln, die er Punktsubstanz bezeichnet, und diese Partikeln würden beim Denken und Sprechen dem Schädel entweichen, sucht er sie nach einem Telefonat seines Probanden in der Ohrmuschel eines Fernsprechers festzumachen.

Aber die Seele,
Diese
gewichtslose kleine Pilgerin,br/>Ist rastlos,
Oh, wie rastlos
Sie ist.

© Aureliana Sorrento und Berliner Zeitung 2004