Flucht und Verwandlung.
Nelly Sachs, Schriftstellerin, Berlin/Stockholm

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Bildbiographie · Übersetzung: Paul Berf · Berlin: Suhrkamp, 2010, 320 Seiten, 350 Bilder · Form: gewerkdesign, Berlin · Umschlagfoto: Sachs’ Küche 1970 · ISBN: 978-3-518-42159-8

Klappentext

Im Mai 1940 floh die neunundvierzigjährige Nelly Sachs mit einem der letzten Passagierflugzeuge aus Berlin. Hinter ihr lag mehr als die Hälfte eines Lebens, das nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten „unter Bedrohung“ geführt wurde. Vor ihr lagen dreißig Jahre Exil sowie der wesentliche Teil eines literarischen Werks, das ihr 1966 den Nobelpreis eintrug.

Zur großen Nelly-Sachs-Wanderausstellung, die im März 2010 im Jüdischen Museum Berlin eröffnet wird, erscheint die erste umfangreiche Bildbiographie über die Autorin. Anhand zahlreicher bisher unbekannter Fotos, Texte und Zeugnisse wird die Eigenart ihres Werks und der historische Kontext, in dem es entstanden ist, erstmals sichtbar. Wer war der unbekannte Geliebte der Berliner Jahre, der später als „der tote Bräutigam“ Eingang in Sachs’ Werk fand? Was geschah in der vier Quadratmeter großen „Kajüte“, in der die Dichterin den Urpunkt ihres poetischen Universums sah? Was passierte während des Stockholm-Besuchs ihres Freunds Paul Celan, als er sie im Herbst 1960 zu Beginn ihrer psychischen Krankheit unterstützen wollte?

Aris Fioretos’ Bildbiographie zeigt, aus welchen Voraussetzungen sich das Werk der Nelly Sachs entfalten konnte: im Andenken an eine bekannte, aber verlorengegangene und im Kontakt mit einer neuen, aber fremden Kultur – kurz, in Krise und Umbruch. Mit Hilfe des reichhaltigen Materials werden die Koordinaten eines „unsichtbaren Universums“ bestimmt. Dazu tragen nicht nur die vielen bisher unbekannten Fotos, Manuskripte, Ton- und Bildaufnahmen bei, sondern auch der Einblick in wichtige Freundschaften mit Autoren wie Paul Celan, Gunnar Ekelöf und Hans Magnus Enzensberger.

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Aris Fioretos ist schwedischer Autor und Hauptherausgeber der kommentierten Werkausgabe von Nelly Sachs. Für seine Übersetzungen – von u. a. Paul Auster, Friedrich Hölderlin und Vladimir Nabokov – und seine eigenen Werke hat er zahlreiche Auszeichnungen erhalten, u. a. vom DAAD Künstlerprogramm, von der Schwedischen Akademie und dem All Souls College, Oxford. Seine bisher letzte Veröffentlichung in deutscher Sprache ist der Essayband Das Maß eines Fußes (2008). Im Herbst 2010 erscheint der Roman Der letzte Grieche (Carl Hanser Verlag).

Vorwort

Wie nähert man sich einer Autorin, die von tragischen Ereignissen in ihrer Vergangenheit sprach, es jedoch vermied, sich bei konkreten Umständen aufzuhalten? Die in ihren ersten Grabschriften über ihre „toten Brüder und Schwestern“ Initialen vollständigen Namen vorzog? Die früh und später im Leben Gedichte und Briefe verbrannte, die ihr zu offenherzig, zu privat erschienen? Kurzum: einer Autorin, die hinter ihrem Werk zu verschwinden wünschte?

Für Nelly Sachs sollten die Texte für sich sprechen. Kenntnisse über die Person hinter dem Werk waren nicht nötig, manchmal sogar schädlich. Auch wenn sie das Schreiben als eine Hingabe verstand, die letztlich nichts anderes hinterließ als die Spuren einer Leidenschaft, zeigt ihre umfangreiche Korrespondenz – etwa 4000 erhaltene Briefe – gleichwohl, wie sie fürchtete, daß Informationen aus ihrem Privatleben öffentlich werden könnten. Es gibt gute Gründe, diese Furcht eines Schriftstellers zu respektieren, nur selten schlechte. Aber während Sachs Informationen über den Hintergrund zu ihren Werken vorenthielt, sprach sie gleichzeitig darüber, daß sie dies tat. Mit der einen Hand zeigte sie auf das, was sie mit der anderen zurücknahm. Diese doppelte Geste ist bedeutsam. Möglicherweise sagt sie etwas darüber aus, wie sie die Verknüpfung von Leben und Dichtung auffaßte.

In mehreren Briefen an den Germanisten Walter A. Berendsohn mahnte Sachs in bezug auf vertraulich gegebene Informationen zur Vorsicht. Um zu unterstreichen, wie wichtig ihr dieses Anliegen war, griff sie zu einer drastischen Formulierung: Falls der Freund wirklich beabsichtige, die geplante Studie über ihr Werk zu schreiben, müsse er verstehen, daß sie als Person »ausgeschaltet« werden wolle. Sachs dürfte kaum unbewußt gewesen sein, daß das Verb klang, als stamme es aus dem Vokabular der Nationalsozialisten – jener „Sprache des Dritten Reichs“, oder aus dem „Wörterbuch des Unmenschen“, für die Victor Klemperer, Dolf Sternberger und andere nach dem Krieg Belege sammelten. Warum benutzte sie ein so belastetes Wort? Ging es darum, mit größtem Nachdruck die Grenze dafür abzustecken, was Berendsohn in seinem Buch erwähnen durfte? Um die Forderung, sich dem Werk zu widmen und alles andere den „Reportern für die illustrierten Zeitungen“, wie es weiter hieß, zu überlassen? Handelte es sich vielleicht sogar um die ungeschminkte Formulierung eines allgemeineren Problems: Wie soll man das Schutzlose formulieren, ohne es erneut zu exponieren? Fürchtete sie, daß die Erwähnung biographischer Daten den Blick auf das Anliegen des Gedichts verstellen und daß dies paradoxerweise bedeuten würde, daß weiterer Schmerz zugefügt würde? „Die herzzerreißende Tragik unseres Schicksals soll und darf […] nicht verkleinert werden, durch die vielen in diesem Zusammenhang gänzlich unnötigen Unterrichtungen.“

Sicher spielten solche und andere Erwägungen eine Rolle. Gleichwohl. „Ausschalten“? Trotz der metaphorischen Nähe zu den Schornsteinen der Krematorienöfen und trotz der Verwandtschaft mit einem Verb wie „gleichschalten“, deutet »ausschalten«vielleicht auch etwas anderes an…

Während der ersten Jahre im schwedischen Exil wohnte Sachs mit ihrer Mutter in provisorischen Unterkünften. Im Oktober 1941 konnten sie in eine eigene Wohnung in einem Mietshaus am Bergsundsstrand im Süden Stockholms ziehen. Sie lag im Erdgeschoß, bestand aus einem Zimmer mit Küche, war dunkel und kalt. Späteren Notizen zufolge soll es in ihr zeitweise nach Kanalisation gerochen haben. Nach sieben Jahren ohne Sonne durften sie 1948 in eine 41 Quadratmeter große Einzimmerwohnung mit Küchenecke zwei Etagen höher im gleichen Gebäude umziehen. Hier sollte Sachs den Rest ihres Lebens verbringen. Bis zum Tod der Mutter im Februar 1950 war sie die meiste Zeit mit deren Pflege beschäftigt. Die geringen Einkünfte der beiden stammten aus den Übersetzungen schwedischer Literatur (größtenteils Lyrik) durch die Tochter. Nur nachts konnte sie eigene Texte schreiben – und zwar im Dunkeln, da die Mutter ansonsten aufgewacht wäre.

Dies ist die Urszene für Sachs’ Dichtung: allein mit dem Alphabet in der Nacht. Sie fühlte sich buchstäblich „hineingeworfen in ein ‚Außerhalbʻ“, wie sie der Literaturkritikerin Margit Abenius gestand. Zwar mochte sie sich in der von sozialen Regeln bestimmten Welt befinden, aber sie war kein Teil von ihr. Einverleibt vom Außerhalb, wurde sie in eine unheimliche Sphäre verwiesen, die mit den Toten und der Trauer um diese verbunden war. Viel später sollte Sachs sie in einem Brief an ihren französischen Übersetzer Lionel Richard „diese Nächtliche Dimension“ nennen. »Ausschalten«bedeutete auch dies: Wenn das Licht gelöscht würde, sähe man die Person hinter dem Werk nicht mehr. Nun blieb »nur eine Stimme, ein Seufzer für die, die lauschen wollen“. Die nächtliche Dimension wurde von dem einzigen illuminiert, was zählte: der Schrift. Der Rest waren die Konturen der Dunkelheit.

Dieses Buch untersucht das Zusammenspiel zwischen Leben und Werk, Innen- und Außenseite einer schriftstellerischen Tätigkeit, die in späteren Jahren wenig Beachtung gefunden hat. Dementsprechend interessiert es sich auch für das Selbstbild der Autorin. Sachs’ Entwicklung als Dichterin ist nicht nur bemerkenswert, weil sie die erinnerungswürdigen Werke schrieb, als sie über fünfzig war. Im folgenden Vierteljahrhundert wurden ihre Gedichte literarisch gesehen im Grunde immer überzeugender. Die Literaturgeschichte kennt, wenn überhaupt, nur wenige solche Fälle. Wie konnte es zu dieser Entwicklung kommen?

Es gehört zu dem Selbstbild, das Sachs aus der Erfahrung von Verlust und Abschied, Flucht und Verwandlung heraus erschuf, daß sie gerne betonte, die Gedichte seien zu ihr gekommen, sie seien von grauenvollen Umständen diktiert worden, die sie gezwungen hätten, das Wort zu ergreifen. „Die Worte kamen und brachen aus mir – bis zur Vernichtung“, heißt es beispielsweise 1965 in einem Interview mit dem Schweizer Fernsehen. Dieses Bild paßt zu der Auffassung von einer Dichterin mit orphischem Auftrag. Es ist außerdem leicht, Züge zu erkennen, die traditionell als weiblich betrachtet werden. Sachs ist weniger aktiv als passiv. Sie komponiert keine Gedichte, sondern wird von ihnen überwältigt. Sie ist eher Empfängerin als Absenderin.

Zwar zeigt die Hinterlassenschaft, daß die Texte selten umgeschrieben oder überarbeitet wurden. Viele wurden in Versionen gedruckt, die bis auf das eine oder andere Wort oder Kommazeichen mit den ursprünglichen identisch waren. Aber muß das bedeuten, daß Sachs ein absichtsloses Medium war – eine Handvoll Saiten, berührt vom göttlichen Wind? Auch wenn die Lebensbedingungen nach der Flucht alles andere als einfach waren, arbeitete sie bewußt im Dienst der Dichtung. Schon als junge Frau hatte sie Beiträge an Zeitungsredaktionen gesandt. Nach der Flucht suchte sie den Kontakt zu Vertretern der schwedischen Literatur und begann praktisch sofort, ins Deutsche zu übersetzen. Trotz der Isolierung schuf sie sich mit der Zeit ein weitgestrecktes „der Worte Adernetz“ mit Koordinaten nah und fern, unter Lebenden und Toten, Exilanten und Vertretern der jüngeren Generation. Und während der schweren Jahre in den Sechzigern, geprägt von den Nachwehen der Verfolgungen in den Nazijahren, wurde sie phasenweise ins Krankenhaus eingeliefert, wo sie in geschützter Umgebung ihre stärksten Texte, die „glühenden Rätsel“ und späten szenischen Dichtungen, schrieb.

Diese Studie ist solchen und anderen Widersprüchen gewidmet. Auch wenn Sachs sich als „Walstatt“ betrachtete, brachen die Worte doch aus ihr hervor – und sie taten es „bis zur Vernichtung“. Die Konvulsionen, die sie als Dichterin gebaren, löschten sie als Privatperson aus. Am Ende glühten die Worte von innen, wie Rätsel. Sie illuminierten ohne Erklärung. Und deuteten an, daß eine andere Lesart erforderlich war als jene, die voraussetzt, die Bedeutung des Gedichts bilde einen Schatz, der ausgegraben und exportiert werden kann. Die Unzugänglichkeit war ein Teil ihrer Erscheinungsform. Die Dunkelheit ebenso.

Bleibt zu hoffen, daß die folgenden Seiten genügend von letzterem enthalten, um Sachs’ Gedichte leuchten zu lassen, wie nur sie es können.

Seiten 7–9.

Rezensionen

„Nelly Sachs wollte hinter ihrem Werk verschwinden. ‚Ich will‘, schrieb sie an Walter A. Berendsohn, ‚dass man mich gänzlich ausschaltet – nur eine Stimme, ein Seufzer fur die, die lauschen wollen.‘ Dieser Wunsch gehört zu den Schriftstellervermächtnissen, denen man sich nicht fugen muss. Auch an die Person darf erinnert werden. Wenn es so einfühlsam und werkdienlich geschieht wie hier.“ – Martin Ebel, Tages-Anzeiger

„Mit der Ankunft im Exil und den Nachrichten vom Holocaust entstanden jene Gedichte über Schmerz, Trennung und Tod, die Nelly Sachs als ihr wahres Werk angesehen hat. Es wurde geschaffen in einer Wohnküche von zwei auf zwei Meter, welche die Dichterin ihre ‚Kajüte‘ genannt hat, weil sie von dort über die Wasser Stockholms blicken konnte. Diese Kajüte hat der beschlagene Kurator Aris Fioretos, der gerade bei Suhrkamp die Werke von nelly Sachs in einer kommentierten vierbändigen Ausgabe neu herausgebracht hat, von der Berliner Firma Gewerk Deisgn als eine runde Urzelle nachbauen lassen. Ein Tisch, ein Bett, ein Stuhl – viel mehr barg das Sprachlabor der Nobelpreisträgerin nicht.“ – Hans Riebsamen, Frankfurter Allgemeine Zeitung

„Aris Fioretos, schwedischer Schriftsteller und Literaturwissenschaftler griechisch-österreichischer Herkunft (gerade ist im Hanser Verlag sein Roman Der letzte Grieche erschienen), hat sich um das Werk der deutschen und jüdischen Dichterin verdient gemacht. Zusammen mit Matthias Weichelt und Ariane Huml hat er im Suhrkamp Verlag seine mit schwedischen Mitteln geförderte Edition bestellt, und er hat ihr kluger Weise eine großartige, für Berlin, Stockholm, Zürich und Dortmund konzipierte Wanderausstellung über Nelly Sachs an die Seite gestellt. Es ist ihm zusammen mit ‚gewerk design, Berlin‘ nicht nur eine auch gestalterische Maßstäbe setzende Literaturausstellung gelungen, sondern zugleich deren mit großem Genuss zu lesende und zu betrachtende Dokumentation Flucht und Verwandlung. Eine Bildbiographie (Aus dem Schwedischen von Paul Berf). Man kann dieses gelungene Zusammenspiel von Edition, Ausstellung und Dokumentation als einen außerordentlichen Glücksfall in der nicht immer ganz reibungslos verlaufenen Rezeptionsgeschichte der Nobelpreisträgerin ansehen.“ – Herbert Wiesner, Die Welt

„Hauptherausgeber aller vier Bände [der kommentierten Gesamtausgabe der Werke von Nelly Sachs] – Band III mit den szenischen Dichtungen und Band IV mit Prosa und Übertragungen sind in Vorbereitung – ist der aus Göteborg stammende Autor Aris Fioretos. Er ist auch Kurator der großen Wanderausstellung, die anlässlich des 40. Todestags der Dichterin gestern Abend im Jüdischen Museum Berlin eröffnet wurde. In einer begleitenden Bildbiographie schildert Fioretos Leben und Werk der Dichterin. Das Buch basiert auf umfassenden Archiv-Recherchen sowie Gesprächen mit Freunden. Zusammen mit einer Bibliographie stellt es eine vorzügliche Ergänzung zu den beiden Gedichtbänden dar.“ – Renate Wiggershaus, Frankfurter Rundschau

»Flucht und Verwandlung«, Wanderausstellung 2010–2011 · »Nelly Sachs«, CD · Kommentierte Ausgabe in vier Bänden, Suhrkamp Verlag